Samstag, 23. Mai 2020

Arbeiter der Stirn. Interview mit Pfarrer Thomas Koelliker, 1983

In einigen der ersten Ausgaben der Mitteilungen für die Gemeinde Weiach (MGW; heute: Mitteilungsblatt Gemeinde Weiach) finden sich Gespräche mit dörflichen Amtsträgern, die Regula Brandenberger führte und aufzeichnete (vollständige Liste siehe WeiachBlog Nr. 784).

Nach zwei Interviews mit dem damals amtierenden Gemeindepräsidenten Mauro Lenisa (WeiachBlog Nr. 1366) sowie seinem Amtsvorgänger Ernst Baumgartner-Brennwald (WeiachBlog Nr. 1479) folgte als dritter Beitrag ein Interview mit Thomas Koelliker, seit Mitte Oktober 1981 Weiacher Pfarrer.

In dieser Zeit war der Weiacher Pfarrer gleichzeitig auch Seelsorger der Reformierten in den Aargauer Gemeinden Kaiserstuhl und Fisibach, wie im Pastorationsvertrag aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs festgehalten (vgl. WeiachBlog Nr. 396 mit verlinkten Artikeln).

Koelliker (korrekte Schreibweise mit oe, nicht mit ö), geboren 1950, ist der 27. residente Pfarrer von Weiach. Mit dem Begriff «resident» werden die dreissig (von mehr als hundert) Pfarrern bezeichnet, die dauerhaft mitten unter ihren Gemeindegliedern wohnhaft waren. Gemäss der Pfarrerzählung WPZ (vgl. Quelle und Literatur unten) ist er Nummer 92, Amtsdauer 16.10.1981 bis 31.7.1995. Danach war er 20 Jahre bis zu seiner Pensionierung im Jahre 2015 Pfarrer in Zollikerberg (Kirchgemeinde Zollikon), wo er auch heute noch mit seiner Ehefrau lebt.

Nachstehend der Volltext des Interviews mit Kommentaren von WeiachBlog in eckigen Klammern. Zwischentitel stammen ebenfalls vom Kommentator:

UNTER UNS... 
Diesmal ein Gespräch mit einer andern Amtsperson: 
Pfarrer Thomas Kölliker 
[falsche Schreibweise; korrekt mit oe]

R.B. - Herr Pfarrer, Sie sind nun bereits knapp zwei Jahre bei uns  ist es Ihnen immer noch wohl hier?

T.K. - Ja, es gefällt mir immer noch!

Was tut eigentlich ein Pfarrer  ausser Predigten halten?

R.B. - Das Amts- und Pflichtenheft eines Allein-Pfarrers in einer Landgemeinde unterscheidet sich bestimmt vom Aufgabenkreis eines Stadtpfarrers (oder Pfarrers einer grösseren Gemeinde), der noch Amtskollegen hat. - Trotzdem, einmal ganz allgemein: Was tut eigentlich ein Pfarrer?

T.K. - In der Kirchenordnung des Kantons Zürich heisst es im Kapitel "Pfarramt" unter Abs. 2:

Er ist verantwortlich für Gottesdienst, Taufe, Abendmahl und kirchlichen Unterricht, vollzieht kirchliche Trauungen und Abdankungen und ist Seelsorger der Gemeinde.

Das sieht praktisch etwa so aus:

1.) Zuerst alle auf Grund der Kirchenverordnung "nachweisbaren", regelmässigen Amtspflichten:
- Gottesdienste + Amtshandlungen (Taufen, Trauungen und Abdankungen)
- Kirchlicher Unterricht = 10 Stunden (Schulen Fisibach, Kaiserstuhl, Stadel; und Konfirmandenunterricht)

[Der Religionsunterricht an der 3. Klasse der Primarschule Weiach wurde erst in späteren Jahren von Pfr. Koelliker abgehalten]

