Dienstag, 31. Oktober 2017

Wo stand die alte Kapelle? Weidgangsstreit-Urkunde 1594 revisited

Im Zusammenhang mit dem Weidgangsstreit von 1594 (vgl. Weiacher Geschichte(n) Nr. 90, Gesamtausgabe S. 334) ist von «der alten capelen gmür» die Rede. Es handelt sich um den bisher einzigen, mir bekannten Hinweis auf eine alte Kapelle auf Weiacher Gemeindegebiet, die zu diesem Zeitpunkt aber bereits nicht mehr genutzt wurde (allenfalls: werden durfte, s. nächsten Absatz).

Auf welchen Zeitpunkt die Weyacher ihre Kirche im Oberdorf gebaut haben, ist nach wie vor unklar. Man darf annehmen, dass der Bau nach 1540 erfolgt ist, als sie von ihrer Obrigkeit zu Zürich einen eigenen Prädikanten forderten und damit einerseits der Platz in der Kapelle nicht mehr für alle ausgereicht hätte und andererseits möglicherweise auch Besitzansprüche der altgläubigen Mutterkirche (ennet dem Rhein in Hohentengen) die Nutzung der alten Kapelle für reformierte Gottesdienste verhindert haben.

Ein Vergleich der Fassung von Emil Maurer 1965 (Die Kirche zu Weiach) mit der von Paul Kläui 1955 (Aargauer Urkunden XIII) ergibt textliche Differenzen, die durchaus zu Problemen führen können, wenn man Maurer zur Lokalisierung der in der Weidgangsstreit-Urkunde von 1594 genannten Kapelle heranzieht:

Maurer zit n. Weiacher Geschichte(n) Nr. 90

«Was aber oberthalb dem Glattfelderweg und von dem alten capelengmür an zwüschent demselben und der lantstrass gegen Wyach ligt, darin söllent die von Keyserstuhl kein weidrecht haben, sondern der weidgang des endts denen von Wyach alleinig zugehören».

Kläui zit. n. Aargauer Urkunden XIII, Nr. 287 (Ausschnitt unten)

«Was aber oberthalb dem Glattfelder weg und von der alten capelen gmür an zwüschent demselben Glattfelder weg und der landtstraß gegen Wyach ligt, darin söllent die von Keyßerstuol dhein weidrecht haben, sonders der weidgang des endts denen von Wyach alleinig zuogehören».


Vermeintliche Doppelung entfernt?

Fast identisch. Aber eben nur fast. Frage: Wer hat da beim Abschreiben die Präzisierung «Glattfelder weg» nach «demselben» unterschlagen? Maurer selber beim Abschreiben aus Kläui? Oder hat Maurer sich im sog. Ortsgeschichte-Ordner (Archiv des Ortsmuseums Weiach) bedient? Vielleicht bleibt erneut (wie bei der Frage, ob es bereits 1381 einen Kirchhof gegeben habe, vgl. WG(n) 90) keine andere Lösung als sich das Original-Pergament (StAK Urk. 262) anzusehen.

Das Weglassen der Präzisierung ergibt nämlich u.U. eine völlig andere Interpretation der örtlichen Verhältnisse. Denn ohne die Präzisierung ordnet man das Wort «demselben» automatisch dem «capelengmür» zu - und nicht dem «Glattfelder weg».

Ganz abgesehen davon steht bei Kläui auch die sprachlich wesentlich elegantere Formulierung «der alten capelen gmür». Sie zeigt ganz deutlich, dass es sich um ein als Landmarke noch klar erkennbares Gebäude (wenn auch nicht zwingend eine Ruine) gehandelt haben muss, dessen (ehemalige) Funktion den Zeitgenossen des Weidgangsstreits von 1594 noch klar war.

Wo begann der Glattfelderweg?

Die entscheidende Frage ist, wo dieser «Glattfelder weg» 1594 (aus Kaiserstuhler und Fisibacher Sicht) seinen Anfang genommen hat. Dort, wo heute die Glattfelderstrasse beginnt, also an der Sternenkreuzung? Oder einiges weiter westlich, wo sich eine Abkürzung in gerader Linie über die Ebene von der Landstrasse Richtung Zürich abgezweigt hat (vgl. nachstehendes Bild: Ausschnitt Gygerkarte 1667)?

