Freitag, 9. Oktober 2020

Vom Leben mit dem zweiten Pest-Mandat, d.d. 9. September 1720

Die Corona-Krise drängt sich wieder auf die Hauptbühne (oder wird dorthin geschoben). Ob die Zahlen nun herbeigetestet oder tatsächlich als so gravierend beurteilt werden müssen, wie das obrigkeitlicherseits vorsichtshalber angenommen wird, sei dahingestellt. Im Hintergrund läuft jedenfalls die tatsächliche Tragödie mit mathematischer Unerbittlichkeit ab: Ein Finanzsystem kurz vor dem Kollaps.

Vor genau 300 Jahren war die Lage ganz ähnlich. Das Jahr 1720 war geprägt vom spektakulären Platzen von (für die damalige Zeit gigantischen) Börsenblasen und dem danach folgenden Zusammenbruch ganzer Volkswirtschaften.

Die Finanzjongleure und ihre Blasen im Hinterzimmer...

In Frankreich versprachen der Finanzmagier und königliche Minister John Law und seine Kumpanen sagenhafte Renditen aus Investments in einer überseeischen Kolonie. Der Traum vom grossen Geld (die sog. Mississippi-Blase) zerplatzte bereits im Frühling 1720. Das zur Abwendung des Staatsbankrotts (ebenfalls von Law) eingeführte Papiergeld-System führte schliesslich doch zum Zusammenbruch der Staatsfinanzen und der überstürzten Flucht John Laws im Dezember 1720.

Die Finanzspekulanten hatten ihr Geld derweil in den englischen Markt verlagert, denn dort versprach ein anderes Übersee-Abenteuer noch im Sommer 1720 märchenhafte Gewinne. Es kam auch da, wie es kommen musste: die später Südseeblase (South Sea Bubble) genannte Hausse brach zusammen und ab dem August 1720 verflüchtigten sich gewaltige Vermögenswerte. Beide Finanzblasen dürften auch dem einen oder anderen Schweizer Investor Probleme bereitet haben.

... gesundheitspolizeiliche Massnahmen flächendeckend implementiert

Für das gemeine Volk war allerdings auf der Hauptbühne etwas anderes los. Eingehende Nachrichten von einem gravierenden Pest-Ausbruch in Marseille (den es tatsächlich gegeben hat) schreckten im August 1720 auch die Zürcher Regierung auf. Sie sah sich veranlasst, bereits bestehende Dekrete (damals «Mandate» genannt) zu erneuern und erliess eine Einfuhr- bzw. Einreisesperre für Waren und Personen aus dem südfranzösischen Raum. [Den Volltext dieses Mandats und einen Vergleich zur ersten COVID-19-Verordnung des Bundes vom Frühjahr 2020 gibt es als WeiachBlog Nr. 1510.]

Heute vor 300 Jahren lebten die Zürcher Untertanen bereits einen Monat mit der zweiten Pest-Verordnung, die ihre Regierung am 9. September 1720 erlassen hatte. Die unterschied sich nicht allzu wesentlich von derjenigen vom August. Lockerungen gab es keine. Im Gegenteil. Da waren einige Verschärfungen eingebaut worden. Und statt dem heute beschworenen «Testen, testen, testen» samt Maskenpflicht lautete das Motto «Beten, beten, beten».

Die zweite Pest-Verordnung hat im Vergleich zur ersten immerhin den Vorteil, dass sie in Artikel unterteilt und damit übersichtlicher ist. Lesen Sie hier im Original (mit Artikel-Überschriften von WeiachBlog), was damals von den Kanzeln im Zürcher Herrschaftsbereich verlesen worden ist:

«Wir Burgermeister / Klein und Grosse Rähte / so man nennet die Zweyhundert der S[t]att Zürich: Entbiethen allen und jeden Unseren Angehörigen zu Statt und Land Unseren gönstigen gnädigen Willen / und darbey zuvernemmen; Demnach Wir von verschiedenen Orthen die traurige Berichte erhalten / daß die zu Marseille eingerissene ansteckende Seche leider ! je mehr und mehr um sich greiffe / Wir deßwegen / damit vermittelst Göttlicher Beyhilff dieses schwere Übel fehrners von Unserem geliebten Vatterland abgehalten werden möge / auß Landes-Vätterlicher Sorgfalt bewogen worden / nicht allein die vormahls schon hierum verfügte Veranstaltungen zuverschärffen / sonder auch dieselben mit fehrneren Vorsorgungen in Unserer Statt und Land zuvermehren; Und ist harauf Unser ernstliche Befehl / Will und Meinung:»

Art. 1: Beten, beten, beten!