Dazu gehört die Zeit für die entsprechenden Vorbereitungen:
- für Predigten (Abdankungen u.s.w.) ca. 6-8 Stunden - bei Ueberarbeitungen etwas weniger):
- pro Unterrichtsstunde ca. 1 Stunde

2.) Alle andern, in diesem Sinn nicht "kontrollierbaren" Aufgaben:
- Spitalbesuche (Dielsdorf, Bülach, Baden, etwa auch Zürich)
- Kasualbesuche (Taufen, Hochzeiten + Abdankungen)
- seelsorgerische Hausbesuche
- Durchführung von Kursen und Tagungen, Altersnachmittagen, Konfirmandenreisen und -lagern.

3.) Diverse Sitzungsverpflichtungen, wie sie andere Amtspersonen auch haben.

4.) Erledigung aller Schreibarbeiten (reine Büroarbeit); in grösseren Gemeinden (bei mehreren Pfarrstellen) ist dies die Arbeit der Gemeindehelferin oder des Kirchgemeindesekretariates.

Welchen Schulrucksack muss ein Pfarrer mitbringen?

R.B. - Tatsächlich ein sehr reichhaltiges Pflichtenheft! - Welche Ausbildung braucht es denn, bis ein Pfarrer eine Gemeinde übernehmen kann? Konkret: Wo, und wie lange sind Sie zur Schule gegangen?

T.K. - Nach der Primarschule 7 Jahre Mittelschule; anschliessend 6 Jahre Universität in Zürich und Tübingen. Verlangt wurde im Studium an der

1.) Vorprüfung (Propädeutikum):
- Latein, Griechisch + Hebräisch
- allgem. Geschichte + Kirchengeschichte
- Geschichte der Philosophie
- Religionsgeschichte
- Vorlesungen über altes und neues Testament

2.) für den Studienabschluss (Staatsexamen):
- Ethik und Dogmatik
- Theologie des alten und neuen Test.[aments]
- Religionspädagogik und katechetische Uebungen
- Psychologie
- Predigtlehre
- Rhetorik

3.) Praxis; d.h. 1 jährige Lehrzeit (Vikariat) bei einem amtierenden Pfarrer, in meinem Fall bei Pfarrer Hess im St. Peter in Zürich.

4.) Praktische Prüfung und Ordination

Das Pfarrerbild der Öffentlichkeit und wie der Pfarrer dazu passt

R.B. - Kehren wir zurück, zum Pfarrer in der Gemeinde! Der Pfarrer: würdiger Herr im Dorfe, der (nebst der Sonntagspredigt und einigen Unterrichtsstunden) im Studierzimmer sitzt und schöne Bücher liest, erbaulich,  dazwischen in dunkler Gewandung durchs Dorf spaziert und allseitig freundlich grüsst  ich glaube kaum, dass dieses Bild eines Pfarrers noch sehr verbreitet ist. - Freilich wird er auch heute noch freundlich grüssen   

[Dieses Bild vom Pfarrer war in früheren Zeiten tatsächlich die Regel. Vgl. dazu einige Ausschnitte aus der Autobiographie von Louise Griesser Patteson aus der Mitte des 19. Jahrhunderts: WeiachBlog Nr. 1512]

T.K. - Sicher! Aber es gibt offensichtlich vom Pfarrer selber  von seiner Person, seiner Art her  ganz verschiedene Berufsauffassungen, ganz abgesehen von den nochmals sehr verschiedenen Vorstellungen und Auffassungen seines Berufes innerhalb seiner jeweiligen Gemeinde.  Ein Glücksfall ist es, wenn der Pfarrer seine Person möglichst vollumfänglich in seine Aufgabe integrieren kann, und seine Auffassung zudem möglichst nahe am mehrheitlichen Pfarrerbild seiner Gemeinde liegt.