Letzteres ist wesentlich wahrscheinlicher bzw. aufgrund der Formulierung in der Urkunde von 1594 fast sicher, denn Trampelpfade gehen in der Regel der Direttissima nach (wer von Kaiserstuhl nach Glattfelden, Zweidlen oder auch nur ins Weiacher Hard will, der macht freiwillig keinen Umweg über das Dorf Weiach).


Die Gygerkarte von 1667 (s. oben) zeigt denn auch deutlich, wie der Verlauf dieses Glattfelderwegs gewesen sein muss. Die punktierte Fläche bezeichnet den Dorfetter von Weyach, d.h. diejenigen Flächen, die - wohl auch durch Zäune - vom übrigen Acker- und Weideland abgetrennt waren. Denn bis zum Glattfelderweg durften die Kaiserstuhler weiden lassen, aber nicht südlich davon, d.h. auf der geosteten Gygerkarte rechts des Wegs.

Fragenkorb revisited

Den Abschnitt über die Kapelle in Weiacher Geschichte(n) Nr. 90 habe ich mit den folgenden Absätzen beendet:

«Ist «altes capelengmür» ein Ausdruck für eine 1594 noch benützte Kapelle oder für eine Ruine? Ist damit die alte Kirche im Oberdorf gemeint, oder doch eher eine noch ältere Kapelle an einem anderem Standort? Und wieso ist Maurer sich so sicher, dass es schon im Mittelalter eine Kapelle gab? Diese Fragen sind meines Erachtens weiterhin ungelöst.

Mir ist auch nicht klar, wie Maurer aus der in der Urkunde gegebenen Beschreibung auf den Standort im Oberdorf schliesst. Es könnte genausogut die Rede von einer Kapelle sein, die irgendwo in der Ebene draussen stand, nicht aber im Dorf selber – je nachdem, wo genau die Weidegebiete lagen, die den Weiachern nach diesem Schiedsspruch zur alleinigen Nutzung zustanden.
»

Diese Fragen kann ich nun mindestens teilweise beantworten.

Standort Oberdorf? Unwahrscheinlich.

Entscheidend ist die bei Kläui überlieferte Lesung (AU XIII, Nr. 287). Rein von den örtlichen Gegebenheiten her kann es nicht sein, dass mit «der alten capelen gmür» ein Standort im Oberdorf gemeint war.

Hätte Maurer 1965 recht, dann müsste die Kapelle im Oberdorf entweder in der Nähe der alten Kirche gestanden haben (was möglich aber nicht sehr wahrscheinlich ist, rein von den Platzverhältnissen her) oder durch den reformierten Kirchenbau ersetzt worden sein. Diese Baute hat nachweislich 1658 existiert (1658 wurde von den Beauftragten der Zürcher Regierung, die nach dem grossen Dorfbrand zwecks Schadenassessment zu Rosse nach Weiach reisten, «im abhin riten» ein baufälliger Kirchturm moniert, wobei die Formulierung zeigt, dass sie von Raat her kamen und hinunter in die brandgeschädigte Chälen ritten), sie war 1644 verlängert worden und wurde nach 1706 obsolet.

Standort Luppen? Strassenklassierung spricht dagegen.

Wäre ein Standort der Kapelle auch an der Stelle möglich, wo heute die Luppenstrasse in die Hauptstrasse einmündet? Ja, aber nur wenn man «landtstrass gegen Wyach» anders als ein paar Zeilen oberhalb nicht von Kaiserstuhl aus gesehen definiert und gleichzeitig annimmt, die Strasse Richtung Glattfelden habe den Rang einer Landstrasse gehabt. Das war aber selbst ca. 100 Jahre später auch aus Zürcher Sicht nicht der Fall, vgl. WeiachTweet Nr. 950 vom 19.9.2017:
Standort Bedmen passt am besten.

Maurer hat sich wohl geirrt! Analysiert man die Textstelle von 1594 zusammen mit einem Blick auf die Gygerkarte, dann muss «der alten capelen gmür» etwa im Gebiet der Weggabelung gestanden haben, wo der Glattfelder Weg von der Landstrasse abzweigte. Auf welcher Seite der Strasse auch immer.

Die Kapelle erscheint damit einfach als weiterer Referenzpunkt an derjenigen Weggabelung, ab der oberhalb (also südlich) des Glattfelderwegs kein Weiderecht für Fisibacher und Kaiserstuhler mehr bestand, was im wesentlichen dem als Eschter bzw. Bedmen bezeichneten Vorland nördlich des Dorfes entspricht.

