Samstag, 4. Juli 2020

«Wir geraten somit aus der Kohlennot in die Notelektrifikation...»

Am 1. Juli 1945 wurde die Bahnstrecke Eglisau–Koblenz offiziell dem elektrischen Betrieb übergeben. Mit feierlichen Empfängen an den Bahnhöfen entlang der Strecke (vgl. WeiachBlog Nr. 1537).

Nun war das allerdings nicht ganz so, dass der Schalter umgelegt wurde und ab sofort nur noch elektrische Lokomotiven auf dieser Strecke unterwegs gewesen wären. Da gab es wohl doch noch die eine oder andere Dampflokomotive, denn Elektroloks waren Mangelware. Ausserdem wurde die Strecke im Schnellverfahren umgebaut, ein Vorgehen, das man schon am Ende des 1. Weltkriegs kannte und als «Notelektrifikation» bezeichnet hatte.

Doppelspur und Elektrifikation. Zürich und die Ostschweiz als Stiefkinder

Die Hintergründe dazu sind interessanterweise in einer ausländischen Zeitung erklärt, dem in Vaduz seit 1936 erscheinenden «Liechtensteiner Vaterland». Die Ausgabe vom 4. Juli 1945 enthält einen Beitrag, der wohl von einem Mitarbeiter des SBB-Kreises III (mit Sitz in Zürich) verfasst worden ist (oder einem Journalisten mit direktem Zugang zur SBB) und den Titel «Ostschweizerische Verkehrsfragen» erhielt. Nachstehend sei der Artikel auszugsweise wiedergegeben:

«Der dritte Bundesbahnkreis, umfassend die Ostschweiz, ist ein Stiefkind, denn in bezug auf die Streckenlänge der Doppelspuren weist er prozentual das Minimum auf und wenn wir die Elektrifikation ins Auge fassen, so wies dieser Kreis zudem 1939 noch am meisten Dampfbetriebstrecken auf. Dabei ist der Verkehr dicht, die großen Orte folgen sich rasch aufeinander und die Bevölkerungsdichtigkeit ist ebenfalls groß.»

Man hört den Ärger über die Zurücksetzung seitens der Bundesverwaltung in Bern förmlich. In weiteren Verlauf echauffiert sich der Autor darüber, dass Doppelspurstrecken trotz der starken Beanspruchung des Bahnnetzes (auch aufgrund der wirtschaftlichen Stärke der Region) an entscheidenden Stellen nach wie vor fehlen würden und kommt dann auf das zweite Thema der Kriegszeit zu sprechen, die drohende Einstellung jeglichen Bahnbetriebs auf den Dampfstrecken:

«In bezug auf die Elektrifikation ist zu sagen, daß die Bundesbahnen nach dem Abschluß des großen Programms [in den 1920er-Jahren] noch einige ausgewählte Bahnstrecken absichtlich im Dampfbetrieb belassen wollten. Man muß dabei an die Tatsache erinnern, daß vor dem Ausbruch des zweiten Weltkrieges die Kohlen billig waren und daß deshalb die Ausdehnung der forcierten Elektrifikation sich nicht absolut aufdrängte. Eine Pause war aus mehreren verwaltungsinternen Gründen zu verantworten. So blieben die Randlinien der Schweiz im Dampfbetrieb, nämlich Stein–Säckingen, Bülach–Winterthur, Winterthur–Andelfingen–Schaffhausen–Konstanz–Romanshorn, sodann Winterthur–Etzwilen–Singen, Winterthur–Wald–Rüti, Effretikon–Wetzikon–Hinwil, Oberglatt–Niederweningen und Wil–Wattwil. Mit dieser Gruppierung waren die Dampflokomotiven in Winterthur zentralisiert und von dort aus gestaltete sich deren Versorgung rationell. Eine ähnliche Gruppierung des Dampfbetriebs ergab sich auch in der Westschweiz mit Payerne als Mittelpunkt.»

Diese Liste ist nicht ganz vollständig. Es fehlt u.a. die eingangs erwähnte Linie Eglisau–Koblenz auf der alten Nordostbahnstrecke Winterthur–Koblenz, von der der Abschnitt Bülach–Eglisau bereits im oben genannten Programm (1928) elektrifiziert worden ist.

Wenn die Kohle fehlt. Muss man den Bahnbetrieb ganz einstellen?

«Als der zweite Weltkrieg ausbrach und nach und nach die Kohlen teurer und vor allem rarer wurden, empfanden die von Dampflinien durchzogenen Gebiete immer schmerzlicher den technischen Rückstand ihrer Schienenstränge, denn so lange die Fahrpläne noch als gut zu bezeichnen waren, war der Dampfbetrieb erträglich. Erst als zwangsweise die Fahrpläne reduziert werden mußten, verlangten die Anwohner mehr oder weniger temperamentvoll die schleunige Elektrifikation ihrer Schienenstränge.»

