Die Zeiten vor 500 Jahren waren, wie die heutigen, von einem ganzen Krisenbündel geprägt. Verschiedene Handlungsstränge unterschiedlicher Akteure (vor allem auch der Frühkapitalisten) überlagerten sich und führten zu einer hochdynamischen Entwicklung, deren Ausgang und Richtung für die Zeitgenossen keineswegs voraussehbar war. Ganz im Gegenteil.
Die Eidgenossenschaft hatte seit etwa zehn Jahren einen machtpolitischen Kater. Weggeblasen waren die Grossmachtambitionen, die man sich in Ansätzen nach dem sensationellen Kriegserfolg über die Burgunder (1475-1477) sowie dem Schwäbischen Bund samt dem künftigen deutschen Kaiser Maximilian (1499) durchaus zu Recht gemacht hatte.
Die verheerende Niederlage bei Marignano 1515 verwandelte – auch und gerade in Zürich – die massiven wirtschaftlichen und sozialen Verwerfungen dieser Zeit in einen explosiven Cocktail.
Um den Zorn der auf den Söldnerverdienst angewiesenen Teile der Landbevölkerung in den Griff zu bekommen, verfiel die Regierung darauf, Sündenböcke abzuurteilen, die dann stellvertretend exemplarisch bestraft wurden. Es gelang ihr sogar, mit dem Mailänderbrief die Landschaft 1516 darauf zu verpflichten, sich nicht mehr untereinander zu verbünden und insbesondere nicht gewaltsam gegen die Stadt vorzugehen. (Suter 2017)
Zur Multikrise kommt unmittelbare Kriegsgefahr
Mit der Reformation verschärfte sich die Lage zusätzlich. Zürich stand wieder einmal allein da, wie schon im Vorfeld und im Verlauf des Alten Zürichkrieg (1440-1444). Die katholisch gebliebenen Stände verlangten von der Limmatstadt, sie müsse wieder zum alten Glauben zurückkehren. Und es gab durchaus ernstzunehmende Drohungen für den Fall, dass sie dies nicht täten.
Die Reaktion der Zürcher liest sich in den Worten des Reformators und Zwingli-Nachfolgers Heinrich Bullinger dann so (Reformationsgeschichte Nr. 131, S. 233):
«Sömlichs und anders der glychen mee bewegt ein Statt Zürych an die iren in Statt und auff dem Land zuo werben, und [...] ouch von inen erkondigen, weß sich ein Statt Zürych allenthalben, ob sich krieg und ueberfal zuetrüge, soellte versaehen.
Hieruff gefiel von allen gemeinden ein einhällige Antwort, damitt ein ersamer radt gebätten ward, by dem wort Gottes und heyligen Euvangelio zuo blyben [die Reformation also beizubehalten], bis mitt dem Wort Gottes, ein bessers anzeigt wurde, Item das man sich woelle, so vil müglich, vor krieg vergoumen, und mencklichem raecht pieten und raechtens gestan. Ob aber hierüber sy yemandts bekriegen und überfallen wöllte, wölling die zuo der Statt setzen lib und guot, und Gott lassen walten. Deß verband man sich mit dem Eyd. Also daz do alle waellt wider Zürych was, und insonders alle Eydgenossen, sich wider sy setztind, sy doch sich einhaellig uff Gott verliessen, und hindurch fürend.»
Zumindest stellt Bullinger es so dar, dass hierüber Einigkeit herrschte. Den Reformkräften in der Limmatstadt war es gelungen, nicht nur einen genügend grossen Anteil der Stadtbürger, sondern auch die massgeblichen Kräfte auf der Landschaft von der Richtigkeit und Legitimität ihres Kurses zu überzeugen. Und Kriegsgefahr schweisst bekanntlich eine Gemeinschaft wie kaum etwas anderes zusammen.
Bei der Klosteraufhebung sollen wir über den Tisch gezogen werden?
Das alles hat aber die Unzufriedenheit über die eigene ökonomische Lage in breiten Bevölkerungskreisen keineswegs zum Verschwinden gebracht. Friedrich Vogel bezeichnet die Ereignisse, die den Zürcher Staat dann 1525 im Innern aufwühlten, denn auch als Religiös-politischer Aufstand. Auch ihm sei hier das Wort erteilt (Vogel 1845, S. 549):
«Die Zeit der Reformation war angebrochen, zahllose Mißbräuche im Kirchlichen wurden abgeschafft und die reine Lehre des Evangeliums hergestellt, die Pensionen wurden abgeschworen [d.h. die Reisläuferei für fremde Machthaber streng begrenzt], die Sitten gereinigt und verbessert, aber der harte ökonomische Druck, der auf dem Landmann haftete, wurde wenig erleichtert. Es ist daher begreiflich, daß der letztere glaubte, weiter gehen zu dürfen als die Reformatoren und mit der geistigen auch die leibliche Freiheit zu erringen suchte. Diese Ansicht war namentlich in Deutschland verbreitet, die Wiedertäufer schürten das Feuer, bis es zuletzt in dem sogenannten Bauernkrieg hoch aufloderte, dessen Flammen auch über die Grenzen der Schweiz drangen und namentlich in unserm Kanton einen gefährlichen Aufstand erweckten, der nur mit großer Mühe gedämpft werden konnte. Wir folgen bei der Erzählung desselben Bullingern, als dem Zeitgenossen.»
Zu den Ereignissen, die unmittelbar zu den im vorangehenden Artikel (vgl. WeiachBlog Nr. 2232) erwähnten 17 Artikeln des Neuampts führten, schreibt Vogel (S. 550):
«Am 23. April, nachdem der Abt von Rüti mit Brief, Baarschaft, Siegel und Kleinodien nach Rapperschweil entflohen war, fiel eine Anzahl Bauern aus der Herrschaft Grüningen [die damals den Südosten des Zürcher Gebiets umfasste] in das Kloster und erlaubten sich Schwelgerei und Muthwillen aller Art. [...] Es drang auch ein Haufe in das Johanniterhaus Bubikon, der sich auf die nämliche Art benahm wie der zu Rüti. Mittlerweile hatte der Rath einige Boten hinaufgesandt, welche dem wüthenden Volk gute Worte gaben und es darauf wiesen, daß es seine Beschwerden in Artikel stellen und diese dem Rath eingeben sollte. Hierauf zog der größte Theil ab, doch blieben an einigen Orten Unruhige dem Wein zulieb zurück und zogen erst ab, als der Rath ein Mandat erließ.»
Dass die Landleute über diesen Schachzug des Abtes empört waren, ist durchaus verständlich. Ihre hohe Obrigkeit in der Stadt Zürich wollte die Klöster aufheben. Und im Verlaufe dieses Prozesses machen sich deren Führungskräfte mit allen Wertpapieren und anderen werthaltigen Gegenständen aus dem Staub? Hier wurde Volks- und Privateigentum einfach mal eben abgezügelt (Allgemeine Abgaben wie Zehnten, woraus dann immerhin Teile der Sozialfürsorge finanziert wurde sowie Jahrzeit-Gelder, für die man im Gegenzug am Todestag der Angehörigen Messen gelesen bekam, um sie weniger lang im Fegefeuer schmoren zu lassen). Ein eklatanter Verstoss gegen Treu und Glauben!
Memmingen, Februar 1525: Neun Artikel giessen Forderungen in Schriftform
Um nun den Inhalt der Beschwerden zu beurteilen, blenden wir wenige Monate zurück, in den Februar. Damals wurden im oberschwäbischen Memmingen, die sogenannten Memminger Artikel ausformuliert:
1. Freie Pfarrerwahl. Der Pfarrer soll, wenn er das reine Evangelium nach den Wünschen der Gemeinde predigt, von dieser direkt bezahlt werden, predigt er anders, kann er jederzeit von der Gemeinde ersetzt werden.
2. Aufgrund der Erklärung, den Pfarrer selbst zu unterhalten, soll der Zehnt abgeschafft werden. Dieser sei ohnehin mit der Heiligen Schrift nicht zu vereinbaren.
3. Die Leibeigenschaft soll abgeschafft werden.
4. Die Jagd und Fischerei soll freigegeben werden.
5. Der Frondienst soll auf ein vernünftiges Maß verringert werden.
6. Der Ehrschatz soll aufgehoben werden.
7. Die Strafen gegen schwere Verbrechen sollen auf das alte Maß verringert werden.
8. Das Land, das früher der Gemeinde gehörte, soll dieser zurückgegeben werden.
9. Die landwirtschaftlichen Erzeugnisse (z. B. Korn, Fleisch, Milch) sollen von den Bauern frei verkauft werden dürfen.
Kurz und knapp formuliert strebten die Memminger eine Selbstverwaltung in allen Belangen sowie die Abschaffung fast aller Abgaben, Steuern, Zölle, etc. an. Schon diese Artikel stützten sich auf das Gotteswort ab. Die Bauernschaft wollte nur noch das gelten lassen, was sich aus der Bibel ableiten liess.
Memmingen, März 1525: Ausarbeitung auf 12 Artikel
Aufstellung nach Leuzinger 2025
Zwölf Artikel gem. Wikipedia
1. Jede Gemeinde hat ein Recht zu Wahl und Absetzung ihres Pfarrers.
Jede Gemeinde soll das Recht haben, ihren Pfarrer zu wählen und ihn zu entsetzen (abzusetzen), wenn er sich ungebührlich verhält. Der Pfarrer soll das Evangelium lauter und klar ohne allen menschlichen Zusatz predigen, da in der Schrift steht, dass wir allein durch den wahren Glauben zu Gott kommen können.
2. Der kleine Zehnten soll aufgehoben, der grosse Zehnten für Geistliche, Arme und Landesverteidigung verwendet werden.
Von dem großen Zehnten sollen die Pfarrer besoldet werden. Ein etwaiger Überschuss soll für die Dorfarmut und die Entrichtung der Kriegssteuer verwandt werden. Der kleine Zehnt soll abgetan (aufgegeben) werden, da er von Menschen erdacht (und nicht biblisch begründet) ist, denn Gott der Herr hat das Vieh dem Menschen frei erschaffen.
3. Die Leibeigenschaft soll aufgehoben werden.
Item ist der Brauch bisher gewesen, dass man uns für Eigenleute (Leibeigene) gehalten hat, welches zu erbarmen ist, angesehen, dass uns Christus alle mit seinen kostbarlichen Blutvergießen erlöst und erkauft hat, den Hirten gleich wie den Höchsten, keinen ausgenommen. Darum ergibt sich aus der Schrift, dass wir frei sind und sein wollen.
4. Jagd und Fischerei sollen frei sein. Falls Verkäufe vertraglich belegt werden können, sollen einvernehmliche Regelungen zwischen Gemeinde und Rechtsinhabern angestrebt werden.
Item ist es unbrüderlich und dem Wort Gottes nicht gemäß, dass der arme Mann nicht Gewalt hat, Wildbret, Geflügel und Fische zu fangen. Denn als Gott der Herr den Menschen erschuf, hat er ihm Gewalt über alle Tiere, den Vogel in der Luft und den Fisch im Wasser gegeben.
5. Wälder und Forsten sollen in Gemeindehand zurückgegeben werden. Sollten Verträge bestehen, werden gütliche Vereinbarungen mit den Forstinhabern angestrebt.
Item haben sich die Herrschaften die Hölzer (Wälder) alleine angeeignet. Wenn der arme Mann etwas bedarf, muss er es für das doppelte Geld kaufen. Es sollen daher alle Hölzer, die nicht erkauft sind (gemeint sind ehemalige Gemeindewälder, die sich viele Herrscher angeeignet hatten), der Gemeinde wieder heimfallen (zurückgegeben werden), damit jeder seinen Bedarf an Bau- und Brennholz daraus decken kann.
6. Die Frondienste sollen auf ein erträgliches Mass reduziert werden, orientiert an Herkommen und Evangelium.
Item soll man der Dienste (Frondienste) wegen, welche von Tag zu Tag vermehrt werden und täglich zunehmen, ein Einsehen haben und uns nicht so sehr belasten, so, wie unsere Eltern gedient haben, allein nach Laut des Wortes Gottes.
7. Ausservertragliche Frondienste sollen nicht zugelassen sein, es sei denn gegen eine angemessene Vergütung.
Item soll die Herrschaft den Bauern die Dienste nicht über das bei der Verleihung festgesetzte Maß hinaus erhöhen. (Eine Anhebung der Fron ohne Vereinbarung war durchaus üblich.)
8. Die Abgaben der Bauern sollen durch «ehrbare Leute» neu eingeschätzt werden.
Item können viele Güter die Pachtabgabe nicht ertragen. Ehrbare Leute sollen diese Güter besichtigen und die Gült nach Billigkeit neu festsetzen, damit der Bauer seine Arbeit nicht umsonst tue, denn ein jeglicher Tagwerker ist seines Lohnes würdig.
9. Die Strafmasse für schwere Vergehen sollen neu festgesetzt werden, orientiert an älteren Gerichtsordnungen.
Item werden der großen Frevel (Gerichtsbußen) wegen stets neue Satzungen gemacht. Man straft nicht nach Gestalt der Sache, sondern nach Belieben (Erhöhungen von Strafen und Willkür bei der Verurteilung waren üblich). Ist unsere Meinung, uns bei alter geschriebener Strafe zu strafen, wonach die Sache gehandelt ist, und nicht nach Gunst.
10. Ehemalige Gemeindewiesen und -äcker sollen zurückgegeben werden, es sei denn, dass Kaufverträge vorgelegt werden können.
Item haben etliche sich Wiesen und Äcker, die einer Gemeinde zugehören (Gemeindeland, das ursprünglich allen Mitgliedern zur Verfügung stand), angeeignet. Die wollen wir wieder zu unseren gemeinen Händen nehmen.
11. Die Zahlung des Todfalles belastet die Erben ungebührlich und wird deswegen zukünftig verweigert.
Item soll der Todfall (eine Art Erbschaftssteuer) ganz und gar abgeschafft werden, und nimmermehr sollen Witwen und Waisen so schändlich wider Gott und Ehre beraubt werden.
12. Alle Forderungen ergeben sich aus dem Wort Gottes. Sollten sie sich durch das Evangelium als unberechtigt erweisen, wolle man von ihnen Abstand nehmen.
Item ist unser Beschluss und endliche Meinung, wenn einer oder mehr der hier gestellten Artikel dem Worte Gottes nicht gemäß wären …, von denen wollen wir abstehen, wenn man es uns auf Grund der Schrift erklärt. Wenn man uns schon etliche Artikel jetzt zuließe und es befände sich hernach, dass sie Unrecht wären, so sollen sie von Stund an tot und ab sein. Desgleichen wollen wir uns aber auch vorbehalten haben, wenn man in der Schrift noch mehr Artikel fände, die wider Gott und eine Beschwernis des Nächsten wären.
Die Zürcher Bauern bauen den Forderungskatalog aus
Da ähnliche Forderungen auch auf Reichsboden gleich nördlich des Zürcher Herrschaftsgebiets zirkulierten, war das Überspringen des Rheins durch diese Ideenwelt die natürlichste Sache der Welt.
Hans Nabholz erläutert 1898 in seiner Dissertation die Entstehung der Beschwerdeartikel von der Zürcher Landschaft wie folgt.
«Gleich nach dem Überfall von Rüti hatte er [der Zürcher Rat] ein Mandat in der ganzen Landschaft verbreiten lassen, das eindringlich vor weitern Ausschreitungen warnte. Zugleich aber richtete er an alle Gemeinden die Aufforderung, ihre Beschwerden, in Artikel verfasst, der Obrigkeit einzureichen und versprach, die Forderungen eingehend zu prüfen und Abhülfe zu schaffen, wo es nötig sei. Die
Gemeinden folgten dem Vorschlage und schon in den ersten Tagen des Mai sah sich der Rat im Besitze einer ganzen Reihe solcher Beschwerdeschriften.»
Nabholz hält fest: «Die Forderungen der Zürcher Bauern gehen zum Teil weiter, als das Programm der XII Artikel», und verweist dazu auf Egli Actensammlung Nr. 702, 703, 710, (708); sowie Bullinger I, 267-269 (Nabholz, S. 50). Geradezu modernistisch muten die Greifenseer Vorstellungen von einer erst in der Zeit des Bundesstaates nach 1850 erreichten Handelsfreiheit an: «Noch möge erwähnt werden, dass die Leute aus dem Amt Greifensee die Zollfreiheit innerhalb des Gebietes der Stadt Zürich nicht nur auf die zürcherischen Waren, sondern auf die der ganzen Eidgenossenschaft erstrecken möchten.»
Abgesehen von solchen Ausreissern zieht Nabholz über die Unterschiede folgendes Fazit: «Unter sich stimmen die Begehren aus den einzelnen Teilen der Landschaft sachlich ziemlich genau überein, dagegen weichen die Schriftstücke in Form und Anordnung durchaus von einander ab. Aus diesem Grunde scheint mir keines dem andern direkt als Vorlage gedient zu haben. Die sachliche Übereinstimmung lässt sich trotzdem begreifen, wenn man bedenkt, dass einesteils die soziale Lage in allen hier in Betracht kommenden Herrschaften der Stadt dieselbe war, und dass man sich anderseits über diejenigen Zustände, deren Reform man wünschte, schon vorher an Gemeindeversammlungen und andern Zusammenkünften gewiss oft genug ausgesprochen hatte.» (Nabholz, S. 51).
Die Grüninger Beschwerdeartikel, April 1525
1. Klage über Wegnahme von Klostergut durch den Abt von Rüti.
2. Abschaffung der Leibeigenschaft; Stadt Zürich als einzige Obrigkeit.
3. Abschaffung der Niedergerichtsbarkeit. [Ergibt sich indirekt aus Punkt 2]
4. Abschaffung der Vogthühner. [Eine Art Kopfsteuer an den Landesherrn, d.h. Zürcher Obervogt]
5. Abschaffung der Tagwan. [Gemeint sind Frondienste]
6. Weder Fall, noch Gläss noch Ungnossame. [vgl. separate Erläuterung unten]
7. Keinen dritten Pfenning mehr. [vgl. separate Erläuterung unten]
8. Abschaffung der Zölle innerhalb des Zürcher Herrschaftsgebiets. [Grüningen forderte mehr, s. oben]
9. Kein Umgeld vom Wein und kein Tavernengeld mehr. [Umgeld ist eine Warenumsatzsteuer]
10. Abschaffung des Lehenwesens.
11. Keine Vogtgarben mehr. [Vgl. Punkt 4 oben]
12. Keine Fronarbeit zur Reparatur des Landvogteischlosses.
13. Unentgeltliche Rechtspflege für Arme.
14. Klostergüter müssen im Grüninger Amt bleiben. Verbot des Abzugs.
15. Rückzahlung der Jahrzeitgelder, wenn die Jahrzeitmessen nicht mehr gelesen werden.
16. Freie Jagd auf alle Wildtiere in Bach, Wald und Feld.
17. Landerwerbungsverbot für das Kloster [Rüti].
18. Abschaffung des Kleinen Zehnten, nur noch Zehnten auf Wein, Korn und Haber werden anerkannt.
19. Ablösbarkeit von ewigen Kernengülten zum Fixpreis. [Eine Gült ist ein auf dem Land lastendes Wertpapier mit jährlichem Coupon]
20. Abschaffung des Holzgeldes. [Vgl. Art. 5 der Memminger Zwölf oben]
21. Keine Abgaben mehr an Obrigkeiten, wenn man eine Frau heiratet.
22. Rückzahlung von abgegangenen Pfründen bei Nachweis ihrer Stiftung.
23. Appell an die Obrigkeit, bei Beurteilung von Pt. 1-22 die wirtschaftliche Not der Landleute zu berücksichtigen.
24. Keine Einkerkerung, wenn eine Sicherheitsleistung möglich ist [Malefiz nicht explizit erwähnt!]
25. Keinerlei Erbschaftssteuer, ganzes Erbe an «die nächsten fründ».
26. Streitigkeiten zwischen Untertanen, die «zwüschen den 4 wänden gericht werdent» sollen keine obrigkeitlichen Strafen zur Folge haben.
27. Recht den Pfarrer (und Kaplane) ein- und abzusetzen, wenn er sich «nach dem wort Gottes nitt hielte».
Es ist schon interessant, dass die Erste Forderung der Memminger bei den Grüninger Bauernschaft erst an letzter Stelle kommt (bei den Kyburger & Neuämter Artikel an Position 12 von 17). Das hing wohl auch damit zusammen, dass diese Forderung mit der Reformation an Bedeutung eingebüsst hatte, zumindest in denjenigen Fällen, wo es sich beim Kollator um den Zürcher Rat handelte, was aber längst nicht immer zutraf.
Fall, Gläss und Ungnossame
Anne-Marie Dubler erklärt im Artikel «Fall» im Historischen Lexikon der Schweiz, wie sich eine sog. Personallast als grundherrliche Abgabe zur heutigen Erbschaftssteuer entwickelt hat:
«Der Fall oder Todfall war eine von den Erben eines verstorbenen Lehenbauern dem Grundherrn zu entrichtende Abgabe in Form eines fixierten Anteils am Nachlass.»
«Während der herrschaftliche Anspruch beim Fall nur Einzelstücke betraf, erstreckte er sich beim Lass auf die ganze Fahrhabe oder einen festen Teil derselben (ein oder zwei Drittel, die Hälfte usw.). Mit Fäll und Gläss war der gesamte Nachlass gemeint.»
Diese Abgabe konnte also für Hinterbliebene durchaus existenzbedrohende Ausmasse annehmen. Daher auch die drastische Formulierung, «Witwen und Waisen» würden «schändlich wider Gott und Ehre beraubt» in Art. 11 der Zwölf Artikel der Bauernschaft in Schwaben.
«Die gesamte Fahrhabe beanspruchte der Herr bei Kinderlosen und Ledigen, grosse Anteile (die Hälfte bis zwei Drittel) bei Kinderlosen mit überlebender Witwe und bei Männern in Ungenossenehe.»
Damit sind wir bei der Ungnossame, der Heirat ausserhalb des Kreise der Herrschaft. Bruno Schmid erklärt diese aus dem Frühmittelalter stammende Einrichtung im Artikel Ehegenossame (Historisches Lexikon der Schweiz) wie folgt:
«Die Ehegenossame ist eine Folge der mittelalterlichen Eigenverfassung (Leibeigenschaft, Grundherrschaft). Diese war auf Eheschliessungen innerhalb eines Verbandes von Eigenleuten angewiesen, denn solche sicherten den Fortbestand des Verbandes und somit die Existenz der Herrschaft. Heirateten Eigenleute ausserhalb des Verbandes und schlossen sogenannte ungenossame Ehen, gefährdete dies den Verband. Zugleich entstanden rechtliche Probleme, da die Ehepartner einem jeweils anderen Recht unterstanden. Ungenossame Ehen wurden deshalb von den Herrschaften verboten. Andererseits konnten sie aber, da sie kirchlich geschlossen wurden, nicht für ungültig erklärt werden. Die Herrschaften versuchten sie zu unterdrücken, indem sie solche Ehen mit Vermögensstrafen belegten oder aber den einheiratenden Ehepartner zwangen, in den Verband der Eigenleute einzutreten. [...] Mit der im Spätmittelalter zunehmenden Mobilität häuften sich die ungenossamen Ehen.»
Das Konzept war schlicht nicht mehr zeitgemäss. In dieser Umbruchphase nahm auch die Geldwirtschaft ganz generell überhand. Womit wir wieder zu Dublers Artikel wechseln:
«Als die Leibeigenschaft auch für Landbewohner in Geld ablösbar wurde, änderte sich der Charakter des Falls.» Gegen Ende des Mittelalters «wurden Personallasten als Reallasten auf das bäuerliche Lehengut umgelegt. Der Fall wurde somit zu einer am Hof haftenden Geld- oder Naturalsteuer, die nun unterschiedslos alle traf, die irgendwelches Lehengut innehatten – Bauern, Tauner, Heimarbeiter und Handwerker, Freie und Unfreie.»
«Damit verlor der Fall seine ursprüngliche Bedeutung und wurde zu einer Art Erbschaftssteuer, westlich der Reuss-Napflinie schon im 15. Jahrhundert, östlich davon im Territorium Zürichs im 16. Jahrhundert. Wie gegen andere Steuern erhob sich gegen den Fall Widerstand.»
Mit diesem letzten Satz ist auch erklärt, weshalb sich die Zürcher Bauernschaft geschlossen gegen diese Fall und Gläss gewehrt hat.
Der dritte Pfennig
Worum es sich dabei handelte, das zeigt eine Recherche im Deutschen Rechtswörterbuch (DRW), Lemma Pfennig. Eine Fundstelle aus dem Zürcher Herrschaftsbereich von 1439, abgedruckt in Grimms Weisthümern, gibt einen deutlichen Eindruck:
«weri aber daz jemand under inen lägint frigi gueter oder manlehen man koͮffti oder verkoffti die, dem hab dehein herr nach ze fragen vmb den dritten pfenning» (GrW. I 16)
Bei diesem Dritten Pfennig handelt es sich somit um eine Art Handänderungssteuer bei Verkauf und Vererbung von Vogteigütern (z.B. bei Grundstücken und Häusern), wenn nicht die Besthaupt-Klausel zur Anwendung kam. Jeder dritte Pfennig aus dem Erlös musste also an den Lehensherrn abgeführt werden. Kein Wunder empfanden diejenigen Untertanen, die nicht das Glück hatten, auf frei ledig Eigen zu sitzen, solche Abgaben als erdrückend und verlangten ihre Abschaffung.
Die Kyburger Beschwerdeartikel, Mai 1525
Nachstehend die im vorangehenden WeiachBlog-Beitrag bereits gebrachten Artikel die auch die Vertreter des Neuamts mitunterzeichnet hatten (in der Fassung Pfr. Kilchspergers), ergänzt mit Querverweisen zu den Grüninger Forderungen.
1.) Abschaffung der Leibeigenschaft, (keinen Herrn, als Gott & als die weltl. Obrigkeit nur die Herren von Zürich) [Entspricht Grüningen Pt. 2]
2.) Abschaffung von «fal, gläss, ungnossami, lib- und roubstüren», aller andern Zehnden als [d.h. ausser] Korn, Wein, Haber. [Entspricht Grüningen Pt. 6 und Pt. 18; zu roubstür vgl. unten]
3.) Freien Fischfang, jedoch bloss mit Hand, Angel, Storbären. [Storrbēr(eⁿ) Id. 4,1457: Netz, mit dem die Fische zugleich aufgestört und
gefangen werden; Vgl. Pt. 7 unten; entspricht teilw. Grüningen Pt. 16]
4.) Abschaffung von Zollerhöhung & jeglichem Zoll auf Eisen, «damit man das erdrich bouwt». [Vgl. Grüningen Pt. 8. In dem Punkt waren die Forderungen wesentlich moderater als die im Zürcher Oberland]
5.) Abschaffung des Schuldverhafftes, wo Pfänder vorhanden. [Anlehnung an Grüningen Pt. 24]
6.) Säkularisierte Kloster- & Pfandgüter sollen in ihrem Ort belassen & dafür für die Armen & für anderweitige Gemeindezwecke verwendet
werden. [Entspricht Grüningen Pt. 14, jedoch mit expliziter Zweckbindung der Erlöse]
7.) Die Tiere im Wald & der Vogel in der Luft sollend frei sein. [Entspricht teilw. Grüningen Pt. 16, vgl. Pt. 3 zum Fischfang oben]
8.) Kein Verbot fremden Weines, noch Umgeld. [Damit wird auch klarer, was Grüningen Pt. 9 mit dem Tavernengeld gemeint sein könnte, nämlich eine Importabgabe]
9.) Kautionsgeld gestattet, ausser in «malefizisch sachen». [Entspricht Grüningen Pt. 24]
10.) Abschaffung des 3. Pfennigs auf vogtbaren Gütern. [Entspricht Grüningen Pt. 7]
11.) Gnade gegen Reisläufer. [Dieser Punkt fehlt im Grüninger Forderungskatalog!]
12.) Recht der Gemeinde zur Abberufung & Neuwahl, wo ein «pfarherr inen nit das wort Gottes verkündte, wie sich gepürt». [Entspricht Grüningen Pt. 27]
13.) Aufgehobene Jahrzeiten & Stiftungen sollen ihren Gebern oder Erben zurück erstattet & wo solche nicht mehr vorhanden, den Armen in jeder Kilchhöri zugewendet
werden. [Entspricht Grüningen Pt. 15, jedoch mit expliziter Zweckbindung herrenloser Vermögen]
14.) Kein Vogtheu, Holzgeld, Vogtkorn & Futterhaber, noch Auf- und Abgangskosten der Vögte. [Teilweise in Grüningen Pt. 11 sowie Pt. 20]
15.) Uneinigkeit, die in den 4 Wänden gütlich abgemacht wird, soll nicht gebüsst werden. [Entspricht Grüningen Pt. 26]
16.) Ablösbarkeit der «ewigen Guldenzinse / Mütt-Kerne». [Entspricht Grüningen Pt. 19]
17.) Vergantungen v. Gütern wegen Zinsen nur am Ort der Liegenschaft. [Dieser Punkt fehlt im Grüninger Forderungskatalog!]
Was sind Roubstüren?
Einmal abgesehen davon, dass Libertäre heutigen Tages jede Art von Steuer als Raub einstufen, gehen wir hier der Bedeutung im Spätmittelalter nach. Das Deutsche Rechtswörterbuch (DRW) führt dazu ein Lemma. Und in einer der Belegstellen wird das Hofrecht des Dinghoffs Brütten im Kanton Zürich referenziert, wo es heisst:
«so gitt man jaͤrlich einem vogt 33 ℔ ₰ ze einer stûr ... und ist kein gesetzte stûr nit, es ist ein rechte roubstûr: die gitt man im darum, das er sol schyrmen minen herren [die Abtei Einsiedeln]... und sine armen lút» (14./15. Jh. SSRQ ZH AF I/2 S. 148).
In der Fussnote 1 an genannter Stelle der Rechtsquellensammlung vermerkt Hoppeler: «Roubstür, vom Ertrag (roub) der Güter. Vgl. P. Schweizer, Geschichte der Habsburg. Vogtsteuern (J B Schw. G. VIII), S. 159.»
Schlussbetrachtung
Leuzingers Artikel im Schweizer Monat führt folgenden Lead: «Vor 500 Jahren lehnten sich Untertanen in der Schweiz und Deutschland gegen die Obrigkeit auf. Sie waren Pioniere der Menschenrechte.» Stimmt das? Aus heutiger Warte mag man das so sehen. Eigentlich hat die Bauernschaft aber lediglich versucht, ihre althergebrachten Rechte wiederzuerlangen, wie sie freien Bauern auch damals noch weitgehend zustand. Das geht aus den Forderungen deutlich hervor. Die drehen sich nämlich primär um wirtschaftliche Selbstbestimmung. Frÿheit eben (vgl. WeiachBlog Nr. 2221).
Die Menschenrechte, um die es da ging, waren die klassischen Abwehrrechte gegen Ein- und Übergriffe obrigkeitlicher Art, ob es sich nun um einen Lehensherrn oder einen Landesherr nach dem in der Frühen Neuzeit aufkommenden neuen Territorialstaatsprinzip handelt.
Letztlich waren die Aufständischen nicht erfolgreich. Abgesehen von der persönlichen Freiheit (Abschaffung der Leibeigenschaft) erhielten sie die entscheidenden wirtschaftlichen und politischen Freiheiten eben gerade nicht. Die enthielt ihnen eine mit allen verhandlungstaktischen Wassern gewaschene Gruppe in der Hauptstadt vor. Und betrachtete sie bis weit ins 19. Jahrhundert als ihr alleiniges Vorrecht.
Quellen und Literatur
- Anfrage an Konstaffel und Zünfte sowie die Gemeinden der Landschaft betreffend Bauernbewegung einschliesslich Antworten und Beschwerdeartikel der Landbevölkerung. Enthält neben der Anfrage selbst auch Antworten von neun Gemeinden, die Beschwerdeartikel der Landschaft sowie Stellungnahmen und Mandate des Rates. Die Beschwerdeartikel der Landvogtei Grüningen sind auf den 25. April zu datieren, das Ratsmandat betreffend die Zehnten vom 1. Juli 1525. Signatur: StAZH A 95.1, Nr. 6. Teiledition: Egli, Actensammlung, Nr. 742.
- Artigkel, so die uß der graffschaft Kyburg, herschafft Eglisow, Andelfingen, Neuw Ampt und Rümlang habent angebracht. Aufzeichnung, Heft (4 Blätter); ca. 02.05.1525 (Datierung gemäss Egli, Actensammlung, Nr. 703). Signatur: StAZH A 95.1, Nr. 6.1.
- Heinrich Bullingers Reformationsgeschichte nach dem Autographon herausgegeben auf Veranstaltung der vaterländisch-historischen Gesellschaft in Zürich von J.J. Hottinger und H.H. Vögeli. 3 Bände. Druck und Verlag von Ch. Beyel. Frauenfeld 1838-1840. [Autor: Heinrich Bullinger (1504-1575)]. Nr. 131, 149-155. – S. I, 267-268. Signatur: ETH-Bibliothek Zürich, Rar 27347.
- Vogel, F.: Die alten Chroniken oder Denkwürdigkeiten der Stadt und Landschaft Zürich von den ältesten Zeiten bis 1820. Druck und Verlag von Friedrich Schulthess, Zürich 1845 – S. 549-551. [Lemma Politische Gegebenheiten. Kapitel Religiös-politischer Aufstand im Jahr 1525]
Nabholz, H.: Die Bauernbewegung in der Ostschweiz 1524-1525. Phil. Diss., Universität Zürich 1898 – S. 47-63. URL:
E-Rara.ch 104569.
Dubler, A.-M.:
Fall. In: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 3. Juli 2008.- Schmid, B.: Ehegenossame. In: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 27.01.2010.
- Suter, M.: Die Zürcher Landschaft und das städtische Regiment. Kapitel 2.3.4 in: ders. et al.: Zürich (Kanton). Artikel im Historischen Lexikon der Schweiz (e-HLS), 24. August 2017.
- von Mayenburg, D.: Gemeiner Mann und Gemeines Recht. Die zwölf Artikel und das Recht des ländlichen Raums im Zeitalter des Bauernkriegs. In: Studien zur europäischen Rechtsgeschichte. 1. Auflage. Bd. 311. Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 2017, S. 365–372.
- Leuzinger, L.: Aufmüpfige Bauern haben uns Freiheit gebracht. (Kolumne: Leuzingers Liste). In: Schweizer Monat (Online-Ausgabe), 28. April 2025.