Wie man auf der Gygerkarte (von mir eingezeichnet) sieht, zweigt der Glattfelderweg (violett) auf der Höhe des Bedmen von der Landstrasse Zurzach-Kaiserstuhl-Weiach-Raat-Zürich (dunkelblau) ab:


Randnotiz: Der von Gyger eingezeichnete Verlauf der Landstrasse liegt im Widerspruch zu der im 19. Jahrhundert gebräuchlichen Bezeichnung für die heutige Bergstrasse, die man nach dem Bau der Stadlerstrasse noch als «Alten Zürichweg» bezeichnete. Stellt sich die Frage, ob die weit oberhalb der Häuser eingezeichnete Querung des Mülibachs einem Fehler Gygers oder schlicht der durch die Ostung verursachten Darstellung geschuldet ist, also der Frage, wie man eine Strasse am Osthang des Haggenberg einzeichnet, oder ob Mitte des 17. Jahrhundert die Landstrasse tatsächlich durch das gesamte Oberdorf verlief. Durch die damals noch spärliche Bebauung entlang der Bergstrasse sollte es den Obervögten 1658 auch von dort aus möglich gewesen sein, den schlechten Zustand des Kirchturms zu erkennen.

Weiderechte der Kaiserstuhler althergebracht

Aufgrund der Formulierung («und diserem Weg nach durch uß, was underthalb demselben gegem Rhyn zuo gelegen, wie von alter halb brüchig») ist es sehr wahrscheinlich, dass die Kaiserstuhler sogar im Hardwald bis zur Glattfelder Grenze weiden konnten. Und nicht nur bis zum Waldrand, so wie es beim Stocki der Fall war.

Der Umstand, dass im Rahmen des Weidgangsstreits von 1594 nur die Frage des Ausmasses des Weiderechts strittig war (wieviele Tiere, welche Tierarten, wieviele Tage pro Woche, bis wohin diese Tiere getrieben werden durften), nicht aber die Grundsatzfrage, ob überhaupt ein solches Recht bestehe, ist wieder einer dieser Hinweise, dass Kaiserstuhl bei der Gründung von den am Stadtprojekt beteiligten Adeligen (u.a. wohl auch die in Weiach massgebenden Freiherren von Wart) weitgehende Rechte zugesprochen wurden - sowohl auf dem Gemeindebann von Weiach, wie auf dem von Fisibach, aus denen das ummauerte Stadtgebiet um 1254 herausgeschnitten wurde (vgl. Naumann 1967).

Anders ist kaum zu erklären, weshalb auch 340 Jahre nach der Gründung diese Rechte («von alter halb brüchig») nicht bestritten werden konnten. Hätten die Weiacher das gekonnt, dann hätten sie es bestimmt getan, denn die ganze Ebene unterhalb (d.h. rheinwärts) des Glattfelderwegs und dazu das ganze Hasli - das war schon sehr viel Land, was sie bei stark zunehmender Bevölkerungszahl wohl lieber für sich allein genutzt und nicht noch mit den Kaiserstuhlern geteilt hätten.

Quellen
  • Naumann, H.: Der Kaiserstuhler Efaden. In: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins, 115, 1967 – S. 213-236.
  • Brandenberger, U.: Kein Beweis für das Jahr 1381. Wurde die frühere Kirche im Oberdorf schon im Mittelalter erbaut? Weiacher Geschichte(n) Nr. 90. In: Mitteilungen für die Gemeinde Weiach, Mai 2007.
  • Swisstopo (Hrsg.): Inventar historischer Verkehrswege im Kanton Zürich (Vorab-Version), Bern 2007 - S. 11
[Veröffentlicht am 28. Februar 2019 um 10:20 MEZ]

Samstag, 28. Oktober 2017

Eine 1. August-Rede als Publikationshelfer

Im Beitrag «Ortsgeschichte mit Fadenheftung und Leinen-Einband» (WeiachBlog Nr. 1292 vom 15. August 2016) steht folgender Abschnitt, zu dem nun neue Informationen vorliegen:

«Wann die Idee für das Buch «Aus der Vergangenheit des Dorfes Weiach» entstanden ist, lässt sich anhand der vorliegenden Angaben nicht genau rekonstruieren. Wir wissen immerhin, dass der Autor die Bundesfeier 1971 zum Anlass genommen hat, einen Vortrag zum Thema «700 Jahre Weiach» zu halten (vgl. WeiachBlog Nr. 449 vom 7. Mai 2007). Er ist als 14-seitiges Skript erhalten geblieben. Ob der Vortragstext dem Buch Pate gestanden hat oder umgekehrt, dies könnte man allenfalls mittels genauer Textanalyse eruieren.»