[Das galt und gilt auch und gerade dann, wenn die Gemeinde ihren Pfarrer selbst wählt (in Weiach erstmals 1837) und zu grossen Teilen selber finanziert (in Weiach seit 1591 der Fall). Wenn der Pfarrer nicht zur Gemeinde passt, dann gibt es unweigerlich Probleme, ob vor 400 Jahren oder heute.]

R.B. - In einer Zürcher Gemeinde ist am Pfarrhaus eine Messingtafel angebracht mit der Aufschrift: Sprechstunden von 10-12 Uhr, oder auf telefonische Vereinbarung. Was sagen Sie dazu?

T.K. - Wir haben grundsätzlich ein offenes Haus; wenn wir daheim sind, stehen wir gerne zur Verfügung!

[Ein solches – im Extremfall 24/7 offenes Haus – ist heute eine Seltenheit geworden. Diese Haltung gegenüber ihrer Gemeinde hat der Pfarrfamilie Koelliker in Weiach zweifellos etliche Positivpunkte beschert.]

R.B. - Ihr Beruf ist weitgehend eine Arbeit ohne Echo, ohne "sichtbares" Ergebnis. Ist es nicht oft frustrierend, beispielsweise 8 Stunden an einer Predigt zu arbeiten, dann eine Stunde Konzentration während des Gottesdienstes, und dann ist alles verhallt, vorbei  niemand sagt ein Wort! Oder gibt es anderes, das Sie mehr belastet?

Kreativität nach Fahrplan. Die Angst vor dem leeren Blatt Papier

T.K. - Sicher ist das zum Teil frustrierend. Viel grösser ist jedoch der Druck, immer und immer wieder vor einem leeren Blatt zu sitzen mit dem Wissen, dass dieses Blatt bis zu einer bestimmten Stunde gefüllt sein muss, damit ich dann wieder in der Oeffentlichkeit sprechen kann. Es gibt einen dazupassenden Vers von Eugen Roth [1895-1976, deutscher Lyriker]:

«Ein Mensch sitzt kummervoll und stier
vor einem weissen Blatt Papier.
Jedoch vergeblich ist das Sitzen;
auch wiederholtes Bleistiftspitzen
[Schärft statt des Geistes nur den Stift.]
und der Zigarre bittres Gift,
Kaffee gar, Kannenvoll geschlürft,
den Geist nicht aus den Tiefen schürft,
worinnen er, gemein verlockt [korrekt: verbockt],
höchst unzugänglich einsam hockt. -
[Dem Menschen kann es nicht gelingen,
Ihn auf das leere Blatt zu bringen.]
Der Mensch erkennt, dass es nichts nützt,
wenn man den Geist an sich besitzt,
weil Geist uns ja erst Freude macht,
sobald er zu Papier gebracht.» -

[Das Gedicht trägt den Titel «Arbeiter der Stirn». Vollständiger Text nach lyricstranslate.com. Die Passagen in eckigen Klammern fehlen im Interview mit Pfr. Koelliker.]

Die Rolle der Pfarrfrau wandelt sich

Ich habe aber das grosse Glück, dass meine Frau mich in meinem Beruf sehr unterstützt, nicht unter ihrer Rolle als Pfarrfrau leidet und tatkräftig und fröhlich überall mitarbeitet, wo es nötig ist. Dass dies heute keineswegs mehr eine Selbstverständlichkeit ist, zeigt u.a. der betreffende Artikel im "Kirchenboten", Nr. 8.

[Wie man der Autobiographie von Louise Griesser Patteson entnehmen kann (vgl. u.a. WeiachBlog Nr. 1497), war das Rollenbild der Pfarrfrau früher wesentlich fester gefügt. Die damalige Gesellschaft erwartete von ihr aber auch nicht, eine eigene ausserhäusliche Karriere verfolgen zu sollen, so wie das die heutige tut. Ihre Karriere war die soziale Führungsrolle in der Gemeinde, ähnlich der einer First Lady.]

R.B. - Wir sprachen vorher von den belastenden Seiten in ihrem Beruf. Gibt es noch andere?