«I. Daß vorderst ein jeder mit bußfertigem Herzen und eiferigem Gebete den gnädigen und barmherzigen Gott erflehe / daß Er diese schwere Heimsuchung und Land- und Leuth-außmachende Straffe von Unserem lieben Vatterland nach seiner unermeßlichen Güte abwenden und Uns fehrner in gesunden und gesegneten Zeiten gnädig erhalten wolle!»

Hier war also implizit der Hinweis eingebaut, dass diese Seuche ja wohl nur als Strafe Gottes für eigene Verfehlungen interpretiert werden könne. Nudging im Stil von 1720. Und das war (abgesehen von mehr polizeilichen Kontrollen) auch die einzige wirkliche Neuerung im Vergleich zum Mandat vom August.

Art. 2: Handel mit Südfrankreich verboten, sonst Einfuhr nur nach Quarantäne

«II. Demnach aller Handel und Wandel mit der Statt Marseille und denen umligenden Provinzien Provence, Languedoc und Dauphiné gänzlich und überall verbotten seyn / so daz könffrighin und so lang / bis Wir hierum ein andere Verordnung thun werden / alle Persohnen / Vieh und Wahren / welche von daher kommen / ob sie gleich mit Pässen versehen / in Unsere Statt / Gerichte und Gebiethe nicht hinein- weniger durchgelassen / dergestalten / daß wann auch Persohnen oder Güter heimlich oder offentlich wolten auf gefahrliche und verbottene Weis hindurch geschleickt werden / gegen dieselbe ohne verschohnen mit schwerer und hoher Straff verfahren werden solle; Und ob wir zwahren alle von besagten Orthen herkommende Wahren in Unsere Land einzuführen verbieten / so wollen Wir dennoch alle Baumwollen / Wollen / Federn / Beth-Gezeug / Gewand / alles Läder / Tücher / Etoffes, Pelz und Leinen-Zeug / deßgleichen Zwirn / Faden / und all-andere Gifft an sich ziehende Sachen außtruckenlich darunter verstanden haben / massen solche Wahren auf betretten und genugsame Erfahrung / daß selbige von solchen Orthen herkommen / verbrennt werden sollen; In der fehrneren Meinung / daß was die Levantische Baumwollen insgemein ansihet / sie komme gleich auß Italien / Teutschland oder anderstwoher / selbige bey hoher Gelt- und Leibs-Straff / und Verbrennung der Wahr / nicht solle passiert werden / sie seye dann mit Eydtlichen Attestationen begleitet / daß sie die Quarantaine und Erlufftigung außgestanden habe.»

Art. 3: Bescheinigungen und Gesundheitsatteste für Personen, Vieh und Güter

«III. Was dann die andere von unverdächtigen und unverbottenen Orthen herkommend Persohnen / Vieh und Güter ansihet / so wollen Wir zwahren selbige in Unser Land / jedoch also hineinlassen / daß sie mit Eydtlichen Attestationen und Gesundheits-Scheinen / daß dieselbe von und an solchen Orthen / wo reiner und gesunder Lufft und keine Seuche noch Verdacht derselben seye / herkommen / gewachsen / gesamlet / verarbeitet und gepackt / auch nirgend an verdächtigen und verbottenen Orthen durchgeführet / begleitet seyn sollen / zu dem Ende dann für Wägen und Pferd / wie auch die Fuhrleuth / Maulesel-Treiber / und Säumer / an denen Orthen / wo sie abfahren, Eydtlich und absönderlich attestiert werden / daß sie Vierzig Tag lang an gesundem / und keinem verdächtigen oder verbottenen Orth sich aufgehalten / noch die Fuhrleute / Maulesel-Treiber oder Säumer mit Persohnen von verdächtigen oder verbottenen Orthen Gemeinschaft gepflogen haben / massen Wir / da sich dieserer Stucken halber einiger Zweiffel oder Verdacht hervorthäte / die Persohnen / Pferd / Esel / Wagen und Wahren in die Quarantaine verweisen / und / ohne daß sie solche völlig außgestanden / nicht hineinlassen werden.»