Im Mai 1945 forderten beispielsweise rund 2000 Personen aus dem Tösstal an einer Volksversammlung die «rasche Elektrifikation der Tößtalbahn». (Die Tat, 12. Mai 1945; dieser und weitere Beiträge zum Thema Elektrifikation aus dem Jahre 1945 in e-newspaperarchives.ch).

«Unter dem Titel der Kriegselektrifikation wurden Winterthur–Andelfingen–Schaffhausen, Wil–Wattwil, Effretikon–Hinwil, Wald–Rüti, Turgi–Koblenz und Stein-Säckingen–Koblenz in den elektrischen Betrieb überführt. Derzeit steht die Teilstrecke Koblenz–Eglisau im Umbau auf elektrischen Betrieb. In nahe Aussicht genommen ist auch die Elektrifikation auf der Strecke Schaffhausen–Konstanz–Romanshorn, sowie als Abschluß die Strecke Bülach–Winterthur. Im Falle einer Fahrplanreduktion ist namentlich die große Ortschaft Kreuzlingen in einer wenig beneidenswerten Lage, weil sie überhaupt von allen drei Seiten her nur mit Dampfzügen erreicht werden kann, wobei allerdings der Personenverkehr der privaten Mittelthurgau-Bahn durch Dieseltriebwagen bedient wird. Doch fließt das Schweröl auch nur in sehr dünnen und rationierten Bächlein.»

Man erkennt schon an diesem Textabsatz, dass die Schweizer Importprobleme durch den Zusammenbruch der Kriegswirtschaft in Europa massiv zugenommen haben müssen.

«Unterdessen sind wir in eine wahre Kohlennot hineingerutscht. Wohl hat der neue Fahrplanentwurf auch die Dampflinien nicht allzu stiefmütterlich bedacht, die Tößtalbahn ausgenommen, doch basiert der Fahrplanentwurf auf der Annahme, er werde den ersten Friedensfahrplan darstellen. Inzwischen ist aber der Krieg leider noch nicht fertig und als besondere Erschwernis kommt hinzu die völlige Unterbindung der Einfuhr von Kohle aus Deutschland. So leben wir denn tatsächlich von den Reserven und es war keineswegs verfrüht, wenn Lokomotiven seit geraumer Zeit im Stillstand mit Holz, auf der Fahrt zum Teil mit jugoslawischem Lignit geheizt werden. Uebrigens haben auch die Lignitzufuhren aufgehört. Es ist durchaus möglich, daß von einem Tag zum andern der Fahrplan auf den Dampflinien grundsätzlich auf 4 tägliche Züge reduziert werden muß.» 

In diesem und dem vorangehenden Textabsatz wird ersichtlich, dass der Anfang Juli im Vaterland erschienene Bericht bereits etliche Wochen zuvor verfasst worden sein muss, weil zu diesem Zeitpunkt a) der Umbau der Strecke Koblenz–Eglisau im Gange und b) der Krieg noch nicht vorbei war, man aber sein Ende aufgrund des unaufhaltsamen Vorrückens der Alliierten sozusagen jederzeit erwartet hat (vgl für die Entwicklung der letzten Kriegstage: WeiachBlog Nr. 1504).

Amerikanisches Tempo

Die drohende Betriebseinstellung, verbunden mit dem Druck aus Volk und Wirtschaft, hat die SBB-Verantwortlichen zur Wahl von unkonventionelleren Methoden der Elektrifikation bewogen. Einem Notverfahren mit behelfsmässigen Installationen:

«Glücklicherweise hat man im Bau der elektrischen Fahrleitungen sozusagen ein amerikanisches Tempo ersonnen, sodaß man zur Technik einer gewissen Notelektrifikation greift, welche als erstes und höchstes Ziel die raschmögliche Errichtung des elektrischen Fahrdrahtes überhaupt vorsieht und erst nachher die zusätzlichen Arbeiten vornimmt. Auf diese Weise konnte die Einführung des elektrischen Betriebs zwischen Stein und Koblenz enorm gefördert werden. So wird es auch bei den künftigen Elektrifizierungen gehen müssen. Wir geraten somit aus der Kohlennot in die Notelektrifikation und werden dabei mit hergebrachten Meinungen aufräumen müssen. Als rein äußeres Zeichen der Notelektrifikation erblicken wir die hölzernen Masten und die Ersatzfahrdrähte.»

Charakteristikum: Holzmasten

Für die Weiacherinnen und Weiacher dürfte sich demzufolge in den ersten Jahren nach der Elektrifikation ebenfalls dieses Bild von Holzmasten entlang ihrer Bahnlinie geboten haben, die selbstverständlich den Wettereinflüssen nicht allzu lange standhielten.