Der letzte Satz zeigt, dass der WeiachBlog-Autor  mea culpa  den Vortragstext Zollingers im August 2016 noch nicht en détail studiert hatte.

Und auch über die Zeitverhältnisse hat er sich nicht gerade viele Gedanken gemacht.  Der Gemeinderat entschied nämlich bereits am 2. November 1971, den – als Typoskript vorliegenden – Text drucken zu lassen. Es ist natürlich möglich, ein Werk, wie es das blaue Büchlein Zollingers darstellt, innerhalb von drei Monaten nicht nur zu schreiben, sondern es auch noch vom Gemeinderat begutachten zu lassen. Aber sehr sportlich.

Patriotischen Anlass geschickt genutzt

Überlegungen wie die vorstehende sind jedoch obsolet. Bei der Lektüre des Vortragstextes wird nämlich an verschiedenen Stellen deutlich, dass

a) Zollinger bei der Niederschrift des Manuskripts für den 1. August-Vortrag den Entwurf seiner Monograpie in einem Stadium vorliegen hatte, der dem später gedruckten Werk entsprach (das belegen die Angaben zu den Kapiteln, mit denen er die Zuhörer zum Abschluss des Vortrags nochmal explizit «gluschtig» machen wollte) und ebenso, dass er

b) den Vortrag dazu nutzte, geschickt die Werbetrommel für die Publikation seines Werks zu rühren.

Von einem allzu expliziten Lobbying nahm er allerdings Abstand, wenn auch erst nach der erstmaligen Niederschrift des Redetextes, wie die handschriftliche Streichung der folgenden Passage in der Einleitung zeigt:

«Ich hoffe aber, dass Sie alle bald einmal Gelegenheit bekommen werden, die ganzen, bereits vorhandenen Ausführungen selber lesen zu können. Das hängt allerdings aber nicht von mir al-) lein ab!»

Diese Zeilen lassen keinen anderen Schluss zu: der Entwurf für das Buch lag vor und hat dem Vortrag Pate gestanden – und nicht umgekehrt.

Gemeinderat gibt Zollinger eine Plattform

Zollinger hat sicher einige Zeit an seinem Entwurf der Monographie «Aus der Vergangenheit des Dorfes Weiach» gearbeitet, möglicherweise explizit im Hinblick auf das 700-Jahr-Jubiläum hin (das von ihm mitgegründete Ortsmuseum braucht ja Themen für seine Ausstellungen und 1971 ergab sich das Jubiläum 1271-1971).

Diese Umstände dürften auch dem damaligen Gemeindepräsidenten Ernst Baumgartner-Brennwald nicht unbekannt geblieben sein, worauf er Zollinger die Gelegenheit gab, anlässlich der Bundesfeier am 1. August 1971 darüber zu referieren und damit auch Reklame für die Ortsmuseums-Ausstellung zu machen (vgl. Höber, H.: 700 Jahre Weiach. Eine interessante Sonderausstellung im Ortsmuseum. In: Zürichbieter, Nr. 435, 18. September 1971).

Arbeit am Text an Ostern 1971 abgeschlossen

Und sehr wahrscheinlich hat Zollinger die Arbeiten an seinem Werk tatsächlich bereits an Ostern 1971 abgeschlossen. So, dass er gar keinen Anlass gesehen hat, in seinem «Vorwort des Verfassers» eine Korrektur auf Ostern 1972 vorzunehmen. Er hat damit den Abschluss seiner Recherche-Arbeiten dokumentieren wollen. Und wollte nicht einen Hinweis auf den Publikationszeitpunkt geben, wie ihn die Informations- und Dokumentationsspezialisten später im Werk suchten. Ausserdem konnte er auch nicht ahnen, dass die Publikation im Druck zufälligerweise auf dasselbe hohe kirchliche Fest fallen würde wie 1971 der Abschluss seiner Arbeiten am Manuskript. Denn der Arbeitsfortschritt lag ab November 1971 primär in den Händen der Druckerei.


[Veröffentlicht am 25. Februar 2019 um 11:30 MEZ]