Art. 4: Ausräuchern ist weiterhin Pflicht

«IV. Sollen alle ankommende und abgehende Brieff und Paquets erforderlicher massen geräucheret werden.»  (vgl. Art. 1 der Verordnung vom August 1720)

Art. 5: Kontrollen des Verkehrs an allen Stadttoren und in jedem Dorf

«V. Unter unserer Statt-Pforten sollen die bestellte Commissarii, deßgleichen in allen Unseren Gerichten und Gebiethen / insonderheit an denen Gränz-Orthen / die Dorff-Wächter / deren in jedem Dorff je nach Beschaffenheit der Weite und Entlegenheit des Orths zwey / drey bis vier zubestellen / bey hoher Pflicht auf alle und jede ankommende Persohnen / Wahren und Güter geflissene Aufsicht tragen / und keine derselben passieren lassen / sie seyen dann oberläuterter massen mit glaubwürdigen und Eydtlichen Attestationen und Gesundheits-Scheinen versehen / Und wo sich hierinn einiger Zweiffel / Verdacht oder Argwohn erzeigte / solle solches von dem Vorgesetzten des Orths ohnverzogenlich dem daselbst verordneten Ober- oder Landvogt eröffnet und seines Befehls erwartet werden; Alles in der fehrneren Meinung / daß zu Aufrechterhaltung des gemein-nutzlichen Handels und Wandels allen und jeden Eydtgnössischen / und außländischen von unverbottenen und unverdächtigen Orthen herkommende Persohnen / mit Leib und Gut ; item auch den reisenden Persohnen und ehrlichen Handwerks-Gesellen / jedoch daß sie sich auf denen ihnen anweisenden Strassen jederzeit geflissenlich halten sollen / welche gleichfahls von unverbottenen und unverdächtigen Orthen herkommen / Unser Land fürbas wie bisdahin mit dem Vorbehalt offen seyn / daß ein jeder / wie oberläuteret / mit Eydtlichen und glaubwürdigen Gesundheits-Scheinen versehen seye.»

Die Bezirksstatthalter sollten also von den Gemeindebehörden unverzüglich eingeschaltet werden, wenn ihre Polizeiorgane (d.h. die Dorf-Wächter) Unregelmässigkeiten entdeckten.

Art. 6: Gesundheitsatteste für Auslandreisen sind kostenlos

«VI. Und erinneren dahero auch Unsere Angehörige / daß wann sie aussert unsere Bottmässigkeit sich verfügen / sie sich gleichfahls mit erforderlichen Gesundheits-Scheinen / welche ihnen ohne einigen Kosten und umsonst werden ertheilet werden / gebührend versehen sollen.»

Heutzutage gibt es kostenlose Corona-Tests, damals waren es hochobrigkeitlich dringend empfohlene amtliche Bescheinigungen, die es gratis gab. Denn ohne dergleichen Unbedenklichkeitserklärungen waren Handelsreisen schlicht nicht mehr möglich.

Art. 7: Landstreicher und andere Strolche rausbefördern!

«VII. Was dann aber alle und jede Landstreicher / Hutten- und Krätzen-Träger / Außreissere und ins gesamt alles und jedes herumschweiffende Bettel- und Strolchen-Gesind anbetreffen thut / sollen dieselbe an keinen Orthen Unserer Bottmässigkeit passiert / sonder auf Betretten angehalten / und von Wachten zu Wachten nicht der Statt zu / sonder wider zuruck an die Gränzen aussert Unser Land geführt und fortgewisen; Dafehrn auch von Unseren eigenen Lands-Kinderen darunter begriffen wären / solche wider von Wachten zu Wachten den nächsten Weg in ihr Heimat geführt und daselbst dem Pfarrer des Orths oder dem Vorgesetzten desselben vorgestellet werden.»

Der Klassiker in der Mandate-Landschaft. Interessant, wie hier die Richtung umgekehrt wird. Die Regierung wollte das Gesindel nicht mehr in der Stadt. Vorgeschrieben ist explizit die umgekehrte Abschieberichtung. Sollen sich die anderen Staaten mit dem Problem herumschlagen.

Art. 8: Verkehr auf Nebenstrassen immer noch verboten

«VIII. Damit disem allem desto geflissener nachgegangen werden könne / ist Unser fehrner ernstlicher Befehl / Will und Meinung / daß aller Orthen unserer Bottmässigkeit keine andere als die Haupt-Fahrten / Bruggen und Landstrassen von den Reisenden zu Pferd und Fuß und mit Gütern gebraucht / hinggen alle Nebent-Fahrten und Schiff verbotten und angeschlossen / auch bey denen verbottenen Eingängen / Nebent-Strassen und Bey-Wegen / wo es erforderlich / Stüde mit der anbefohlenen Einschrift aufgerichtet / und dabey die Weg mit Stangen vermachet oder in ander Weg verzäunet werden sollen ; Und wollen Wir absonderlich die Einwohnere auf beyden Seiten Unsers Zürich-Sees ernstlich erinneret nd ermahnet haben / daß sie keine verdächtige und ohne authentische und glaubwürdige Gesundheits-Schein versehene Persohnen weder führen noch ans Land setzen / noch auch geschehen lassind / daß von der Oberländer Schiffen jemand dergleichen ans Land gesetzet werde.»