«Inzwischen aber hat mit der wachsenden Zahl der notelektrifizierten Strecken die Zahl der verfügbaren Lokomotiven nicht Schritt gehalten und so ist es erfreulich, daß die Bundesverwaltung soeben zehn neue elektrische Lokomotiven bestellt hat. Es betrifft kleinere Typen, die überall eingesetzt werden können. Ein sichtbarer Beweis des Mangels an elektrischen Lokomotiven ist die Indienstnahme der roten Pfeile, die nachträglich mit Kuppelungen versehen worden sind und nun normale Wagen mitschleppen können. Damit ist der Kardinalfehler der roten Pfeile behoben, die damals als Alleinfahrer gebaut wurden und sich deshalb mit Recht der Kritik des Personals aussetzten. Der zweite Weltkrieg hat hier korrigierend eingegriffen.»

Dass es uns im Unterland verglichen mit den Dörfern im schaffhausischen Klettgau punkto Bahnverkehr noch vergleichsweise gut ging, zeigt der letzte Abschnitt des Artikels im «Vaterland»:

«In einer überaus heiklen Lage befinden sich die Stationen der Deutschen Reichsbahn im Kanton Schaffhausen, deren Fahrplan nicht mehr eingehalten werden kann. Unter Umständen wird hier die schweizerische Bundesbahn einspringen müssen und sie kann es, wenn man Vorurteile über Bord wirft und den reinen eidgenössischen Brudersinn walten läßt.»

Lehre daraus? Abhängigkeiten reduzieren!

Man sieht, dass es damals so lief wie heute. Man hat sparen wollen (billige Kohlen!) und war dann gezwungen zu einem Zeitpunkt zu investieren, der auch optimaler hätte sein können.

Der einflussreiche ehemalige Chef des Schweizerischen Bauernverbands, Prof. Dr. E. Laur, erklärte die mit hohen Kosten forcierte Elektrifizierung des Bahnbetriebs im Walliser Volksfreund vom 9. Januar 1945 zur Frage von Sein oder Nichtsein:

«Die Elektrifikation der Bundesbahnen hat in der Kriegszeit unsere Volkswirtschaft gerettet. Daß in den ersten Jahren viele Lastautos ihren Betrieb einstellen mußten, war gewiß unangenehm. Die Stillegung der Bahnen wegen Kohlenmangels wäre aber eine Katastrophe gewesen. Das Benzin und die Gummireifen und mit ihnen die Autos haben versagt, die elektrisch betriebenen Bundesbahnen aber haben sich auch in der Kriegszeit bewährt. Was wäre aus unserer Landwirtschaft, aus dem Bauernstande[,] aber auch aus den Konsumenten geworden, wenn die Bundesbahnen nicht trotz der hohen Kosten rechtzeitig auf elektrischen Betrieb umgestellt hätten?»

Ob man ihm nun recht geben will oder nicht; wenn eines klar ist, dann das: Wir befinden uns heute wieder einmal in einer ganz ähnlichen Lage. Über Jahrzehnte hinweg sind alle Versorgungsprozesse weltweit auf Kante genäht worden. Just-in-time, reduzierte Lagerbestände, etc. Die damit verbundene Verletzlichkeit unserer heutigen Volkswirtschaft ist offensichtlich. Und auch die Parallele zur Illusion der billigen Kohlen, die ja jederzeit importiert werden konnten (in den 1930ern), ist offensichtlich.

Der Verfasser dieses Blogbeitrags erinnert sich noch gut daran, wie er anlässlich der Klärung von Position und Vorgehen des Bundes gegenüber der Ernährungssicherheitsinitiative als Mitarbeiter des Bundesamts für Bevölkerungsschutz von einigen Vertretern anderer Ämter mitleidig belächelt wurde. Die hatten sich zuvor auf den Standpunkt gestellt, die Ernährungssicherheit sei immer gegeben, da man ja problemlos aus aller Welt importieren könne. Meine simple Frage, was denn bei einer Grenzschliessung oder einer grossen weltumspannenden Krise geschehe, lag für sie komplett quer in der Landschaft. So etwas gebe es heutzutage nicht mehr.

Mittlerweile hat sich am Beispiel von Masken und medizinischen Gerätschaften im Rahmen der Corona-Krise überdeutlich gezeigt, wie schnell es zu potentiell gravierenden Engpässen bei essentiellen Gütern nur schon dadurch kommen kann, dass die lieben Nachbarn sie nicht freigeben wollen.

Die Preisfrage ist nun, was in der aktuellen und den Krisen der nächsten Jahre das Äquivalent zur Elektrifikation sein wird. Die Notdigitalisierung?

Quellen
  • Laur, E.: Bundesbahnen und elektrischer Betrieb. Leserbrief. In: Walliser Volksfreund, 9. Januar 1945 – S. 1. [Online verfügbar auf: e-newspaperarchives.ch]
  • N.N.: Ostschweizerische Verkehrsfragen. In: Liechtensteiner Vaterland, 4. Juli 1945 – S. 4. [Online verfügbar auf: eliechtensteinensia]

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