Freitag, 13. November 2020

Nur 150 Meter tiefer und die DC-9 hätte den Wingert gestreift!

Der Wingert (Flurname für Alter Weingarten, vgl. Weiacher Geschichte(n) Nr. 111) ist ein Ausläufer des Sanzenbergs, dem westlichen Hügelzug von den dreien, die das alte Dorfzentrum von Weiach schützend umgeben. Der Schutz gegen Wetterfronten ist schon seit Jahrtausenden bekannt. Seit bald 50 Jahren schützt der Sanzenberg aber auch gegen Flugzeuge. Wie das?

Wenn wir aus Anlass des 30. Jahrestags des Absturzes der Alitalia-Maschine (vgl. WeiachBlog Nr. 15 v. 14. November 2005) an unserem südlichen Hausberg, dem Haggenberg, eine Risikoanalyse für die eigene Bevölkerung wagen, dann wird schnell klar, weshalb.

Der Gleitpfad ...

Der Wingert liegt wie ein Riegel unter der Anflugschneise, was man durch das Verlängern der 1976 eröffneten Piste 14 (Blindlandepiste) bis nach Kaiserstuhl sieht (mit den offiziellen Landeskarten z.B. auf map.geo.admin.ch). 

Die Daten von swissALTI3D/DHM25 der Swisstopo ergeben dann für den Anflugpfad auf diese Piste ein Höhenprofil wie das untenstehende (mit dem Wingert als erstem Hügel von rechts, beim roten Doppelpfeil):Auf der Abszisse (x-Achse) ist die Entfernung vom südlichen Pistenende abgetragen, auf der Ordinate (y-Achse) die Höhe im Metern über Meer. Der Gleitpfad, wie ihn die Systeme des Flughafens vorgeben, ist als oberste schwarze Linie eingetragen. Fliegt man exakt auf diesem Pfad, dann führt er das Luftfahrzeug an die nördliche Pistenschwelle (dort wo die Linie auf den roten Boden trifft; die Piste 14 ist ca. 3.2 km lang).

... und seine systematische Unterschreitung

Die mittlere schwarze Linie zeigt den Pfad, den die DC-9 der Alitalia am 14. November 1990 kurz nach 20 Uhr genommen hat, sie liegt um 300 Meter zu tief, was unweigerlich dazu führt, dass das Auftreffen auf den Boden bereits am Haggenberg erfolgt (siehe den rosa-violetten Doppelpfeil). Hätte die als zentrale Ursache identifizierte Fehlfunktion am ILS-Instrument des Captains die Piloten zu einem noch 200 Meter tieferen Anflugpfad verleitet, dann wäre die Maschine an der Frankenhalde zerschellt, d.h. am Nordwesthang des Wingert.

Der schlimmste anzunehmende Fall

Bei sonst gleichen Bedingungen wie im Bericht der Flugunfall-Untersuchungskommission beschrieben wäre der worst case aus Weiacher Sicht an diesem Abend vor 30 Jahren dann eingetreten, wenn die Piloten um ziemlich genau 150 Meter tiefer, d.h. 450 Meter unter dem Gleitpfad geflogen wären. Wenn  ihre DC-9 dann die Südkante des Wingert gestreift hätte (Situation mit dem roten Doppelpfeil), dann wäre die Unglücksmaschine auseinandergebrochen und die Trümmerteile hätten sich den physikalischen Gesetzen folgend mit Geschwindigkeiten um die 300 km/h in Richtung Süden über dem Dorfkern verteilt. Die Mehrzahl davon im Bereich des Quartiers Chälen.

Was das bedeutet hätte, kann man sich ausmalen, so man es denn will. Es hätte Tote und Verletzte auch unter der Dorfbevölkerung geben können. An mehreren Orten wären Dächer und Hauswände von Trümmern durchschlagen worden, Treibstoffreste und andere Ursachen hätten an vielen Stellen Brände entfacht. Kurz: ein Inferno, das zu schrecklich ist, um es sich vorstellen zu wollen. 

Kein Wunder also, dass die damals damit Konfrontierten das Ereignis in der Tendenz eher verdrängen möchten (vgl. WeiachBlog Nr. 1244). Ändern kann man daran ja nichts. Und vor allem: es könnte jederzeit wieder so etwas passieren. 

Wie ein Tweet vom 18. November 2017 nahelegt, hatten vor drei Jahren anscheinend auch Piloten der portugiesischen Fluggesellschaft TAP die Hügel um Weiach herum nicht auf der Rechnung. Da nützt dann unter Umständen auch die neue Befeuerung auf dem Stadlerberg wenig. Die Risiken bleiben.