T.K. - Ja; sagen wir dem einmal die "seelischen Wechselbäder": Es ist durchaus denkbar, dass ein Tag mit einem Abdankungsgespräch in einem Trauerhaus beginnt, dann folgt eine Schulstunde mit halbwüchsigen, problemgeladenen Schülern, nach dem Mittagessen ein Spitalbesuch oder ein Seelsorgebesuch, dann ein Trau-Gespräch im Pfarrhaus und abends noch eine Sitzung. Dazwischen läutet es noch 3x an der Haustüre und 8x am Telefon. Den ganzen Tag zuhören, umstellen, da-Sein, entgegennehmen, oder leiten und unterrichten  und dann ist meine Frau auch noch da ....!

«Work-Life-Balance»

R.B. - Damit kommen wir zur Freizeit, zu allfälligen Steckenpferden in der freien Zeit ...

T.K. - Offizieller "Freitag" ist der Montag. Richtig freie Montage sind aber an einer Hand abzuzählen, da alle Pfarrkapitel und derartige Veranstaltungen (Seminarien, Weiterbildung) an Montagen stattfinden. Und die Schulstunden und der Konfirmandenunterricht müssen auch vorbereitet sein! Gerade weil ich in meinem Amt nie "fertig" bin mit der Arbeit, ist es nötig, sich ab und zu freie Zeit zu nehmen, um Distanz zu bekommen zum Amt und zum Studierzimmer. Meine freie Zeit widme ich gerne Büchern (über Geschichte), oder dem Fotografieren.

R.B. - Wie steht es mit den freien Sonntagen?

T.K. - Im Jahr sind es 4 freie Sonntage und insgesamt 4 Wochen Ferien.

Zürcher Disputation 84

R.B. - Haben Sie ein bestimmtes Projekt, das sie in der Gemeinde in absehbarer Zeit verwirklichen möchten?

T.K. - Wie im "Kirchenboten" zu lesen war, hat der Kirchenrat die Absicht, anlässlich der Jubiläumsfeier der Reformation erneut eine Disputation durchzuführen wie seinerzeit Ulrich Zwingli: Diese aktive Auseinandersetzung  Teil der Schweiz[erischen] evangelischen Synode (SES) ergibt hoffentlich auch in unserer Gemeinde den Rahmen, um in Gruppen über unsere vielfältigen Probleme nachzudenken. In dieser Disputation mitzudenken und mitzuarbeiten sind alle, die Alten wie aber auch die Jungen herzlich eingeladen.

Weiach, 24. August 1983
R. Brandenberger

Das Ziel der beiden Zürcher Disputationen vom Januar und Oktober 1523 war es, die Differenzen, die durch Ulrich Zwinglis Predigten ab 1519 unter den Gläubigen entstanden waren, in offener Aussprache auszudiskutieren. Danach folgte dann der formelle, 1525 gefällte Entscheid, die Reformation einzuführen und die Messe abzuschaffen.

Koelliker nimmt hier Bezug auf die Zürcher Disputation 84 (vgl. StAZH Z 5.5653), in der – diesmal von jedermann – öffentlich über religiöse Fragen diskutiert (oder eben disputiert) werden konnte.

Der genannte Jubiläumsanlass war nicht die Zürcher Reformation an sich, die sich ab 1519 zu entfalten begann, sondern das Geburtsjahr Ulrich Zwinglis, 1484. Die Schweizerische Evangelische Synode bestand von 1983 bis 1987.

Quelle und Literatur
  • Brandenberger, R.: Unter uns... Pfarrer Thomas Koelliker. In: Mitteilungen für die Gemeinde Weiach, September 1983 – S. 16-19.
  • Brandenberger, U.: Weiacher Pfarrerzählung (WPZ). Kombinierte Liste nach allen Quellen. (Ab 1520, d.h. inklusive Kaplane nach katholischem Ritus vor der Reformation). Unveröffentlicht, erstellt Oktober 2018.

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