Kanalisierung ist das Gebot der Stunde. Nur so ist es überhaupt möglich, mit vernünftigem Personalaufwand den Verkehr zu kontrollieren.

Art. 9: Bewaffnete Regionalpolizei auf Patrouille

«IX. Massen Wir dann in jedes der vier abgetheilten Quartieren Unserer Landschafft vier verständige Patrouille-Wächter verordnet / welche beständig mit Ober- und Unter-Gewehr herumgehen / die Wachten und Gränz-Orth fleissig visitieren / obe obigem Unserem Mandat Folge geleistet werde / genaue Achtung geben / und wochentlich Unseren hiezu eigens verordneten geliebten Mit-Rähten den erforderlichen Bericht ertheilen sollen.»

All diese Massnahmen haben nur ein Ziel: dem Vaterland die «gesunde Luft» (ohne Pest-Hauch) zu erhalten, wie man dem letzten Abschnitt entnehmen kann:

Vergatterung vom Obervogt bis zum Gemeinderatsmitglied

«Und gleichwie durch des Allerhöchsten unverdiente Gnad und Güte bisdahin Unser Land von der Plag der Pestilenzialischen Seuche und Krankheit verschohnet gebliben / also versehen Wir Uns zu Männiglichen / daß Jedermann / damit fehrners so vil Menschen möglich allem besorgenden Ubel vorgebauet / und der gesunde Lufft in Unserem geliebten Vatterland durch Gottes Segen erhalten werden möge / zu dem Ende hin sich befleissen und angelegen seyn lassen werde / disem Unserem auß Lands-Vätterlicher Sorgfal abgefaßten Gebott und Verordnung Folg und Gehorsame zuleisten / massen dann Unsere Ober- und Landvögt / auch derselben nachgesetzte Untervögt / Weibel und Geschwohrne erinneret und befelchnet seyn sollen / auf alles dawider lauffende eine genaue Aufsicht zuhaben / insonderheit des verdächtigen / Landschädlichen und gefahrlichen Strolchen-Gesinds / so sich nicht weisen lassen wolte / wol zugewahren / und so einiger böser Verdacht auf sie waltete / zu ernstlicher und erforderlicher Abbüssung / anderen zum Exempel verwahrlich anzunemmen / und des Orths Ober- oder Landvogt zuzeführen; Alles in der Meynung / dafehrn an ein- und anderem Orth etwas vorfiele / so zuschwehr fallen solte / ein solches Unseren hierum eigens verordneten geliebten Mit-Rähten hinterbracht werden solle / welche dann wüssen werden / je nach Gestaltsame der Sach mit erforderlichem Raht zubegegnen / oder an Unseren Kleinen Rath zubringen / allermassen Wir nicht unterlassen werden / die Ubertrettere diseres Unsers zu Wolfahrt des gemeinen Vatterlands abgesehenen Mandats / je nach Beschaffenheit des Fehlers / an Leib und Gut abzustraffen; Wornach sich dann ein jeder zurichten und sich selbst vor Schaden zuseyn wol wüssen wird.»

Man kann den damaligen Obrigkeiten eines nicht vorwerfen: dass sie in ihren Erlassen nicht Klartext geredet haben, wozu die ganzen Massnahmen dienen sollten. Nämlich der Aufrechterhaltung der Ordnung durch Abschreckung und radikales Durchgreifen.

Quellen und Literatur

  • Mandat der Zürcher Regierung vom 9. September 1720, Einblattdruck, 40 x 37 cm; Signatur: ZBZ M&P 2: 342. Online verfügbar unter: https://doi.org/10.3931/e-rara-86252. Weitere Fundstelle: StAZH III AAb 1.8, Nr. 92
  • Schott-Volm, C. (Hrsg.): Repertorium der Policeyordnungen der Frühen Neuzeit / Band 7: Orte der Schweizer Eidgenossenschaft: Bern und Zürich. Frankfurt am Main 2006 – Nr. 1476.

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