Das Protokoll der letzten Sekunden

Wie man dem Schlussbericht der Eidg. Flugunfall-Untersuchungskommission entnehmen kann, liefen die letzten ca. 25 Sekunden des Fluges AZ-404 über Weiacher Gebiet wie nachstehend skizziert ab. Ein Abbild der bei den Piloten herrschenden totalen Verwirrung über die Anzeigen ihrer Instrumente:

«Bei 6,25 NM Final unterhielten sich die Piloten wie folgt: "- dies ergibt für mich keinen Sinn -" "- für mich auch nicht -". 2 Sekunden nach dieser Unterhaltung rief der PIC: "Zieh, zieh, zieh, zieh!" Gleichzeitig war das Ausschalten des Autopiloten zu hören. Position: ca. 500 ft/AGL über Weiach, resp. ca. 350 ft QFE. Zwei Sekunden später sagte der COPI "go around", was vom PIC mit "Nein, nein, nein,... packe den Glide" erwidert wurde. Gleichzeitig registrierte der DFDR eine Pitchänderung von -2° (AND) auf +5,4° (ANU). Der Schub wurde gleichzeitig von 1,3 auf 1,7 EPR erhöht. Die Sinkgeschwindigkeit flachte von 1100 ft/min. auf 190 ft/min. ab. Nach 11 Sekunden (Pitch pendelte bei +1° ANU) fragte der PIC: "Kannst Du sie halten?", was mit einem "Ja" des COPI quittiert wurde. Eine Sekunde nach der Antwort des COPI war die Warnung des Radiohöhenmessers (pip, pip, pip) zu hören, welche bei 200 ft/ AGL anspricht. Der PIC sagte währenddessen: "Warte, versuchen wir ...". Um 19.11.18 Uhr schlug das Flugzeug an der Nordflanke des Stadlerbergs in einer Höhe von 1660 ft QNH auf. Koordinaten der Unfallstelle: 675 900 / 266 600 (= E 008° 26' 51 "/N 47° 32' 50"). Höhe: ca. 510 m/M.»

Über Weiach hatte die DC-9 gemäss Bericht eine Geschwindigkeit von 150 kt über Grund. 150 Knoten bei 1.852 km pro nautischer Meile entsprechen 277 km/h, also ca. 75 m/s.

6.25 NM Final (d.h. 6.25 nautische Meilen à 1852 Meter oder 11.575 km vor der Pistenschwelle) ist ungefähr dort, wo sich die Frankenhalde befindet, also der Nordabhang des Sanzenberg-Ausläufers Wingert oberhalb der Ebene des Hasli.

150 Meter weiter oder 23 Sekunden vor dem Auftreffen am Haggenberg war das Flugzeug direkt über dem Hügelausläufer des Sanzenbergs, genannt Wingert. Dort erfolgte die Aufforderung «Zieh, zieh, zieh, zieh» des PIC (Pilot in command, d.h. der Captain) an den Copiloten (COPI), die Nase des Flugzeugs anzuheben. 

Weitere 150 Meter in Richtung Süden, d.h. in etwa über dem westlichen Teil der Neurebenstrasse leitete der Copilot (COPI) das Durchstart-Manöver (go around) ein.

Der im Bericht erwähnte «Pitch» ist die relative Lage des Flugzeugs in der Y-Achse. Die Gradangabe zeigt  auf, ob die Nase über oder unter der Flugebene liegt. Beim Go-Around ging die Nase also hoch und die Sinkrate verringerte sich massiv. Nur, das reichte leider nicht. Denn diesen Durchstart-Versuch, der das Unglück abgewendet hätte, verhinderte der Captain mit dem Befehl, wieder den Gleitweg «zu packen».

Go around wäre die Rettung gewesen

Das Durchstart-Manöver hörten die Weiacherinnen und Weiacher als kurzes Aufheulen der Triebwerke. Daran erinnern sich noch viele.

Bis zu diesem Zeitpunkt sank die Maschine mit jeder Sekunde um 5.5 Meter ab, danach nur noch mit 1 m/s, die beiden Piloten wähnten sich ja immer noch auf dem Gleitweg.

Selbst wenn das Flugzeug in den nun folgenden rund 18 Sekunden nicht mehr abgesunken wäre: Diese rund 20 Meter hätten es auch nicht retten können. Nur das Durchstarten. 

Aus diesem Grund verlangen die Regeln nun, dass ein Go Around – einmal ausgelöst – von niemandem mehr abgebrochen werden darf. Auch nicht vom Captain!

Quelle

  • Schlussbericht der Eidgenössischen Flugunfall-Untersuchungskommission über den Unfall des Flugzeuges DC-9-32, ALITALIA, Flugnr. AZ 404, I-ATJA am Stadlerberg, Weiach/ZH, vom 14. November 1990. Nr. 1990/57 - S. 11   https://www.sust.admin.ch/inhalte/AV-berichte/1457.pdf

Keine Kommentare: