Mittwoch, 14. Mai 2025

Legen von Geschossröhren im Wald, 1861

Vor etwas mehr als vier Jahren war in WeiachBlog Nr. 1648 von einer gefährlichen Jagdmethode im Weiacher Wald die Rede. Damals habe ich noch gemutmasst, da habe einer seine Schusswaffe mit einem Stolperdraht oder etwas dergleichen kombiniert.

Wenn man nun allerdings die NZZ-Meldung konsultiert, aus der die innerstädtische Konkurrenz von der Freitagszeitung die Nachricht entnommen haben könnte, dann ergibt sich da ein anderes Bild. Eines, das eher den Eindruck des Einsatzes einer improvisierten Schiessvorrichtung ergibt, als dass da ein von einem Büchsenmacher gefertigtes Gewehr für diesen Zweck missbraucht worden wäre:

«Bei Weyach ist durch das Legen von Geschoßröhren im Walde zum Erlegen von Gewild ein Unglücksfall vorgekommen, indem ein dortiger Bürger bei Besichtigung seines Holzes den verborgenen Schuß entladen und einen starken Schrotschuß in den Unterschenkel erhalten hat. Der Urheber ist entdeckt.» (Neue Zürcher Zeitung, Nummer 20, 20. Januar 1861, S. 73)

Tags darauf hat man diese Meldung mit Ausnahme des letzten Satzes 1:1 in der Berner Zeitung lesen können:

«Bei Weyach ist durch das Legen von Geschoßröhren im Walde zum Erlegen von Gewild ein Unglücksfall vorgekommen, indem ein dortiger Bürger bei Besichtigung seines Holzes den verborgenen Schuß entladen und einen starken Schrotschuß in den Unterschenkel erhalten hat.» (Berner-Zeitung, Band 17, Nummer 17, 21. Januar 1861, S. 2)

Man konnte sich als Waldeigentümer also nicht nur mittels Holzereiarbeiten in Lebensgefahr bringen. Diese Art der Gefährdung war aber offensichtlich auch damals ausreichend ungewöhnlich, um gleich in mindestens drei grossen Zeitungen erwähnt zu werden. 

Literatur

  • Brandenberger, U.: Gefährliche Jagdmethode im Weyacher Wald. WeiachBlog Nr. 1648, 30. April 2021.

Samstag, 10. Mai 2025

Ist ein Jagdhund steuerlich ein teurerer Hund?

Heute vor 125 Jahren befasste sich der Regierungsrat des Kantons Zürich mit einer sozusagen innerweiacherischen Auseinandersetzung.

Die Ursache für diesen Streit lag in einem nicht ausreichend deutlich formulierten Gesetzesartikel. 

Zum Sachverhalt sehen wir uns die Erwägungen an, die die Finanzdirektion ihrem Antrag vorangestellt hatte: 

«A. Herr Gemeindratspräsident J. Nauer in Weiach, als vom Gemeindrat Weiach bestellter Bezüger für die Hundesteuer, hatte den Herrn Adolf Baltisser, Jäger, in Weiach, zur Versteuerung eines Jagdhundes angehalten und die Bezahlung der Taxe für das ganze Jahr 1899 von ihm erwirkt.

B. Unterm 28. November 1899 beschwerte sich Herr Alexander Baltisser, Vater des obgenannten Adolf Baltisser, beim Statthalteramt Dielsdorf gegen die Erhebung der vollen Taxe für den betreffenden Hund, weil derselbe erst im August 1899 gekauft worden und deshalb nur die halbe Abgabe zu entrichten sei.

Das Statthalteramt erklärte die Beschwerde als begründet und sprach dem Beschwerdeführer den Anspruch auf Rückvergütung der Hälfte der bezogenen Steuer zu.

C. Gegen diesen Entscheid erhob Herr Präsident Nauer Rekurs an den Regierungsrat unter Berufung auf § 4 des Gesetzes betreffend das Halten von Hunden und deren Besteuerung, und ein Kreisschreiben des Regierungsrates vom 16. September 1897. Im letztern werde ausdrücklich bestimmt, daß bei Hunden, welche zur Jagd verwendet werden, von einer Ermäßigung der Abgabe überhaupt keine Rede sein könne.»

Was wollte der Gesetzgeber hier?

Man sieht, dass sich Präsident Jakob Nauer aus der unteren Chälen von einer statthalteramtlichen Entscheidung nicht so einfach beeindrucken liess, vor allem wenn es darum ging, eine Grundsatzfrage klären zu lassen. Der oben angeführte § 4 lautete nämlich wie folgt:

Abs. 1: «Der Gemeindrath ist berechtigt, die Abgabe für einen Hund, welcher zum Schutze eines einsam gelegenen Hofes oder Hauses oder von einer unvermöglichen Haushaltung für den Erwerb gehalten und nicht für die Jagd verwendet wird, auf gestelltes Gesuch hin um die Hälfte zu ermässigen.»

Abs. 2: «Für Hunde, welche von Blinden als Führer gehalten werden, ist keine Abgabe zu bezahlen.»

Adolf Baltissers Hund war eindeutig ein Jagdhund. Er diente weder zur Bewachung eines abgelegenen Anwesens, noch war er als Arbeitshund einzustufen (z.B. zum Ziehen eines Milchwägelis einer Familie, die sich kein Pferd leisten konnte). 

Ein Kreisschreiben kompliziert die Jagdhundfrage zusätzlich

Auch das von Nauer ins Feld geführte Kreisschreiben kann man für sich genommen als eindeutige Auslegung obigen Paragraphs 4 verstehen. Hier der volle Wortlaut in seiner ganzen amtlichen Herrlichkeit:

«Es hat sich seit Inkrafttreten des Gesetzes betreffend das Halten von Hunden und deren Besteuerung vom 20. August 1893 gezeigt, daß dessen § 4 Absatz 1 (betreffend Ermäßigung der Abgabe auf die Hälfte) von den Behörden, namentlich von den Gemeinderäten eine ganz ungleiche Auslegung und Anwendung gefunden hat. Auf die Anfrage eines Gemeindrates hin erließ der Regierungsrat schon 1894 interpretirende Bestimmungen zu diesem Paragraphen, durch welche der Begriff eines einsam gelegenen Hofes präzisirt und zugleich ausgesprochen wurde, daß nach diesem § 4 eine Ermäßigung der Abgabe für Hunde, welche zur Jagd verwendet werden, nicht eintreten dürfe.

In der Folgezeit haben sich jedoch die Beschwerden an die Statthalterämter gegen Verfügungen der Gemeindräte auf Grund dieses Paragraphen, Anfragen und Rekurse an die Finanzdirektion und an den Regierungsrat gemehrt. 

Diese Reklamationen beziehen sich namentlich auf die Praxis einzelner Gemeindräte, überhaupt die in § 4 vorgesehene Ermäßigung nicht mehr eintreten zu lassen. Es wird dieses Vorgehen damit begründet, daß bei der unbestimmten Ausdrucksweise des Gesetzes es schwer halte, zu unterscheiden, in welchem Falle die Abgabenermäßigung einzutreten habe. Da das Gesetz die Gemeindräte zu dieser Ermäßigung nur berechtige, nicht aber verpflichte, so halten sich dieselben für befugt, die Reduktion in allen Fällen zu versagen und dadurch der stetigen Zunahme der Zahl der Hunde zu begegnen.

Ferner geht aus diesen Anfragen hervor, daß das Gesetz eine Bestimmung darüber vermissen lasse, an welche Instanz sich die Abgabepflichtigen mit einem Rekurse gegen Verfügungen der Gemeindräte auf Grund von § 4 zu wenden haben.

Nach Einsicht eines Antrages der Finanzdirektion beschließt der Regierungsrat:

[..] Es wird an die Gemeinderäte und Statthalterämter folgendes Kreisschreiben erlassen:

Das Vorgehen einzelner Gemeindräte, in allen Fällen die in § 4 Absatz 1 des Gesetzes betreffend das Halten von Hunden und deren Besteuerung vom 20. August 1893 vorgesehene Ermässigung zu verweigern, scheint nicht der Ansicht des Gesetzes zu entsprechen.

Wenn auch das Gesetz sagt, der Gemeindrat sei „berechtigt“, unter gewissen Voraussetzungen auf gestelltes Gesuch hin die Abgabe für einen Hund auf die Hälfte zu ermässigen, so kann dies nur die Meinung haben, der Gemeindrat dürfe die in § 2 Absatz 1 des zitirten Gesetzes festgesetzte Taxe reduziren, wenn ein Abgabenpflichtiger das Vorhandensein der in § 4 Absatz 1 bezeichneten tatsächlichen Verhältnisse nachweist; denn es hätte keinen Sinn, einem Hundebesitzer die Befugnis einzuräumen, ein Gesuch im Sinne des § 4 an den Gemeindrat zu stellen, wenn der Gemeindrat ohne nähere Untersuchung das Gesuch einfach abweisen könnte.

Eine allgemein verbindliche Vorschrift zu geben, wann die Voraussetzungen des § 4 Absatz 1 vorliegen, erscheint angesichts der Verschiedenartigkeit der Terrainverhältnisse und aller übrigen zu berücksichtigenden Faktoren nicht tunlich, da eine solche Vorschrift nicht für alle Fälle zutreffen könnte. Es muss deshalb den Gemeindräten überlassen bleiben, nach Prüfung der Sachlage auf gestelltes Gesuch hin nach Ermessen die Ermässigung eintreten zu lassen oder zu verweigern – unter Beachtung der vom Regierungsrate unterm 27. März 1894 aufgestellten Normen, welche folgenden Wortlaut haben:

„1. Dem § 4 ist zu entnehmen, dass, wenn Hunde zur Jagd verwendet werden, von einer Ermässigung der Abgabe überhaupt keine Rede sein kann.

2. Als „Hof“ ist nur ein vereinzelt stehendes Wohnhaus mit oder ohne zugehörige Gebäude anzusehen, allfällig ein // [p. 588] Oekonomiegebäude allein, und die Ermässigung der Abgabe ist blos statthaft, wenn der betreffende Hof nicht von mehreren Familien bewohnt ist.

3. Einsam gelegen ist ein solcher Hof nur, wenn infolge der Entfernung oder der Bodenverhältnisse das nächstgelegene Wohnhaus als ausser Rufweite befindlich anzusehen ist.“

Wir ergänzen dieselben dahin, dass die Reduktion der Abgabe nur dann gewährt werden soll, wenn solche Hunde unausgesetzt der Bewachung des Hauses, Hofes, Fabrikgebäudes u. s. w. dienen, also auch während des Tages nicht freien Lauf haben und nicht zur Begleitung von Personen oder als Zugtiere verwendet werden.

Als erste Rekursinstanz gegen Verfügungen der Gemeindräte betreffend Abgabe für Hunde werden die Statthalterämter bezeichnet; gegen ihren Entscheid kann innerhalb 14 Tagen an den Regierungsrat rekurrirt werden.»

Wenn Sie nun den eingangs aufgezeigten Streit zwischen Baltisser senior und Präsident Nauer beurteilen und dazu das obige Meisterwerk kanzleilicher Formulierungskunst verstanden haben, ohne es mehrmals durchgelesen zu haben, dann darf Ihnen gratuliert werden.

Jedenfalls ist es dem damaligen Weiacher Präsidenten nicht vorzuwerfen, wenn er nach sorgfältiger Lektüre zum Schluss kam, er habe überhaupt keine andere Wahl, als den vollen Betrag einzufordern, zumal der Entscheid von 1894 ja explizit festhielt, wenn Hunde zur Jagd verwendet würden, könne von einer Ermässigung der Abgabe überhaupt keine Rede sein.

Regierungsrat weist Rekurs Nauer ab

Und trotzdem blitzte Nauer auch bei der Regierung ab. Die Finanzdirektion wies nämlich darauf hin, dass das Gesetz über dem Kreisschreiben stehe, welches überdies lediglich den Paragraphen 4 präzisiere, andere Gesetzesbestimmungen jedoch nicht tangiere:

«Der vom Rekurrenten angezogene § 4 des Gesetzes betreffend das Halten von Hunden und deren Besteuerung und das hierauf bezügliche Kreisschreiben des Regierungsrates regeln Verhältnisse, welche mit der vorliegenden Streitfrage in keinem Zusammenhange stehen.

Maßgebend für die Beurteilung der Steuerpflicht ist lediglich § 9 Abs. 1 leg. cit., wonach für Hunde, welche nach dem 1. Juli neu angeschafft worden sind, wie dies hier unbestrittenermaßen der Fall ist, blos die halbe Jahresabgabe bezahlt werden muß.»

Dieser § 9 (Hundegesetz 1893) lautet:  

Abs. 1: «Wer nach der ordentlichen Zeichenaustheilung einen noch nicht bezeichneten Hund neu anschafft, hat denselben gegen Entrichtung der vollen Abgabe binnen vier Wochen bei dem vom Gemeindrathe bezeichneten Einzüger und bei dem Zeichenaustheiler einschreiben und bezeichnen zu lassen.»

Abs. 2: «Von einem nach dem 1. Juli neu angeschafften oder von aussen her in den Kanton gebrachten Hund ist von der in § 3 bestimmten Abgabe nur die Hälfte zu entrichten.» 

Abs. 3: «In gleicher Weise ist zu verfahren mit Bezug auf Hunde, welche erst nach der ordentlichen Zeichenaustheilung ein halbes Jahr alt werden.»

Es galt also § 9 Abs. 2 und demzufolge musste Nauer dem Baltisser junior die Hälfte seiner Hundeabgabe pro 1899 zurückzahlen.

Für einen Hund wurde damals über 50 % mehr Abgabe kassiert

Dass der Staat die Hundehalter zumindest für den ersten Hund kräftiger als heute zur Kasse gebeten hat, wird schnell klar, wenn man den § 3 (Hundegesetz 1893) liest...

«Die jährlich zu entrichtende Abgabe für einen Hund beträgt 16 Franken. Für jeden weiteren Hund, welcher in derselben Haushaltung gehalten wird, muss überdies ein Zuschlag von 4 Franken bezahlt werden.»

... und dann mittels Swistoval.ch eine Umrechnung in heutige Geldwerte vornimmt.

16 Franken von 1899 entsprechen im Jahr 2009 nach dem Konsumentenpreisindex (KPI) 197 CHF und nach dem Historischen Lohnindex (HLI) 713 CHF.

Umgerechnet auf den heutigen Stand würde sich die Hundeabgabe vor 125 Jahren damit auf jährlich mindestens 211 Franken belaufen. 

Zum Vergleich: Weiach zieht aktuell für einen Hund lediglich 130 Franken ein. Für weitere Hunde gibt's dann allerdings keinen Rabatt.

Quellen

  • Kantonsrat Zürich: Gesetz betreffend das Halten von Hunden und deren Besteuerung vom 20. August 1893. Signatur: OS 23 (S. 247-250).
  • Regierungsrat des Kantons Zürich: Hunde. Kreisschreiben vom 16. September 1897. Signatur: StAZH MM 3.11 RRB 1897/1750.
  • Regierungsrat des Kantons Zürich: Hunde. Regierungsratsbeschluss vom 10. Mai 1900. Signatur: StAZH MM 3.14 RRB 1900/0817.

Freitag, 9. Mai 2025

Schweizweites Glockengeläut wurde vom Bundesrat angeregt

Die bedingungslose Kapitulation Deutschlands wurde am 7. Mai 1945 um 02:41 Uhr MEZ im Hauptquartier der Alliierten (Supreme Headquarters Allied Expeditionary Force, SHAEF) in Reims, Frankreich, durch Generaloberst Jodl im Namen des Oberkommandos der Wehrmacht unterzeichnet.

Eine zweite Unterzeichnung, die oft als formelle Bestätigung gilt, fand am 8. Mai 1945 um 23:01 Uhr MEZ in Berlin-Karlshorst statt. Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel und die Oberbefehlshaber der Kriegsmarine und der Luftwaffe setzten dort in Anwesenheit sowjetischer, britischer, amerikanischer und französischer Offiziere ihre Unterschrift auf die Urkunde. Auf exakt diese Minute war der in Reims vereinbarte Waffenstillstand festgesetzt worden und trat damit offiziell in Kraft.

Wieso feiert Russland am 9. Mai und der Westen am 8. Mai?

Da in Deutschland die Sommerzeit galt, ist dieser Unterzeichnungszeitpunkt eigentlich der 9. Mai um 00:01 Uhr MESZ. In Washington D.C. und London schrieb man noch den 8. Mai, den man daher den Victory in Europe Day (VE Day) nennt. Dass in Deutschland des Kriegsendes dennoch am 8. Mai gedacht wird, das hat wohl mit der Westbindung zu tun. 

In Moskau hingegen war zu diesem Zeitpunkt wie im gerade kapitulierenden Dritten Reich ebenfalls bereits der 9. Mai, was auch erklärt, weshalb die Russische Föderation ihre Siegesparade zum 80. Jahrestag heute (und nicht gestern) durchführt. 

Die Schweizer Glocken läuteten am 8. Mai

In der Schweiz gilt der 8. Mai als Tag des Kriegsendes. Warum, das erklärt eine Tweetserie des Staatsarchivs des Kantons Zürich, die vor 5 Jahren publiziert wurde: 

«#75jahrekriegsende im Kt. Zürich: Am 8. Mai 1945 trifft um 10:41 Uhr im Kaspar-Escher-Haus das Telegramm ein mit der offiziellen Nachricht vom Kriegsende und Anordnung Glockengeläut um 20 Uhr (StAZH N 619.6). Der Regierungsrat lässt die Glocken bereits um 11 Uhr läuten. #histCH» (Tweet; Original nicht mehr abrufbar)


Zur Feier des Tages machte die Bundesverwaltung am Nachmittag dieses 8. Mai 1945 den Laden dicht. Und die Zürcher liessen gleich zweimal die Glocken läuten. Einmal kurz vor Mittag und einmal – wie bundesrätlich angeregt – abends um acht Uhr.

Wie die St. Galler den Bundesrat auf die Spur brachten

Diese Entwicklung kam nicht aus heiterem Himmel. Die Spatzen pfiffen es von den Dächern. Aber wann genau der Waffenstillstand sein würde, das wusste man natürlich genausowenig, wie man das heutzutage im Ukrainekrieg wissen kann.

Wie man sich vorbereitet hat, das zeigt ein weiterer Beitrag des StAZH auf: 
«#75jahrekriegsende im Kanton Zürich: Am 1. Mai 1945 regt der Bundesrat bei den Kantonen ein Glockengeläut an, sobald die Nachricht vom Kriegsende eintrifft. Am 3. Mai beschliesst der Regierungsrat in diesem Sinn und informiert die Gemeinden. (StAZH N 619.6) #kriegsende #histCh» (Tweet; Original nicht mehr abrufbar)


DER SCHWEIZERISCHE BUNDESRAT

Bern, den 1. Mai 1945.

An die Kantonsregierungen.

Getreue, liebe Eidgenossen,

Gegenwärtig erwartet die Welt jeden Augenblick die Nachricht vom Ende des Krieges, oder jedenfalls vom Abschluss eines Waffenstillstandes auf unserm Kontinent.

Im Hinblick auf dieses Ereignis hat die Regierung des Kantons St. Gallen soeben ein Kreisschreiten an die Kirchenverwaltung ihrer Pfarrgemeinden abgehen lassen, worin diese aufgefordert werden, bei diesem Anlass die Kirchenglocken läuten zu lassen. Dies soll das erste Dankgebet an den Allmächtigen sein dafür, dass er der Welt den langersehnten Frieden wiedergegeben hat, aber auch dafür, dass unser Land von Kriege verschont geblieben ist.

Wir beehren uns, Ihnen eine Kopie dieses Kreisschreibens zukommen zu lassen in der Annahme, dass es Ihnen vielleicht recht ist, von dessen Inhalt Kenntnis zu erhalten. Wir würden es begrüssen, wenn Sie sich dieser Initiative des Kantons St. Gallen anschliessen wollten und das Glockengeläute im ganzen Schweizerlande stattfände.

Wir werden die Kantonsregierungen telegraphisch vom Kriegsende benachrichtigen, sobald uns die offizielle Kunde hiervon zur Kenntnis gekommen sein wird.

Ausserdem steht der Bundesrat mit den Kirchen unseres Landes in Verbindung um die Veranstaltung eines Gottesdienstes am ersten Sonntag nach dem Abbruch der Feindseligkeiten in die Wege zu leiten, - Das Nähere werden Sie zweifellos von den zuständigen kirchlichen Behörden vernehmen.

Wir benützen auch diesen Anlass, um Sie, getreue, liebe Eidgenossen samt uns, dem Machtschutze Gottes zu empfehlen.

IM NAMEN DES BUNDESRATES:

Der Bundespräsident:
[sig.] von Steiger

Der Bundeskanzler:
[sig.] Leimgruber

1 Beilage.

Die Direktion des Innern bereitete den Regierungsratbeschluss vor

Wie im StAZH-Tweet erwähnt, ging die Zürcher Regierung daraufhin ans Werk, beauftragte die Direktion des Innern einen Antrag zu verfassen (Abbildung der Vorlage unten) und verabschiedete diesen am 3. Mai:


Gestützt auf Kreisschreiben des Bundesrates vom 1. und 2. Mai 1945 an die Kantonsregierungen und auf Antrag der Direktionen des Innern und der Polizei beschließt der Regierungsrat:

I. Kreisschreiben an die Gemeinderäte des Kantons Zürich:

Die Welt erwartet jeden Augenblick die Nachricht vom Ende des europäischen Krieges. Der Bundesrat wird die Kantonsregierungen telegrafisch benachrichtigen, sobald er die offizielle Meldung vom Kriegsende besitzt.

Der Regierungsrat hat heute beschlossen, die Kunde vom Kriegsende sofort telegrafisch oder telefonisch an die Gemeinden weiterzugeben und dafür zu sorgen, daß dieses einmalige weltbewegende Geschehen durch ein halbstündiges Glockengeläute gefeiert wird. Jeder von uns wird in dieser Stunde dem Allmächtigen danken, daß er unser Heimatland vom Kriege verschont und der Welt den langersehnten Frieden wiedergegeben hat.

Wir ersuchen die Gemeinderäte nach Eintreffen der Nachricht vom Kriegsende, nach unsern telegrafischen oder telefonischen Weisungen, während einer halben Stunde die Glocken sämtlicher in ihrer Gemeinde liegenden Kirchen läuten zu lassen.

Der Bundesrat hält dafür, daß eine Beflaggung von Gebäuden und Kirchen zur Feier des Kriegsendes unterbleiben sollte, da es sich für das Schweizervolk nicht um eine Siegesfeier handelt. Wir teilen diese Auffassung und geben sie als Wunsch an die Gemeinden weiter. Wir sind überzeugt, daß das Zürchervolk in seiner großen Mehrheit die Feier des Tages des Kriegsendes würdig zu begehen wünscht und erwarten daher auch, daß Gesuchen um Verlängerung der Polizeistunde oder um Tanzbewilligungen, wie sie bereits vereinzelt gestellt wurden, an diesem Tage nicht entsprochen werde.

II. Zuschrift an den Kirchenrat des Kantons Zürich, sowie an die Kirchenpflegen der Christkatholischen Kirchgemeinde Zürich und der römisch-katholischen Kirchgemeinden Dietikon, Winterthur und Rheinau:

Mit Kreisschreiben vom 2. Mai 1945 hat der Bundesrat den Kantonsregierungen mitgeteilt, am Tage der offiziellen Nachricht vom Kriegsende sollten in der ganzen Schweiz zur gleichen Zeit, d. h. von 20 Uhr bis 20.15 Uhr, die Glocken geläutet werden.

Außerdem steht der Bundesrat mit den Kirchen unseres Landes in Verbindung, um die Veranstaltung eines Dankgottesdienstes am ersten Sonntag nach dem Abbruch der Feindseligkeiten in die Wege zu leiten.

Der Regierungsrat hat heute beschlossen, die offizielle Kunde vom Kriegsende, die den Kantonsregierungen vom Bundesrat telegrafisch übermittelt wird, sofort telegrafisch oder telefonisch an die Gemeinden weiterzugeben und die Gemeinderäte einzuladen, dafür zu sorgen, daß unsere Bevölkerung durch ein halbstündiges feierliches Glockengeläute von diesem einmaligen weltbewegenden Geschehen Kenntnis erhält.

Das vom Bundesrat gewünschte Abendgeläute von 20 Uhr bis 20.15 Uhr soll dadurch nicht ersetzt werden. Soweit uns bekannt ist, gedenken die Kirchgemeinden des Kantons Zürich am Abend des gleichen Tages einen Dankgottesdienst zu veranstalten, womit das auf 20 Uhr bis 20.15 Uhr angesetzte allgemeine Glockengeläute mit dem Einläuten dieses Gottesdienstes zusammenfallen würde. Der Regierungsrat begrüßt diese Anordnung und ersucht Sie, wenn immer möglich zu erreichen, daß auf diesem Wege in allen zürcherischen Gemeinden auch das Abendgeläute stattfindet.

III. Mitteilung an die Direktionen des Regierungsrates, sowie an die Staatskanzlei.


Eine halbe Stunde von Hand läuten. Kraftakt für den Frieden

Via den Gemeinderat oder den Kirchenrat haben dann auch der Weiacher Pfarrer und die Kirchenpflege davon erfahren, sodass sie ihren Sigristen Albert Erb-Saller hoffentlich frühzeitig instruieren konnten. Ob er sich für die doch recht strapaziöse Halbstunden-Aktion Unterstützung durch Dritte organisiert hat ist nicht bekannt, darf aber angenommen werden. Bislang ist zumindest dem Autor dieser Zeilen nicht bekannt, ob in Weiach nur abends um 20 Uhr oder auch schon um 11 Uhr geläutet wurde.

Auch Mina Moser (1911-2017), die älteste Weiacherin aller Zeiten, hat diesen Tag nie vergessen, wie sie dem Zürcher Unterländer in einem Interview erklärte:

«Am 8. Mai 1945», sagt sie, ohne auch nur einen Augenblick nachdenken zu müssen. «Wer das miterlebt hat, wird die Erleichterung bei dieser Nachricht nie vergessen.» Für sie war es damals eine besonders schöne Woche: Nur vier Tage später feierte sie Hochzeit.» (Kron 2008)

Die offizielle Schweiz feierte nicht

Die Blick-Journalistin Rebecca Wyss erläuterte vor fünf Jahren, was sich im Land auf den Strassen und in den Regierungsstuben dann abgespielt hat: «Ein Aufatmen ging auch durch die Schweiz. Kirchenglocken läuteten, Läden blieben «wegen Friedens geschlossen», der Unterricht fiel aus – überhaupt mochte kaum jemand an Arbeit denken. In den Städten wälzten sich Menschenmassen durch die Strassen, ein Meer von Alliierten-Fähnchen tat sich auf.» 

Und weiter: «In der Schweiz festete die Bevölkerung bis in die Nacht hinein. Dem Bundesrat gefiel das nicht», heisst es da. Er dürfte nicht gerade erfreut gewesen sein. Denn wie oben in den offiziellen Schreiben und Beschlüssen ausgeführt hielt es man es für angezeigt, sich als Neutraler eben nicht zu den Siegern zu stellen.

Quellen und Literatur
  • In der Klasse N 619 sind die Akten der Direktion des Innern des Jahres 1945 abgelegt. Das Dossier, in dem die StAZH-Mitarbeiter obiges Material gefunden haben, würde einen rein vom Titel her nicht auf Idee bringen, dort zu suchen: E Verschiedenes; F Stiftungen; G Statistisches Büro, Statistik; H Staatsarchiv; J Gebäudeversicherung, 1945; Signatur: StAZH N 619.6.
  • Friedensfeier. Beschluss des Regierungsrats des Kantons Zürich vom 3. Mai 1945. Signatur: StAZH MM 3.70 RRB 1945/1124.
  • Friedensfeier. Kreisschreiben des Bundesrates vom 2. Mai 1945 und Mitteilung des Regierungsrates betreffend Glockengeläute in allen Gemeinden am Tage der offiziellen Nachricht vom Kriegsende. Enthält nur: Regierungsratsbeschluss Nr. 1124/1945. Signatur: StAZH Z 42.9591.
  • Kron, B.: Als die US-Luftwaffe Weiach beschoss. In: Tages-Anzeiger, 21. August 2008  – S. 54 Unterland [Damals war der letzte Bund des TA regionalisiert].
  • Brandenberger, U. In memoriam Mina Moser-Nepfer, 12.3.1911-27.7.2017. WeiachBlog Nr. 1349, 31. August 2017.
  • Wyss, R.: Als die Schweiz aufatmen konnte. So endete der Zweite Weltkrieg bei uns. In: Blick Online, 5. Mai 2020 (mit Bildstrecke!).

Mittwoch, 7. Mai 2025

Seit wann war Weiach ein «befestigter Ort»?

Die Denkmalpflege-Expertin Erika Tanner hat 1998 ein Gutachten, sowie 2005 einen Buchbeitrag verfasst, die die Botschaft transportieren, in unserer Ortschaft sei bereits im 17. Jahrhundert (d.h. vor dem Bau der Kirche) eine fortifikatorisch ausgebaute Anlage vorhanden gewesen. Sie stützt sich dabei (laut ihren eigenen Quellenangaben) auf Walter Zollingers blaues Büchlein von 1972, die bekannte «Chronik Weiach» (Rückentitel, vgl. Literatur unten).

Dort drin liest man: «Im März 1656 kam wohl der «Badener Frieden» zustande, in welchem unter den beiden Konfessionen gegenseitiges Dulden erhandelt werden konnte. Das Misstrauen aber blieb bestehn. So war es vollauf berechtigt gewesen, dass man schon in früheren unsicheren Zeiten unseren Friedhof zu einem «militärischen Stützpunkt» ausgebaut hatte, mit starkem Mauerwerk und Schiessscharten.» (Zollinger 1972, S. 40)

Zuviel hineininterpretiert

Durch den Kontext kann leicht der Eindruck entstehen, der Autor beziehe sich mit den «früheren unsicheren Zeiten» auf Jahre vor dem 1. Villmergerkrieg (1656), wobei die gesamte Zeit der Spannungen ab der Reformation ins Blickfeld geraten kann. Und zwar auch dann, wenn Zollinger – wie anzunehmen ist – hier eigentlich die Zeit kurz vor und nach dem Bau der neuen Kirche (1706) im Auge hatte, die zum 2. Villmergerkrieg (1712) führte.

Das «wohl» drückt im Zusammenhang mit dem Frieden von Baden nicht eine Vermutung aus, sondern wird im Sinne eines «zwar» verwendet, wie der nachfolgende Satz (das Misstrauen aber sei geblieben) zeigt. 

Der dritte Satz dieses Zitats wurde in der 3. Auflage des Zollinger'schen Büchleins zwecks Präzisierung umformuliert: 

«So war es verständlich, dass der Friedhof beim Bau der neuen Kirche gleich zu einem «militärischen Stützpunkt» ausgebaut wurde, mit starkem Mauerwerk und Schiessscharten, die bis heute erhalten sind.» (Brandenberger 2003, S. 31)

In späteren Auflagen ist dieser dritte Satz ganz weggefallen, weil damit der falsche Eindruck erweckt werden kann, auch die Mauer zwischen Altem Gemeindehaus und Kirche sei ein Original aus der Bauzeit. Diese stammt jedoch aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, mutmasslich errichtet 1859, nach dem Bau des Alten Gemeindehauses im Jahre 1857.

Auf Friedrich Vogels Pfaden

Dändliker und viele weitere (in seinen ersten Arbeiten auch Brandenberger 2000, vgl. Weiacher Geschichte(n) Nr. 4) haben implizit ganz selbstverständlich angenommen, dass es sich bei dem «Pfarrhaus von 1591», ob angekauft oder neu gebaut, nur um das heutige Pfarrhaus im Bühl handeln könne, und ein Zusammenhang mit den innereidgenössischen Spannungen nach den konfessionellen Separatbündnissen bestehe (vgl. WeiachBlog Nr. 1466).

Ohne die drei entscheidenden Mosaiksteine, die uns heute zur Interpretation zur Verfügung stehen, namentlich 

1) die dendrochronologische Dachbalkendatierung auf 1564 samt Befund, dass sie nie anderswo verwendet worden sein dürften, 

2) der Pfarrhausbrand von 1658, sowie 

3) die mutmassliche Wirtschaftsstärke des Verkäufers des Pfarrhauses im Jahr 1591, der mit einem Wortführer der Weiacher Kleinbauern und Taglöhner (sog. Tauner) identifiziert wird

– ohne diese Kombination an Bausteinen (vgl. WeiachBlog Nr. 1464 für ausführlichere Darstellung) konnte man vor dem 1. Weltkrieg selbst dann in guten Treuen Dändliker folgen, das Pfarrhaus sei 1591 samt Befestigungsmauer gebaut worden, wenn man damals schon um den entsprechenden Ratsmanual-Eintrag wusste (Kauf eines Hauses im Jahre 1591, um dem Pfarrer einen Wohnsitz zu verschaffen; nach Weiach übermittelt in den 1930ern durch Staatsarchivar Largiadèr).

Befestigtes Pfarrhaus schon vor 1706

Berücksichtigt man die beiden oben diskutierten Umstände (Zollingers Textumfeld und Vogels Pfade) wird auch klarer, wie Erika Tanner in ihrem Gutachten zur Pfarrscheune bzw. ihr späterer Beitrag im 16. Bericht der Zürcher Denkmalpflege zu folgendem chronologischen Eintrag kam:

«1656: 1. Villmergerkrieg: Unruhen und Gefechte auch in der Umgebung des "befestigten Ortes" Weiach, denn die Zürcher Truppen besetzen u.a. die Ortschaften Rheinau, Kaiserstuhl, Zurzach und Klingnau. [...] (Zollinger, S. 41)» (Gutachten Nr. 19-1998, Erläuternder Bericht, Baugeschichte, S. 4-5)

Tanner erwähnt hier als Quelle ausschliesslich Zollinger, was den Eindruck erweckt, es handle sich beim Ausdruck «befestigter Ort» um ein Zitat. Ob sie diese Formulierung aus einem anderen Werk übernommen, aber nicht referenziert hat, ist zurzeit nicht eruierbar.

Die Autorin geht somit implizit davon aus, dass schon das heutige Pfarrhaus als solches (bereits vor der 1706 erfolgten Verlegung von Kirche und Friedhof ins Büel) ein fortifikatorisch gehärteter Ort war.

In der gedruckten Fassung gehen dann durch Verdichtung weitere wichtige Informationen verloren, die noch haben erahnen lassen, wie die Autoren zu ihrer Vermutung gekommen sind:

«1656  Im 1. Villmergerkrieg finden Unruhen und Gefechte auch in der Umgebung des "befestigten Ortes" Weiach statt.» (Zürcher Denkmalpflege, 16. Bericht 2001-2002. Zürich u. Egg 2005, S. 215)

Verstärkt wird der Eindruck des Lesers noch, indem Tanner (oder ihre Koautorenschaft) gleich im Anschluss ein «Vgl. 1712» setzt und in diesem weiter unten stehenden Eintrag (wo von der Einquartierung von Artillerie im 2. Villmergerkrieg die Rede ist) ausdrücklich der «befestigte Kirchhof Weiach» erwähnt wird. 

Vor 1706 war aber höchstens der Pfarrhof mit einer festen Mauer umgeben, d.h. Pfarrhaus und Pfarrscheune. Die Kirche und der Friedhof befanden sich bis dahin noch im Oberdorf.

Quellen und Literatur

  • Zollinger, W.: Weiach 1271-1971. Aus der Vergangenheit des Dorfes Weiach. Rückentitel "Chronik Weiach", 1. Aufl. Weiach 1972, S. 40-41.
  • Denkmalpflege-Kommission des Kantons Zürich (Hrsg.): Gutachten Nr. 19-1998. Weiach, Im Bühl, Pfarrscheune und Schopf Vers.-Nr. 243 sowie militärische Befestigungsmauer. Zürich, 6. März 1999.
  • Brandenberger, U.: Weiach – Aus der Geschichte eines Unterländer Dorfes. Dritte, überarbeitete Auflage von Walter Zollingers «Weiach. 1271-1971. Aus der Vergangenheit des Dorfes Weiach». Weiach 2003, S. 31.
  • E.T./T.M.: Weiach, Pfarrscheune. In: Zürcher Denkmalpflege (Hrsg.), 16. Bericht 2001-2002, Zürich/Egg 2005, S. 214-217.
  • Brandenberger, U.: Weiacher Pfarrhaus 1591 erbaut? Vier Gegenargumente. WeiachBlog Nr. 1464, 11. Januar 2020.
  • Brandenberger, U.: Das Weiacher Pfarrhaus in der gedruckten Literatur – ein Überblick. WeiachBlog Nr. 1466, 19. Januar 2020.

Dienstag, 6. Mai 2025

Dem «Altersreisli» 1960 zum 65. Geburtstag

Hinter den handschriftlich mit Bleistift paginierten Seiten seiner Jahreschronik-Typoskripte hat Walter Zollinger auch viele Einblattdrucke im Original beigefügt; besonders in den späteren Jahren seiner Serie (1952-1967). Sie wurden von den Buchbindern der Zentralbibliothek zwischen harten Einbanddeckeln fix eingebunden.

Auf diese Weise ist in der entsprechenden Chronik auch die Einladung zur Altersreise 1960 erhalten geblieben. Hier der Text, wie ihn der damalige Weiacher Seelsorger, Pfr. Ryhiner, in seine Schreibmaschine getippt hat in kursiver Schrift, dazwischen die WeiachBlog-Bemerkungen:

Wohin geht die Reise?

Weiach - Kaiserstuhl - Schneisingen - Wettingen - Dietikon - Bremgarten - Villmergen - Hochdorf - Luzern - Küssnacht - Arth - Zvieri-Pause im Hotel Lothenbach bei Walchwil - Zug - Zürich - Kloten - Weiach.

Also ein Mittagshalt in der Stadt Bremgarten, aus der Zwingli-Nachfolger und Reformator Bullinger stammt. Das Zvieri gemehmigte man sich an den Gestanden des Zugersees mit Blick auf die Rigi. Und dann noch der obligate Halt am Flughafen Zürich zwecks Plane spotting.

Wer ist teilnahmeberechtigt?

Alle Personen, die in diesem Jahr 65 oder mehr Jahre alt werden, und sofern noch Platz vorhanden ist, auch solche, welche noch nicht 65 Jahre zählen.

Der Anlass «Altersreise 1960» selber wäre somit dieses Jahr teilnahmeberechtigt geworden, da ins Pensionsalter eingetreten.

Um wieviel Uhr reisen wir ab?

in Weiach um 11.00 Uhr beim Schulhaus und an den gewohnten Orten.
in Kaiserstuhl um 11.05 Uhr beim Rest, z. Kreuz
in Fisibach um 11.10 Uhr beim Schulhaus

Was diese «gewohnten Orten» wohl gewesen sein mögen? Vor dem Gasthof zum Sternen und beim Bahnhof Weiach-Kaiserstuhl? Die Halte in Kaiserstuhl und Fisibach zeigen auch, dass die Reformierten aus diesen beiden Gemeinden damals auch durch den Weiacher Pfarrer betreut wurden.

Wann findet die Reise statt?

am 3. Mai, eventuell am 4. Mai oder sogar am 6. Mai 1960

Laut Zollinger (G-Ch Weiach 1960, S. 19) wurde es dann der «4. Mai: "Altersreisli", unter Obhut des Pfarramtes, nach Bremgarten-Luzern-Küssnacht-Walchwil-Zug .....». Die Wahl hing wohl direkt vom Wetterbericht ab.

Wo kann man sich erkundigen, ob die Reise stattfindet?

in Weiach bei Fam. Rüdlinger Tel. 94 22 87
                Pfarrhaus  94 22 44

in Kaiserstuhl bei Fam. Dätwyler 94 22 45

in Fisibach bei Fam. Hitz 94 23 17

Die Nummer des Pfarramts findet man – zweifach transformiert – noch heute im Telefonbuch: 044 858 22 44. Die Vorwahl war seit den 1940ern die 051. Die musste man aber nur wählen, wenn man von ausserhalb des Nummernkreises, z.B. von Winterthur (052) aus, nach Weiach telefonieren wollte.

Wieviel kostet die Reise samt Imbiss?

Für Personen, die dieses Jahr 65 und mehr Jahre alt werden Fr. 10.--
und für solche, die weniger als 65 sind Fr. 14.--

10 Franken von 1960 entsprechen im Jahr 2009 (neuere Daten hat Swistoval nicht) 41 Franken nach Konsumentenpreisindex (KPI), 74 Franken nach Historischem Lohnindex (HLI). Mit dem offiziellen LIK-Teuerungsrechner des Bundes kommt man übrigens auf 44 Franken für den KPI. Das Halbtagesreisli war nicht ganz billig.

Mit freundlichen Grüssen
W. Ryhiner, Pfr.

Nachstehend folgt der Talon, den Zollinger nicht genutzt hat. Mit Jahrgang 1896 war er noch nicht 65.

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ANMELDUNG

Name
Vorname
Wohnort

N.B.
Die Anmeldung erbitte ich bis spätestens Montag mittag, den 2. Mai 1960 an unseren Sigristen Hr. Alb. Erb-Saller.
[Für Albert Erb vgl. Weiacher Geschichte(n) Nr. 72]

Vom 19. April bis und mit 2. Mai mittag wende man sich bitte in allen kirchlichen Angelegenheiten an den Präsidenten der Kirchgemeinde Herrn Rud. Meierhofer.

Quelle

  • Zollinger, W.: Gemeinde Weiach. Chronik des Jahres 1960 – S. 19 u. 24 (unpag.). Typoskript in der Handschriftenabteilung der Zentralbibliothek Zürich. Signatur: G-Ch Weiach 1960.

Montag, 5. Mai 2025

Die Heilige Schrift als revolutionäres Kochbuch

Die Zeiten vor 500 Jahren waren, wie die heutigen, von einem ganzen Krisenbündel geprägt. Verschiedene Handlungsstränge unterschiedlicher Akteure (vor allem auch der Frühkapitalisten) überlagerten sich und führten zu einer hochdynamischen Entwicklung, deren Ausgang und Richtung für die Zeitgenossen keineswegs voraussehbar war. Ganz im Gegenteil.

Die Eidgenossenschaft hatte seit etwa zehn Jahren einen machtpolitischen Kater. Weggeblasen waren die Grossmachtambitionen, die man sich in Ansätzen nach dem sensationellen Kriegserfolg über die Burgunder (1475-1477) sowie dem Schwäbischen Bund samt dem künftigen deutschen Kaiser Maximilian (1499) durchaus zu Recht gemacht hatte. 

Die verheerende Niederlage bei Marignano 1515 verwandelte – auch und gerade in Zürich – die massiven wirtschaftlichen und sozialen Verwerfungen dieser Zeit in einen explosiven Cocktail. 

Um den Zorn der auf den Söldnerverdienst angewiesenen Teile der Landbevölkerung in den Griff zu bekommen, verfiel die Regierung darauf, Sündenböcke abzuurteilen, die dann stellvertretend exemplarisch bestraft wurden. Es gelang ihr sogar, mit dem Mailänderbrief die Landschaft 1516 darauf zu verpflichten, sich nicht mehr untereinander zu verbünden und insbesondere nicht gewaltsam gegen die Stadt vorzugehen. (Suter 2017)

Zur Multikrise kommt unmittelbare Kriegsgefahr

Mit der Reformation verschärfte sich die Lage zusätzlich. Zürich stand wieder einmal allein da, wie schon im Vorfeld und im Verlauf des Alten Zürichkrieg (1440-1444). Die katholisch gebliebenen Stände verlangten von der Limmatstadt, sie müsse wieder zum alten Glauben zurückkehren. Und es gab durchaus ernstzunehmende Drohungen für den Fall, dass sie dies nicht täten.

Die Reaktion der Zürcher liest sich in den Worten des Reformators und Zwingli-Nachfolgers Heinrich Bullinger dann so (Reformationsgeschichte Nr. 131, S. 233):

«Sömlichs und anders der glychen mee bewegt ein Statt Zürych an die iren in Statt und auff dem Land zuo werben, und [...] ouch von inen erkondigen, weß sich ein Statt Zürych allenthalben, ob sich krieg und ueberfal zuetrüge, soellte versaehen.

Hieruff gefiel von allen gemeinden ein einhällige Antwort, damitt ein ersamer radt gebätten ward, by dem wort Gottes und heyligen Euvangelio zuo blyben [die Reformation also beizubehalten], bis mitt dem Wort Gottes, ein bessers anzeigt wurde, Item das man sich woelle, so vil müglich, vor krieg vergoumen, und mencklichem raecht pieten und raechtens gestan. Ob aber hierüber sy yemandts bekriegen und überfallen wöllte, wölling die zuo der Statt setzen lib und guot, und Gott lassen walten. Deß verband man sich mit dem Eyd. Also daz do alle waellt wider Zürych was, und insonders alle Eydgenossen, sich wider sy setztind, sy doch sich einhaellig uff Gott verliessen, und hindurch fürend.»

Zumindest stellt Bullinger es so dar, dass hierüber Einigkeit herrschte. Den Reformkräften in der Limmatstadt war es gelungen, nicht nur einen genügend grossen Anteil der Stadtbürger, sondern auch die massgeblichen Kräfte auf der Landschaft von der Richtigkeit und Legitimität ihres Kurses zu überzeugen. Und Kriegsgefahr schweisst bekanntlich eine Gemeinschaft wie kaum etwas anderes zusammen.

Bei der Klosteraufhebung sollen wir über den Tisch gezogen werden?

Das alles hat aber die Unzufriedenheit über die eigene ökonomische Lage in breiten Bevölkerungskreisen keineswegs zum Verschwinden gebracht. Friedrich Vogel bezeichnet die Ereignisse, die den Zürcher Staat dann 1525 im Innern aufwühlten, denn auch als Religiös-politischer Aufstand. Auch ihm sei hier das Wort erteilt (Vogel 1845, S. 549):

«Die Zeit der Reformation war angebrochen, zahllose Mißbräuche im Kirchlichen wurden abgeschafft und die reine Lehre des Evangeliums hergestellt, die Pensionen wurden abgeschworen [d.h. die Reisläuferei für fremde Machthaber streng begrenzt], die Sitten gereinigt und verbessert, aber der harte ökonomische Druck, der auf dem Landmann haftete, wurde wenig erleichtert. Es ist daher begreiflich, daß der letztere glaubte, weiter gehen zu dürfen als die Reformatoren und mit der geistigen auch die leibliche Freiheit zu erringen suchte. Diese Ansicht war namentlich in Deutschland verbreitet, die Wiedertäufer schürten das Feuer, bis es zuletzt in dem sogenannten Bauernkrieg hoch aufloderte, dessen Flammen auch über die Grenzen der Schweiz drangen und namentlich in unserm Kanton einen gefährlichen Aufstand erweckten, der nur mit großer Mühe gedämpft werden konnte. Wir folgen bei der Erzählung desselben Bullingern, als dem Zeitgenossen.»

Zu den Ereignissen, die unmittelbar zu den im vorangehenden Artikel (vgl. WeiachBlog Nr. 2232) erwähnten 17 Artikeln des Neuampts führten, schreibt Vogel (S. 550): 

«Am 23. April, nachdem der Abt von Rüti mit Brief, Baarschaft, Siegel und Kleinodien nach Rapperschweil entflohen war, fiel eine Anzahl Bauern aus der Herrschaft Grüningen [die damals den Südosten des Zürcher Gebiets umfasste] in das Kloster und erlaubten sich Schwelgerei und Muthwillen aller Art. [...] Es drang auch ein Haufe in das Johanniterhaus Bubikon, der sich auf die nämliche Art benahm wie der zu Rüti. Mittlerweile hatte der Rath einige Boten hinaufgesandt, welche dem wüthenden Volk gute Worte gaben und es darauf wiesen, daß es seine Beschwerden in Artikel stellen und diese dem Rath eingeben sollte. Hierauf zog der größte Theil ab, doch blieben an einigen Orten Unruhige dem Wein zulieb zurück und zogen erst ab, als der Rath ein Mandat erließ.»

Dass die Landleute über diesen Schachzug des Abtes empört waren, ist durchaus verständlich. Ihre hohe Obrigkeit in der Stadt Zürich wollte die Klöster aufheben. Und im Verlaufe dieses Prozesses machen sich deren Führungskräfte mit allen Wertpapieren und anderen werthaltigen Gegenständen aus dem Staub? Hier wurde Volks- und Privateigentum einfach mal eben abgezügelt (Allgemeine Abgaben wie Zehnten, woraus dann immerhin Teile der Sozialfürsorge finanziert wurde sowie Jahrzeit-Gelder, für die man im Gegenzug am Todestag der Angehörigen Messen gelesen bekam, um sie weniger lang im Fegefeuer schmoren zu lassen). Ein eklatanter Verstoss gegen Treu und Glauben!

Memmingen, Februar 1525: Neun Artikel giessen Forderungen in Schriftform

Um nun den Inhalt der Beschwerden zu beurteilen, blenden wir wenige Monate zurück, in den Februar. Damals wurden im oberschwäbischen Memmingen, die sogenannten Memminger Artikel ausformuliert:

1. Freie Pfarrerwahl. Der Pfarrer soll, wenn er das reine Evangelium nach den Wünschen der Gemeinde predigt, von dieser direkt bezahlt werden, predigt er anders, kann er jederzeit von der Gemeinde ersetzt werden.
2. Aufgrund der Erklärung, den Pfarrer selbst zu unterhalten, soll der Zehnt abgeschafft werden. Dieser sei ohnehin mit der Heiligen Schrift nicht zu vereinbaren.
3. Die Leibeigenschaft soll abgeschafft werden.
4. Die Jagd und Fischerei soll freigegeben werden.
5. Der Frondienst soll auf ein vernünftiges Maß verringert werden.
6. Der Ehrschatz soll aufgehoben werden.
7. Die Strafen gegen schwere Verbrechen sollen auf das alte Maß verringert werden.
8. Das Land, das früher der Gemeinde gehörte, soll dieser zurückgegeben werden.
9. Die landwirtschaftlichen Erzeugnisse (z. B. Korn, Fleisch, Milch) sollen von den Bauern frei verkauft werden dürfen.

Kurz und knapp formuliert strebten die Memminger eine Selbstverwaltung in allen Belangen sowie die Abschaffung fast aller Abgaben, Steuern, Zölle, etc. an. Schon diese Artikel stützten sich auf das Gotteswort ab. Die Bauernschaft wollte nur noch das gelten lassen, was sich aus der Bibel ableiten liess.

Memmingen, März 1525: Ausarbeitung auf 12 Artikel

Im Verlaufe des folgenden Monats arbeitete man diese neun Punkte in einen Katalog mit zwölf Artikeln um: die berühmt gewordenen Zwölf Artikel der Bauernschaft in Schwaben:

Aufstellung nach Leuzinger 2025
Zwölf Artikel gem. Wikipedia

1. Jede Gemeinde hat ein Recht zu Wahl und Absetzung ihres Pfarrers.
Jede Gemeinde soll das Recht haben, ihren Pfarrer zu wählen und ihn zu entsetzen (abzusetzen), wenn er sich ungebührlich verhält. Der Pfarrer soll das Evangelium lauter und klar ohne allen menschlichen Zusatz predigen, da in der Schrift steht, dass wir allein durch den wahren Glauben zu Gott kommen können.

2. Der kleine Zehnten soll aufgehoben, der grosse Zehnten für Geistliche, Arme und Landesverteidigung verwendet werden.
Von dem großen Zehnten sollen die Pfarrer besoldet werden. Ein etwaiger Überschuss soll für die Dorfarmut und die Entrichtung der Kriegssteuer verwandt werden. Der kleine Zehnt soll abgetan (aufgegeben) werden, da er von Menschen erdacht (und nicht biblisch begründet) ist, denn Gott der Herr hat das Vieh dem Menschen frei erschaffen.

3. Die Leibeigenschaft soll aufgehoben werden.
Item ist der Brauch bisher gewesen, dass man uns für Eigenleute (Leibeigene) gehalten hat, welches zu erbarmen ist, angesehen, dass uns Christus alle mit seinen kostbarlichen Blutvergießen erlöst und erkauft hat, den Hirten gleich wie den Höchsten, keinen ausgenommen. Darum ergibt sich aus der Schrift, dass wir frei sind und sein wollen.

4. Jagd und Fischerei sollen frei sein. Falls Verkäufe vertraglich belegt werden können, sollen einvernehmliche Regelungen zwischen Gemeinde und Rechtsinhabern angestrebt werden.
Item ist es unbrüderlich und dem Wort Gottes nicht gemäß, dass der arme Mann nicht Gewalt hat, Wildbret, Geflügel und Fische zu fangen. Denn als Gott der Herr den Menschen erschuf, hat er ihm Gewalt über alle Tiere, den Vogel in der Luft und den Fisch im Wasser gegeben.

5. Wälder und Forsten sollen in Gemeindehand zurückgegeben werden. Sollten Verträge bestehen, werden gütliche Vereinbarungen mit den Forstinhabern angestrebt.
Item haben sich die Herrschaften die Hölzer (Wälder) alleine angeeignet. Wenn der arme Mann etwas bedarf, muss er es für das doppelte Geld kaufen. Es sollen daher alle Hölzer, die nicht erkauft sind (gemeint sind ehemalige Gemeindewälder, die sich viele Herrscher angeeignet hatten), der Gemeinde wieder heimfallen (zurückgegeben werden), damit jeder seinen Bedarf an Bau- und Brennholz daraus decken kann.

6. Die Frondienste sollen auf ein erträgliches Mass reduziert werden, orientiert an Herkommen und Evangelium.
Item soll man der Dienste (Frondienste) wegen, welche von Tag zu Tag vermehrt werden und täglich zunehmen, ein Einsehen haben und uns nicht so sehr belasten, so, wie unsere Eltern gedient haben, allein nach Laut des Wortes Gottes.

7. Ausservertragliche Frondienste sollen nicht zugelassen sein, es sei denn gegen eine angemessene Vergütung.
Item soll die Herrschaft den Bauern die Dienste nicht über das bei der Verleihung festgesetzte Maß hinaus erhöhen. (Eine Anhebung der Fron ohne Vereinbarung war durchaus üblich.)

8. Die Abgaben der Bauern sollen durch «ehrbare Leute» neu eingeschätzt werden.
Item können viele Güter die Pachtabgabe nicht ertragen. Ehrbare Leute sollen diese Güter besichtigen und die Gült nach Billigkeit neu festsetzen, damit der Bauer seine Arbeit nicht umsonst tue, denn ein jeglicher Tagwerker ist seines Lohnes würdig.

9. Die Strafmasse für schwere Vergehen sollen neu festgesetzt werden, orientiert an älteren Gerichtsordnungen.
Item werden der großen Frevel (Gerichtsbußen) wegen stets neue Satzungen gemacht. Man straft nicht nach Gestalt der Sache, sondern nach Belieben (Erhöhungen von Strafen und Willkür bei der Verurteilung waren üblich). Ist unsere Meinung, uns bei alter geschriebener Strafe zu strafen, wonach die Sache gehandelt ist, und nicht nach Gunst.

10. Ehemalige Gemeindewiesen und -äcker sollen zurückgegeben werden, es sei denn, dass Kaufverträge vorgelegt werden können.
Item haben etliche sich Wiesen und Äcker, die einer Gemeinde zugehören (Gemeindeland, das ursprünglich allen Mitgliedern zur Verfügung stand), angeeignet. Die wollen wir wieder zu unseren gemeinen Händen nehmen.

11. Die Zahlung des Todfalles belastet die Erben ungebührlich und wird deswegen zukünftig verweigert.
Item soll der Todfall (eine Art Erbschaftssteuer) ganz und gar abgeschafft werden, und nimmermehr sollen Witwen und Waisen so schändlich wider Gott und Ehre beraubt werden.

12. Alle Forderungen ergeben sich aus dem Wort Gottes. Sollten sie sich durch das Evangelium als unberechtigt erweisen, wolle man von ihnen Abstand nehmen.
Item ist unser Beschluss und endliche Meinung, wenn einer oder mehr der hier gestellten Artikel dem Worte Gottes nicht gemäß wären …, von denen wollen wir abstehen, wenn man es uns auf Grund der Schrift erklärt. Wenn man uns schon etliche Artikel jetzt zuließe und es befände sich hernach, dass sie Unrecht wären, so sollen sie von Stund an tot und ab sein. Desgleichen wollen wir uns aber auch vorbehalten haben, wenn man in der Schrift noch mehr Artikel fände, die wider Gott und eine Beschwernis des Nächsten wären.

Die Zürcher Bauern bauen den Forderungskatalog aus

Da ähnliche Forderungen auch auf Reichsboden gleich nördlich des Zürcher Herrschaftsgebiets zirkulierten, war das Überspringen des Rheins durch diese Ideenwelt die natürlichste Sache der Welt. 

Hans Nabholz erläutert 1898 in seiner Dissertation die Entstehung der Beschwerdeartikel von der Zürcher Landschaft wie folgt.

«Gleich nach dem Überfall von Rüti hatte er [der Zürcher Rat] ein Mandat in der ganzen Landschaft verbreiten lassen, das eindringlich vor weitern Ausschreitungen warnte. Zugleich aber richtete er an alle Gemeinden die Aufforderung, ihre Beschwerden, in Artikel verfasst, der Obrigkeit einzureichen und versprach, die Forderungen eingehend zu prüfen und Abhülfe zu schaffen, wo es nötig sei. Die
Gemeinden folgten dem Vorschlage und schon in den ersten Tagen des Mai sah sich der Rat im Besitze einer ganzen Reihe solcher Beschwerdeschriften.»

Nabholz hält fest: «Die Forderungen der Zürcher Bauern gehen zum Teil weiter, als das Programm der XII Artikel», und verweist dazu auf Egli Actensammlung Nr. 702, 703, 710, (708); sowie Bullinger I, 267-269 (Nabholz, S. 50). Geradezu modernistisch muten die Greifenseer Vorstellungen von einer erst in der Zeit des Bundesstaates nach 1850 erreichten Handelsfreiheit an: «Noch möge erwähnt werden, dass die Leute aus dem Amt Greifensee die Zollfreiheit innerhalb des Gebietes der Stadt Zürich nicht nur auf die zürcherischen Waren, sondern auf die der ganzen Eidgenossenschaft erstrecken möchten.»

Abgesehen von solchen Ausreissern zieht Nabholz über die Unterschiede folgendes Fazit: «Unter sich stimmen die Begehren aus den einzelnen Teilen der Landschaft sachlich ziemlich genau überein, dagegen weichen die Schriftstücke in Form und Anordnung durchaus von einander ab. Aus diesem Grunde scheint mir keines dem andern direkt als Vorlage gedient zu haben. Die sachliche Übereinstimmung lässt sich trotzdem begreifen, wenn man bedenkt, dass einesteils die soziale Lage in allen hier in Betracht kommenden Herrschaften der Stadt dieselbe war, und dass man sich anderseits über diejenigen Zustände, deren Reform man wünschte, schon vorher an Gemeindeversammlungen und andern Zusammenkünften gewiss oft genug ausgesprochen hatte.» (Nabholz, S. 51).

Die Grüninger Beschwerdeartikel, April 1525

Zusammenfassung WeiachBlog der Artickel deren sich die Grünninger beschwerdt zů sin vermeintend, und ledigung oder ringerung begärtend (nach Reformationsgeschichte Bullinger, Nr. 150):

1. Klage über Wegnahme von Klostergut durch den Abt von Rüti.
2. Abschaffung der Leibeigenschaft; Stadt Zürich als einzige Obrigkeit.
3. Abschaffung der Niedergerichtsbarkeit. [Ergibt sich indirekt aus Punkt 2]
4. Abschaffung der Vogthühner. [Eine Art Kopfsteuer an den Landesherrn, d.h. Zürcher Obervogt]
5. Abschaffung der Tagwan. [Gemeint sind Frondienste]
6. Weder Fall, noch Gläss noch Ungnossame. [vgl. separate Erläuterung unten]
7. Keinen dritten Pfenning mehr. [vgl. separate Erläuterung unten]
8. Abschaffung der Zölle innerhalb des Zürcher Herrschaftsgebiets. [Grüningen forderte mehr, s. oben]
9. Kein Umgeld vom Wein und kein Tavernengeld mehr. [Umgeld ist eine Warenumsatzsteuer]
10. Abschaffung des Lehenwesens.
11. Keine Vogtgarben mehr. [Vgl. Punkt 4 oben]
12. Keine Fronarbeit zur Reparatur des Landvogteischlosses.
13. Unentgeltliche Rechtspflege für Arme.
14. Klostergüter müssen im Grüninger Amt bleiben. Verbot des Abzugs.
15. Rückzahlung der Jahrzeitgelder, wenn die Jahrzeitmessen nicht mehr gelesen werden.
16. Freie Jagd auf alle Wildtiere in Bach, Wald und Feld.
17. Landerwerbungsverbot für das Kloster [Rüti].
18. Abschaffung des Kleinen Zehnten, nur noch Zehnten auf Wein, Korn und Haber werden anerkannt.
19. Ablösbarkeit von ewigen Kernengülten zum Fixpreis. [Eine Gült ist ein auf dem Land lastendes Wertpapier mit jährlichem Coupon]
20. Abschaffung des Holzgeldes. [Vgl. Art. 5 der Memminger Zwölf oben]
21. Keine Abgaben mehr an Obrigkeiten, wenn man eine Frau heiratet.
22. Rückzahlung von abgegangenen Pfründen bei Nachweis ihrer Stiftung.
23. Appell an die Obrigkeit, bei Beurteilung von Pt. 1-22 die wirtschaftliche Not der Landleute zu berücksichtigen.
24. Keine Einkerkerung, wenn eine Sicherheitsleistung möglich ist [Malefiz nicht explizit erwähnt!]
25. Keinerlei Erbschaftssteuer, ganzes Erbe an «die nächsten fründ».
26. Streitigkeiten zwischen Untertanen, die «zwüschen den 4 wänden gericht werdent» sollen keine obrigkeitlichen Strafen zur Folge haben.
27. Recht den Pfarrer (und Kaplane) ein- und abzusetzen, wenn er sich «nach dem wort Gottes nitt hielte».

Es ist schon interessant, dass die Erste Forderung der Memminger bei den Grüninger Bauernschaft erst an letzter Stelle kommt (bei den Kyburger & Neuämter Artikel an Position 12 von 17). Das hing wohl auch damit zusammen, dass diese Forderung mit der Reformation an Bedeutung eingebüsst hatte, zumindest in denjenigen Fällen, wo es sich beim Kollator um den Zürcher Rat handelte, was aber längst nicht immer zutraf.

Fall, Gläss und Ungnossame

Anne-Marie Dubler erklärt im Artikel «Fall» im Historischen Lexikon der Schweiz, wie sich eine sog. Personallast als grundherrliche Abgabe zur heutigen Erbschaftssteuer entwickelt hat:

«Der Fall oder Todfall war eine von den Erben eines verstorbenen Lehenbauern dem Grundherrn zu entrichtende Abgabe in Form eines fixierten Anteils am Nachlass.»

«Während der herrschaftliche Anspruch beim Fall nur Einzelstücke betraf, erstreckte er sich beim Lass auf die ganze Fahrhabe oder einen festen Teil derselben (ein oder zwei Drittel, die Hälfte usw.). Mit Fäll und Gläss war der gesamte Nachlass gemeint.» 

Diese Abgabe konnte also für Hinterbliebene durchaus existenzbedrohende Ausmasse annehmen. Daher auch die drastische Formulierung, «Witwen und Waisen» würden «schändlich wider Gott und Ehre beraubt» in Art. 11 der Zwölf Artikel der Bauernschaft in Schwaben.

«Die gesamte Fahrhabe beanspruchte der Herr bei Kinderlosen und Ledigen, grosse Anteile (die Hälfte bis zwei Drittel) bei Kinderlosen mit überlebender Witwe und bei Männern in Ungenossenehe.»

Damit sind wir bei der Ungnossame, der Heirat ausserhalb des Kreise der Herrschaft. Bruno Schmid erklärt diese aus dem Frühmittelalter stammende Einrichtung im Artikel Ehegenossame (Historisches Lexikon der Schweiz) wie folgt:

«Die Ehegenossame ist eine Folge der mittelalterlichen Eigenverfassung (Leibeigenschaft, Grundherrschaft). Diese war auf Eheschliessungen innerhalb eines Verbandes von Eigenleuten angewiesen, denn solche sicherten den Fortbestand des Verbandes und somit die Existenz der Herrschaft. Heirateten Eigenleute ausserhalb des Verbandes und schlossen sogenannte ungenossame Ehen, gefährdete dies den Verband. Zugleich entstanden rechtliche Probleme, da die Ehepartner einem jeweils anderen Recht unterstanden. Ungenossame Ehen wurden deshalb von den Herrschaften verboten. Andererseits konnten sie aber, da sie kirchlich geschlossen wurden, nicht für ungültig erklärt werden. Die Herrschaften versuchten sie zu unterdrücken, indem sie solche Ehen mit Vermögensstrafen belegten oder aber den einheiratenden Ehepartner zwangen, in den Verband der Eigenleute einzutreten. [...] Mit der im Spätmittelalter zunehmenden Mobilität häuften sich die ungenossamen Ehen.»

Das Konzept war schlicht nicht mehr zeitgemäss. In dieser Umbruchphase nahm auch die Geldwirtschaft ganz generell überhand. Womit wir wieder zu Dublers Artikel wechseln:

«Als die Leibeigenschaft auch für Landbewohner in Geld ablösbar wurde, änderte sich der Charakter des Falls.» Gegen Ende des Mittelalters «wurden Personallasten als Reallasten auf das bäuerliche Lehengut umgelegt. Der Fall wurde somit zu einer am Hof haftenden Geld- oder Naturalsteuer, die nun unterschiedslos alle traf, die irgendwelches Lehengut innehatten – Bauern, Tauner, Heimarbeiter und Handwerker, Freie und Unfreie.»

«Damit verlor der Fall seine ursprüngliche Bedeutung und wurde zu einer Art Erbschaftssteuer, westlich der Reuss-Napflinie schon im 15. Jahrhundert, östlich davon im Territorium Zürichs im 16. Jahrhundert. Wie gegen andere Steuern erhob sich gegen den Fall Widerstand.»

Mit diesem letzten Satz ist auch erklärt, weshalb sich die Zürcher Bauernschaft geschlossen gegen diese Fall und Gläss gewehrt hat.

Der dritte Pfennig

Worum es sich dabei handelte, das zeigt eine Recherche im Deutschen Rechtswörterbuch (DRW), Lemma Pfennig. Eine Fundstelle aus dem Zürcher Herrschaftsbereich von 1439, abgedruckt in Grimms Weisthümern, gibt einen deutlichen Eindruck:

«weri aber daz jemand under inen lägint frigi gueter oder manlehen man koͮffti oder verkoffti die, dem hab dehein herr nach ze fragen vmb den dritten pfenning» (GrW. I 16)

Bei diesem Dritten Pfennig handelt es sich somit um eine Art Handänderungssteuer bei Verkauf und Vererbung von Vogteigütern (z.B. bei Grundstücken und Häusern), wenn nicht die Besthaupt-Klausel zur Anwendung kam. Jeder dritte Pfennig aus dem Erlös musste also an den Lehensherrn abgeführt werden. Kein Wunder empfanden diejenigen Untertanen, die nicht das Glück hatten, auf frei ledig Eigen zu sitzen, solche Abgaben als erdrückend und verlangten ihre Abschaffung.

Die Kyburger Beschwerdeartikel, Mai 1525

Nachstehend die im vorangehenden WeiachBlog-Beitrag bereits gebrachten Artikel die auch die Vertreter des Neuamts mitunterzeichnet hatten (in der Fassung Pfr. Kilchspergers), ergänzt mit Querverweisen zu den Grüninger Forderungen.

1.) Abschaffung der Leibeigenschaft, (keinen Herrn, als Gott & als die weltl. Obrigkeit nur die Herren von Zürich) [Entspricht Grüningen Pt. 2]

2.) Abschaffung von «fal, gläss, ungnossami, lib- und roubstüren», aller andern Zehnden als [d.h. ausser] Korn, Wein, Haber.  [Entspricht Grüningen Pt. 6 und Pt. 18; zu roubstür vgl. unten]

3.) Freien Fischfang, jedoch bloss mit Hand, Angel, Storbären. [Storrbēr(eⁿ) Id. 4,1457: Netz, mit dem die Fische zugleich aufgestört und gefangen werden; Vgl. Pt. 7 unten; entspricht teilw. Grüningen Pt. 16]

4.) Abschaffung von Zollerhöhung & jeglichem Zoll auf Eisen, «damit man das erdrich bouwt». [Vgl. Grüningen Pt. 8. In dem Punkt waren die Forderungen wesentlich moderater als die im Zürcher Oberland]

5.) Abschaffung des Schuldverhafftes, wo Pfänder vorhanden. [Anlehnung an Grüningen Pt. 24]

6.) Säkularisierte Kloster- & Pfandgüter sollen in ihrem Ort belassen & dafür für die Armen & für anderweitige Gemeindezwecke verwendet werden. [Entspricht Grüningen Pt. 14, jedoch mit expliziter Zweckbindung der Erlöse]

7.) Die Tiere im Wald & der Vogel in der Luft sollend frei sein. [Entspricht teilw. Grüningen Pt. 16, vgl. Pt. 3 zum Fischfang oben]

8.) Kein Verbot fremden Weines, noch Umgeld. [Damit wird auch klarer, was Grüningen Pt. 9 mit dem Tavernengeld gemeint sein könnte, nämlich eine Importabgabe]

9.) Kautionsgeld gestattet, ausser in «malefizisch sachen».  [Entspricht Grüningen Pt. 24]

10.) Abschaffung des 3. Pfennigs auf vogtbaren Gütern.  [Entspricht Grüningen Pt. 7]

11.) Gnade gegen Reisläufer.  [Dieser Punkt fehlt im Grüninger Forderungskatalog!]

12.) Recht der Gemeinde zur Abberufung & Neuwahl, wo ein «pfarherr inen nit das wort Gottes verkündte, wie sich gepürt».  [Entspricht Grüningen Pt. 27]

13.) Aufgehobene Jahrzeiten & Stiftungen sollen ihren Gebern oder Erben zurück erstattet & wo solche nicht mehr vorhanden, den Armen in jeder Kilchhöri zugewendet werden. [Entspricht Grüningen Pt. 15, jedoch mit expliziter Zweckbindung herrenloser Vermögen]

14.) Kein Vogtheu, Holzgeld, Vogtkorn & Futterhaber, noch Auf- und Abgangskosten der Vögte. [Teilweise in Grüningen Pt. 11 sowie Pt. 20]

15.) Uneinigkeit, die in den 4 Wänden gütlich abgemacht wird, soll nicht gebüsst werden. [Entspricht Grüningen Pt. 26]

16.) Ablösbarkeit der «ewigen Guldenzinse / Mütt-Kerne». [Entspricht Grüningen Pt. 19]

17.) Vergantungen v. Gütern wegen Zinsen nur am Ort der Liegenschaft. [Dieser Punkt fehlt im Grüninger Forderungskatalog!]

Was sind Roubstüren?

Einmal abgesehen davon, dass Libertäre heutigen Tages jede Art von Steuer als Raub einstufen, gehen wir hier der Bedeutung im Spätmittelalter nach. Das Deutsche Rechtswörterbuch (DRW) führt dazu ein Lemma. Und in einer der Belegstellen wird das Hofrecht des Dinghoffs Brütten im Kanton Zürich referenziert, wo es heisst:

«so gitt man jaͤrlich einem vogt 33 ℔ ₰ ze einer stûr ... und ist kein gesetzte stûr nit, es ist ein rechte roubstûr: die gitt man im darum, das er sol schyrmen minen herren [die Abtei Einsiedeln]... und sine armen lút» (14./15. Jh. SSRQ ZH AF I/2 S. 148).

In der Fussnote 1 an genannter Stelle der Rechtsquellensammlung vermerkt Hoppeler: «Roubstür, vom Ertrag (roub) der Güter. Vgl. P. Schweizer, Geschichte der Habsburg. Vogtsteuern (J B Schw. G. VIII), S. 159.»

Schlussbetrachtung

Leuzingers Artikel im Schweizer Monat führt folgenden Lead: «Vor 500 Jahren lehnten sich Untertanen in der Schweiz und Deutschland gegen die Obrigkeit auf. Sie waren Pioniere der Menschenrechte.» Stimmt das? Aus heutiger Warte mag man das so sehen. Eigentlich hat die Bauernschaft aber lediglich versucht, ihre althergebrachten Rechte wiederzuerlangen, wie sie freien Bauern auch damals noch weitgehend zustand. Das geht aus den Forderungen deutlich hervor. Die drehen sich nämlich primär um wirtschaftliche Selbstbestimmung. Frÿheit eben (vgl. WeiachBlog Nr. 2221).

Die Menschenrechte, um die es da ging, waren die klassischen Abwehrrechte gegen Ein- und Übergriffe obrigkeitlicher Art, ob es sich nun um einen Lehensherrn oder einen Landesherr nach dem in der Frühen Neuzeit aufkommenden neuen Territorialstaatsprinzip handelt.

Letztlich waren die Aufständischen nicht erfolgreich. Abgesehen von der persönlichen Freiheit (Abschaffung der Leibeigenschaft) erhielten sie die entscheidenden wirtschaftlichen und politischen Freiheiten eben gerade nicht. Die enthielt ihnen eine mit allen verhandlungstaktischen Wassern gewaschene Gruppe in der Hauptstadt vor. Und betrachtete sie bis weit ins 19. Jahrhundert als ihr alleiniges Vorrecht.

Quellen und Literatur
  • Anfrage an Konstaffel und Zünfte sowie die Gemeinden der Landschaft betreffend Bauernbewegung einschliesslich Antworten und Beschwerdeartikel der Landbevölkerung. Enthält neben der Anfrage selbst auch Antworten von neun Gemeinden, die Beschwerdeartikel der Landschaft sowie Stellungnahmen und Mandate des Rates. Die Beschwerdeartikel der Landvogtei Grüningen sind auf den 25. April zu datieren, das Ratsmandat betreffend die Zehnten vom 1. Juli 1525. Signatur: StAZH A 95.1, Nr. 6. Teiledition: Egli, Actensammlung, Nr. 742.
  • Artigkel, so die uß der graffschaft Kyburg, herschafft Eglisow, Andelfingen, Neuw Ampt und Rümlang habent angebracht. Aufzeichnung, Heft (4 Blätter); ca. 02.05.1525 (Datierung gemäss Egli, Actensammlung, Nr. 703). Signatur: StAZH A 95.1, Nr. 6.1.
  • Heinrich Bullingers Reformationsgeschichte nach dem Autographon herausgegeben auf Veranstaltung der vaterländisch-historischen Gesellschaft in Zürich von J.J. Hottinger und H.H. Vögeli. 3 Bände. Druck und Verlag von Ch. Beyel. Frauenfeld 1838-1840.  [Autor: Heinrich Bullinger (1504-1575)]. Nr. 131, 149-155. – S. I, 267-268.  Signatur: ETH-Bibliothek Zürich, Rar 27347.
  • Vogel, F.: Die alten Chroniken oder Denkwürdigkeiten der Stadt und Landschaft Zürich von den ältesten Zeiten bis 1820. Druck und Verlag von Friedrich Schulthess, Zürich 1845 – S. 549-551. [Lemma Politische Gegebenheiten. Kapitel Religiös-politischer Aufstand im Jahr 1525]
  • Nabholz, H.: Die Bauernbewegung in der Ostschweiz 1524-1525. Phil. Diss., Universität Zürich 1898 – S. 47-63. URL: E-Rara.ch 104569.
  • Dubler, A.-M.: 
    Fall. In: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 3. Juli 2008.
  • Schmid, B.: Ehegenossame. In: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 27.01.2010.
  • Suter, M.: Die Zürcher Landschaft und das städtische Regiment. Kapitel 2.3.4 in: ders. et al.: Zürich (Kanton). Artikel im Historischen Lexikon der Schweiz (e-HLS), 24. August 2017.
  • von Mayenburg, D.: Gemeiner Mann und Gemeines Recht. Die zwölf Artikel und das Recht des ländlichen Raums im Zeitalter des Bauernkriegs. In: Studien zur europäischen Rechtsgeschichte. 1. Auflage. Bd. 311. Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 2017, S. 365–372.
  • Leuzinger, L.: Aufmüpfige Bauern haben uns Freiheit gebracht. (Kolumne: Leuzingers Liste). In: Schweizer Monat (Online-Ausgabe), 28. April 2025.

Freitag, 2. Mai 2025

Die 17 Artikel des Neuampts vom 2. Mai 1525

Am heutigen Datum vor 500 Jahren reichten die Untertanen der Landvogtei Kyburg zusammen mit denen weiterer Obervogteien (darunter die des Neuamts, zu dem auch die Gemeinde Weiach gehörte) bei ihrer hohen Obrigkeit, dem Bürgermeister und Rat Zürich, eine Liste mit 17 Forderungen ein. 

Damit lagen sie voll im Trend einer Zeit des revolutionären Umbruchs, in der die Regeln des Zusammenlebens unter die Lupe genommen wurden (vgl. die Einführung in WeiachBlog Nr. 2221). 

Es verwundert wenig, dass es auch in unserer Bauernschaft gärte, zumal sie von den Predigern der neuen Ausrichtung reformatorischer Art gehört hatten, über viele Abgaben, Zölle, Rechtsverhältnissen und dergleichen stehe rein gar nichts in der Bibel. Umso deutlicher forderte das Volk, gestützt auf die Heilige Schrift, deren Abschaffung, die Beteiligung an den Gütern der aufzulösenden Klöster, sowie die Restitution der alten Rechte ihrer Dorfgemeinschaften.

Wenig bekannter Geschichtsschreiber

Der Weiacher Pfarrer Albert Kilchsperger (*1883 +1947), bei uns im Amt 1908 bis 1940, hat sich nicht nur als evangelischer Seelsorger betätigt. Wie schon seinem Vorgänger Ernst Wipf, so war auch ihm die Erforschung und Aufzeichnung der Geschichte seines Wirkungsortes ein Anliegen. 

Von Kilchsperger ist ein über weite Strecken in Stenographie verfasstes Manuskript in zwei Teilen erhalten, von ihm selber (auf dem ersten Teil) mit dem Titel Geschichte der Gemeinde Weiach versehen. Zollinger hat die Stenoschrift transkribiert und in einem Schulheft mit Sigel K'sp. III notiert.

In Anerkennung der bisher nicht ansatzweise genügend gewürdigten historiographischen Arbeit Kilchspergers publiziert WeiachBlog erstmals denjenigen Ausschnitt seines Textes, wo es um die obgenannten 17 Artikel und die Reaktion der Zürcher Regierung darauf geht.

Wir bringen den vollen Wortlaut nachstehend weitgehend ohne Einschübe und verweisen auf die Anmerkungen am Schluss des Beitrags. Der nachfolgende Beitrag wird sowohl eine Erläuterung der nicht mehr allzu gebräuchlichen Begrifflichkeiten bringen, als auch einen Vergleich mit den Eingaben anderer Gemeinwesen aus dem Zürcher Herrschaftsgebiet und den berühmten Zwölf Memminger Artikeln aus Süddeutschland.

Pfarrer Kilchsperger zur Zeit vor 500 Jahren

Die Reformationszeit, die nun bald anhob, hat bekanntlich auch auf das polit. Leben ihre Wellen geworfen. Der Ruf nach Freiheit in Glaubenssachen, nach Befreiung vom Zwang der Papstkirche weckte ähnliche Stimmungen beim Bauernvolk. Sie wollten vor allem frei werden vom Druck der verschiedenen Steuern & Abgaben. In der Herrschaft Eglisau wollten sie 1525 keine «stür, tagwen & fastnachthühner» mehr leisten.

Im März wollten sich die Bauern unserer Gegend das Fischereirecht in der Glatt aneignen. Die «Nasen» schwammen zu jener Zeit massenweise glattaufwärts, um zu laichen. Als die Herren dort fischen wollten, sammelten sich 200 Mann aus Stadel, Neerach, Weiach, Schüpfheim & bewarfen den Junker Jörg Göldli [v. Zch.] & seine Knechte mit Steinen und schmähten die Herren «als ob sie uf die schiessent, & si syn nit ihr Herren». Dadurch wurde der Vogt von Eglisau & seine Fischer von ihrer Gerechtsame vertrieben. Es wurden deshalb 4 Mann beauftragt, «vor jede der 4 Gemeinden einzeln zu keren & [S. 14] ihnen den ungeschickten Handel vorzuhalten».  (vgl. die ausführliche Besprechung des Vorfalls in WeiachBlog Nr. 2222)

Die 17 Artikel vom 2. Mai

Das Neuamt, also auch Weiach, waren mitbeteiligt an der Eingabe von 17 Artikeln*, welche im Mai 1525 die Herrschaft Eglisau gemeinsam mit der Grafschaft Kyburg & den Vogteien Bülach, Andelfingen & Rümlang dem «h. Rat» einreichten. Es geschah diese Eingabe, wie es heisst, «us keinem muotwillen» sondern mit der Bitte, ob diese Artikel in der «gschrift, im hl. evangelio & in dem waren & luteren wort Gottes gespürlich** & zimlich» erfunden werden. 

In diesen 17 Artikeln also verlangten unsere Bauern:

1.) Abschaffung der Leibeigenschaft, (keinen Herrn, als Gott & als die weltl. Obrigkeit nur die Herren von Zürich)

2.) Abschaffung von «fal, gläss, ungnossami, lib- und roubstüren», aller andern Zehnden als [d.h. ausser] Korn, Wein, Haber.

3.) Freien Fischfang, jedoch bloss mit Hand, Angel, Storbären. [Storrbēr(eⁿ) Id. 4,1457: Netz, mit dem die Fische zugleich aufgestört und gefangen werden] [S. 15]

4.) Abschaffung von Zollerhöhung & jeglichem Zoll auf Eisen, «damit man das erdrich bouwt».

5.) Abschaffung des Schuldverhafftes, wo Pfänder vorhanden.

6.) Säkularisierte Kloster- & Pfandgüter sollen in ihrem Ort belassen & dafür für die Armen & für anderweitige Gemeindezwecke verwendet werden.

7.) Die Tiere im Wald & der Vogel in der Luft sollend frei sein.

8.) Kein Verbot fremden Weines, noch Umgeld.

9.) Kautionsgeld gestattet, ausser in «malefizisch sachen».

10.) Abschaffung des 3. Pfennigs auf vogtbaren Gütern.

11.) Gnade gegen Reisläufer.  [S. 16]

12.) Recht der Gemeinde zur Abberufung & Neuwahl, wo ein «pfarherr inen nit das wort Gottes verkündte, wie sich gepürt».

13.) Aufgehobene Jahrzeiten & Stiftungen sollen ihren Gebern oder Erben zurück erstattet & wo solche nicht mehr vorhanden, den Armen in jeder Kilchhöri zugewendet werden.

14.) Kein Vogtheu, Holzgeld, Vogtkorn & Futterhaber, noch Auf- und Abgangskosten der Vögte.

15.) Uneinigkeit, die in den 4 Wänden gütlich abgemacht wird, soll nicht gebüsst werden.

16.) Ablösbarkeit der «ewigen Guldenzinse / Mütt-Kerne».

17.) Vergantungen v. Gütern wegen Zinsen nur am Ort der Liegenschaft.

Antwort der Regierung vom 25. Mai

Der «hohe Rat» nahm die Eingabe an, liess sie von einer geistl. & einer weltl. Kommission begutachten & antwortete schon am 25. Mai folgendermassen: [S. 17]

«In Ansehung, dass wir alle Kinder Gottes & gegeneinander Brüder sind, wird die Leibeigentschaft mit ihren Zeichen (Fäll & Gläss) fallen gelassen. 

für die Libstüren, Zehnden, niedern Gerichte, Fischenzen Hand zur Ablösung geboten werden,

über roubstüren, Zinsen & Verwendung der geistl. Güter & der Jahrzeiten weitere Verhandlungen in Aussicht gestellt,

die Obsorge für gute Prädikanden versprochen, dagegen das Recht zur Abberufung derselben, die Begnadigung der Reisläufer, die Begehren betr. Zoll, die Schuldverhaft, Jagd, Umgeld & Fremdenwein, Mannlehen & 3. Pfändung, Vogtabgaben & Ganten abgeschlagen.

Man soll es bei Brief & Siegel und alter Übung lassen bliben.»

Zehntenmandat von August 1525

Mit Bezugnahme auf die Eingabe v. Kyburg, Eglisau etc. erliess der Rat im August 1525 ein Mandat über den Zehnden; darin stand:

«Im Gotteswort lasse sich nichts wider den [S. 18] Zehnden finden, auch gebühre es der Obrigkeit nicht, jahrhundertelang-bestandenen ruhigen Besitz zu «vernüten», so müsse ferner der gr. Zehnten (Korn, Roggen, Weizen, Gerste, Haber, Wein, an vielen Orten auch Heu) mit dem in jeglicher Gegend üblichen Zubehör an Geistliche & Weltliche entrichtet werden.»

Auch der kleine Zehnten wird beibehalten, jedoch nicht von der allfälligen 2. Anpflanzung eines Grundstückes im gleichen Jahre. Der Rat wird, wenn nötig, mit Strafen einschreiten.***

Insbesondere der «Kilchenzehenden»**** , zur Erhaltung der Pfarrer soll wieder in Aufnahme gebracht werden. Zur Ablösung des kl. Zehnten auf Gütchen wegen will der hohe Rat gern die Hand bieten. Doch legte sich in unsern Bauerngemeinden die Aufregung nicht sofort, etliche Gemeinden verweigerten einfach die Vogtsteuern, wie z.B. Wyl & Rafz & wurden deswegen verklagt.

Die soziale Bewegung unter dem Volk verband sich aber auch mit der kirchlichen; die sogen. Wiedertäufer, wenigstens die radikalen, nahmen die sozialen Bestrebungen des Bauernstandes in ihr Programm auf. Man ist aber sehr scharf gegen die strengen Täufer vorgegangen, hat Gefangennahme & Todesurteile nicht gescheut. Nach Zwinglis Tod bei Kappel, 1531, nahm aber die Ausbreitung der Täuferbewegung ab & auch die Bauernbewegung verlor an Wucht und Ausdehn[un]g. 

Anmerkungen

Fn-*: Vgl. Egli, E.: Actensammlung zur Geschichte der Zürcher Reformation in den Jahren 1519-1533; Nr. 703 - S. 320. Die Eingabe vom 2. Mai 1525 war nur eine von fünf solchen Petitionen aus dem Zürcher Herrschaftsgebiet, die zwischen 24. April und 16. Mai eingereicht wurden; vgl. Huldreich Zwinglis sämtliche Werke, Bd. 4, S. 338ff.

Fn-**: Steht auch im Originaltext von Kilchsperger so drin. Mutmasslich verschrieben aus «gepürlich».

Fn-***: Randnotiz: «Wild / Am Zchr. Rhein pag 101 / ff»

Fn-****: Randnotiz Zollinger: «(siehe «Wipf»!)»

Quelle

  • Geschichte der Gemeinde Weiach (Transkript der stenographischen Aufzeichnungen Pfarrer Kilchspergers durch Zollinger, der sie als Vortrag bezeichnet hat). OM Weiach, ohne Signatur. Original: Fadengeheftete Blätter. Transkription: Schulheft mit Sigel K'sp. III, S. 13-18.

Donnerstag, 1. Mai 2025

Als die Mayen in Weyach obrigkeitlich verboten wurden

Mayen sind Maibäume. So hält es Th. Weibel im Sachregister und Glossar des Rechtsquellenbandes Neuamt fest (RQNA, S. 515). Nach anderer Lesart kann ein Maien aber auch ein Blumenstrauss oder ein simpler Zweig sein. Laut dem Schweizerdeutschen Wörterbuch Idiotikon ist ein Maien u.a. (Id. 4, 3, Pt. 4) eine «junge, hohe Tanne mit entästetem (gew. auch geschältem) Stamm und büschelförmigem grünen Wipfel, der mit Kränzen, Bändern udgl. geschmückt ist, {zu bestimmten Festivitäten}.»

Maienzweige und Maibäume hatten und haben eine enge Verbindung zur Walpurgisnacht vom 30. April auf den 1. Mai. Denn in dieser magischen Nacht – so will es die Tradition in vielen deutschsprachigen Gebieten – gehen insbesondere jüngere Männer in den Wald und holen dort einen oder mehrere Mayen, die sie dann einer von ihnen favorisierten jungen Frau in den Vorgarten stellen.

Je nach Gegend ist das Maibäumchen ein veritabler Riese. In Bayern oder dem Salzburgerland sind das häufig mächtige Nadelbäume, bis fast zur Spitze entastet und geschält. Teils über 40 Meter hoch. Und das, obwohl die Länge anscheinend behördlicherseits auf 20.75 Meter begrenzt ist. Weshalb ist nicht bekannt, vielleicht befürchtet die Obrigkeit bei so einem Langholztransport Verkehrsunfälle. 

Wieso vergällt man den Untertanen harmlose Vergnügungen?

Solche Maibäume stehen dann oft auf dem Hauptplatz und sind der Stolz einer ganzen Dorfgemeinschaft. Und so einen Stolz haben die Regierenden den Weyachern einst verboten? In unserer doch recht holz- und waldreichen Gegend?

Sehen wir uns erst den Kontext an und ordnen den Erlass dann ein. Das Verbot wurde durch den Vertreter des Fürstbischofs von Konstanz, den Obervogt auf Schloss Rötteln erlassen. Er hielt einmal pro Jahr auch in der bischöflichen Niedergerichtsherrschaft Weyach ein sogenanntes Jahrgericht ab.

Laut Idiotikon (Id. VI, 356) handelte es sich bei einem «Jargericht» um ein «jährlich zu bestimmter Zeit, gew[öhnlich] zwei- oder dreimal, doch auch nur einmal oder viermal gehaltenes, aus den Hofgenossen gebildetes, ordentliches grundherrliches Gericht».

Eine Grundherrschaft ist die ursprüngliche Herrschaftsform des Frühmittelalters, die sich über die Jahrhunderte hinweg auf die Niedergerichtsbarkeit über eine ganze Dorfgemeinschaft übertragen hat. Beide durften nur über weniger gravierende Tatbestände Gericht halten. Die Beurteilung aller gröberen Vergehen und natürlich erst recht von Kapitalverbrechen standen den Vertretern des Hochgerichtsherrn zu.

Das Jahrgericht im August 1718

Dem Gerichtsprotokoll des Dorfgerichts Weiach entnimmt man über diesen speziellen Gerichtstermin, an dem sämtliche Haushalte mit mindestens einem erwachsenen stimmberechtigten Einwohner teilzunehmen hatten, folgendes:

«Wyach jahrgericht gehalten under jhro gestreng herren obervogt che[v]allier von Schnorpff, den 18ten augustj 1718. 

Wirdt allßo denen geschwornen richtern und sambtlicher gemaindt vor gehalten und à 9 lib. straff verbotten:»  –  Hier folgt nun eine lange Aufzählung mit 21 Straftatbeständen, darunter an achter Stelle: 

«Jtem sollen die jungen leüth am maytag keine mayen hauwenn

Und am Schluss der Liste wurde der Auftrag der obrigkeitlich mandatierten Amtsträger in der Gemeinde erneut allen in Erinnerung gerufen: 

«Demnach so seyen hiemit obabgelesene puncten denen geschwornen und richteren absonderlich zue- und beygesetzt, daß sie hiemit ein aydt abstatten, alles, was ungebührend, einem jeweiligen herren obervogt und ambtleüthen nachgestaltsamme der sachen anzuezaigen und zue laithen; widrigenfahls einer oder der ander darwider handlen wurde, jhne für einen, der seinem aydt nicht genueg gethan, gehalten und zur verantworthung gezogen werden solte.»

Es bestand also die Pflicht, jede festgestellte Übertretung der 21 verbotenen Handlungen dem Niedergerichtsherrn zur Kenntnis zu bringen. Wer als Amtsträger dagegen verstiess, verletzte seine Pflichten, und zwar in schwerer Weise, da er unter Eid gelobt hatte, sie zu erfüllen.

Mayenhauwen wurde an anderen Jahrgerichten nicht verboten

Dass man also zum 1. Mai im Wald keine Maibäume schlagen durfte, ist laut anderen Weyacher Jahrgerichtsprotokollen nicht verboten. Dies im Gegensatz zu den meisten anderen Ge- und Verboten, die Jahr für Jahr verlesen wurden.

Man wird es zwar erst nach umfassender Analyse aller Protokollbände mit einiger Sicherheit sagen können, aber es sieht schon sehr danach aus, dass es die Jungmannschaft anfangs Mai 1718 in diesem speziellen Punkt arg übertrieben hat und sich der Obervogt Ritter von Schnorpff gezwungen sah, dem allzu eifrig geübten Brauch zumindest vorübergehend den Riegel zu schieben. 

Die Gründe für dieses (wohl aussergewöhnliche) Verbot kennen wir bislang nicht, die Vermutung liegt jedoch nahe, dass zu viele Maibäumchen aus dem Wald geholt wurden und dieser dadurch über die Massen geschädigt worden ist. 

Dass man den Wald einem besonderen Schutz unterstellen wollte, ist für diese Zeit sehr plausibel. So ist bekannt, dass 1714 ein gewaltiger Sturm die Weiacher Wälder in Mitleidenschaft gezogen hat und im Vorjahr 1713 bereits ein illegaler Holzdeal des lokalen Ziegeleiunternehmers zu einem umstrittenen Gemeinderatsbeschluss geführt haben (vgl. WeiachBlog Nr. 1442).

Quellen und Literatur

  • Schweizerisches Idiotikon. Wörterbuch der schweizerdeutschen Sprache. Gesammelt auf Veranlassung der Antiquarischen Gesellschaft in Zürich unter Beihülfe aus allen Kreisen des Schweizervolkes. Herausgegeben mit Unterstützung des Bundes und der Kantone. Begonnen von Friedrich Staub und Ludwig Tobler. Vierter Band, Frauenfeld 1901. - Sechster Band, Frauenfeld 1909. (URL: www.idiotikon.ch)
  • StAZH B VII 42.8 S. 44-55. Zitiert nach: Weibel, Th. (Bearb.): Sammlung Schweizerischer Rechtsquellen. I. Abteilung: Die Rechtsquellen des Kantons Zürich. Neue Folge. Zweiter Teil: Rechte der Landschaft. Erster Band: Das Neuamt. Aarau 1996 (SSRQ ZH NF II/1; auch: RQNA)  – S. 434-436 (Nr. 193. Dorfgericht; c) Abhaltung des Jahrgerichtes).
  • Zum Brauchtum selber vgl. u.a. den Wikipedia-Artikel Maibaum; den SalzburgWiki-Beitrag Maibaum, der erläutert, dass offenbar auch das Maibaumstehlen aus dem Wald nicht als Delikt, sondern als Brauch gewertet wird; Maibaum als Brunnenschmuck in Känerkinden BL

[Veröffentlicht am 3. Mai 2025, 01:32 Uhr]

Mittwoch, 30. April 2025

Ist der Teufel ein genderfluider Hetero?

Eine verrückte Frage, nicht wahr? Etwa so skurril wie die Fragestellung «Wieviele Engel passen auf eine Nadelspitze?». Zur Zeit der Scholastik im Mittelalter, so wird im Feuilleton oft und selbst von namhaftesten Köpfen der Geistesgeschichte kolportiert, hätte man dieses Problem ernsthaft diskutiert. 

Martin Landvoigt dekonstruiert diese Behauptung in seinem Blog «Philosophieren für alle. Wo lassen Sie denken?» indem er darauf verweist, dass es sich dabei um eine böswillige Unterstellung der Humanisten handle. 

Ob das nun stimmt oder nicht: Das Phänomen an sich würde nicht überraschen. Es ist nichts Ungewöhnliches, wenn eine neue Denkschule der althergebrachten, etablierten Wissenschaft vorwirft, sie befasse sich mit den völlig falschen Fragen.

Die im Titel gestellte Frage könnte ein perfektes Forschungsfeld für die heute so trendig-unentbehrlich daherkommenden Gender Studies sein, hätte es diese bereits zu Zeiten des berüchtigten Hexenhammers (Malleus maleficarum) gegeben.

Ein notgeiler Cis-Mann...

Historiker wie alt Staatsarchivar Otto Sigg haben herausgearbeitet, dass es im Zürcher Herrschaftsgebiet fast ausschliesslich weibliche Untertanen von der Landschaft waren, die des Schadenzaubers verdächtigt wurden. Die Obrigkeit war zur Aufrechterhaltung der Ordnung quasi gezwungen, einige von ihnen zu verhaften und unter der Folter zu befragen. In 79 Fällen – wenn sie gestanden hatten, mit dem Teufel im Bunde zu stehen – wurden sie dann vom Leben zum Tod befördert. 

Dieser Teufel, mit dem auch fünf Weiacherinnen im Bunde gewesen sein sollen, wäre dann also ein Cis-Mann (wie das bei politisch korrekten Genderistas heute genannt wird). Denn er scheint ja auf Frauen abzufahren. Oder doch nicht?

Bei der Befragung ging es u.a. auch darum, herauszufinden, ob die Beschuldigten sich zur sogenannten Teufelsbuhlschaft bekannten:

«Entsprechend der frühneuzeitlichen Hexenlehre wurde der mit dem Teufel eingegangene Bund des Teufelspaktes in Form einer Eheschließung (Teufelsbuhlschaft) und durch den Geschlechtsverkehr von Hexen oder Hexenmeister mit Satan vollzogen.»

Vielleicht ist der Teufel doch mit bisexuellen Neigungen ausgestattet?

... oder gar ein Genderfluider?

In ebendemselben Lexikon wird auch behauptet, der Teufel könne – je nach Bedarf – die von seinem Opfer erhoffte Form annehmen:

«Laut den Aussagen der Angeklagten nahte sich der Teufel als Verführer. Er kam zu Frauen entweder in Gestalt eines gut gekleideten Fremden oder Bekannten. Angeklagte Männer beschrieben, dass der Teufel in Gestalt einer schönen Frau erschienen sei. Sie hätten dann Geschlechtsverkehr mit dem Teufel getrieben. Das Geschlechtsteil des Teufels wurde als „unnatürlich“ und als „kalt“ beschrieben. Der Teufel konnte dabei – je nach Bedarf – die Rolle eines Mannes oder die einer Frau einnehmen (er trat als Incubus oder Succubus auf).»  (Lemma Teufelsbuhlschaft)

Von diesen aus Wikipedia kopierten Zeilen müssen wir jetzt aber doch noch etwas abrücken, denn sie vermitteln ein allzu physisches Bild der Vorgänge. So naiv materialistisch waren unsere Vorfahren dann doch nicht unterwegs. Jedenfalls nicht alle.

Was der Hexenhammer dazu sagt

Der oder die Verfasser (über diese Frage streiten sich die Gelehrten) des Hexenhammers waren belesene Kleriker, die mit der scharfen Waffe des Wortes wohl umzugehen wussten.

Und wie das so üblich ist, macht man als Gelehrter eine Literaturrecherche. Das Ergebnis hört sich dann im Hexenhammer in der Übersetzung von 1923, Bd. 1, S. 34, wie folgt an: 

«(...) Feldgeister die griechisch Paniti, lateinisch Incubi heißen. Incubi heißen sie daher von incubare, d. h. Unzucht treiben. Denn oft geilen sie auch nach den Weibern und beschlafen sie, Dämonen, welche die Gallier Düsen nennen, weil sie beständig diese Unsauberkeit treiben. Den man aber gewöhnlich Incubo nennt, den heißen die Römer Faunus ficarius.»  [...]

«Ferner das Wort des Apostels, Korinth. I, 11: „Ein Weib soll einen Schleier tragen um ihr Haupt, wegen der Engel." Viele Katholiken legen das, weil folgt „wegen der Engel", aus mit „wegen der Incubi".»

Deshalb trägt Melania Trump im Vatikan also den Schleier? Das ist durchaus nachvollziehbar, denn der Teufel soll ja ein gefallener Engel sein. Weiter heisst es:

«Der Grund aber, warum sich die Dämonen zu Incubi oder Succubi machen, ist nicht das Lustgefühl, denn als Geister haben sie ja weder Fleisch noch Knochen; sondern der hauptsächlichste Grund ist doch, daß sie durch das Laster der Wollust die Natur des Menschen beiderseits, nämlich den Leib und die Seele, zerstören, damit so die Menschen um so willfähriger zu allen anderen Lastern werden.»

Die Welt des Wortes und der Gedanken ist  man kann es kaum anders formulieren  eine Schlangengrube. 

Seien Sie sich dessen bewusst und lassen Vorsicht walten, wenn Sie in der kommenden Nacht – der Walpurgisnacht  einer tief fliegenden Hexe begegnen. Vielleicht hat sie ja gerade den Kopf verdreht bekommen.

Quelle

  • Der Hexenhammer. Von Jakob Sprenger und Heinrich Institoris. Zum ersten Male ins Deutsche übertragen und eingeleitet von J. W. R. Schmidt. Erster Teil. Dritte Auflage. Berlin 1923.