Mittwoch, 28. Dezember 2022

Zeitbilder 1961. Der kommende Weiacher Kies-Reichtum.

Im Staatsarchiv des Kantons Zürich findet man nach Gemeinden geordnete Sammlungen von Zeitschriften- und Zeitungsartikeln. Für Weiach gibt es zwei: StAZH III Pz Weiach (1960-2007) und StAZH DSS 2 Weiach (ab 2008); vgl. Katalogeintrag Swisscovery)

Die ältere der beiden beginnt für Weiach mit einem Zeitungsausschnitt aus dem Jahre 1960. Dieser Artikel wurde in den Mitteilungen für die Gemeinde Weiach Mai 2006 als Weiacher Geschichten Nr. 78 abgedruckt und kommentiert.

Als Kontrastprogramm zur nasskalten Altjahrswoche wird hier nun der zweitälteste in der Sammlung enthaltene Beitrag porträtiert. Der ist mitten im Hochsommer, am Samstag, 15. Juli 1961 erschienen. Die Zeitbilder, das illustrierte Unterhaltungsblatt zum Tages-Anzeiger war eine Wochenbeilage, die (laut dem Online-Katalog Helveticat) von November 1904 bis Ende Dezember 1962 herausgegeben wurde. Sie ist sozusagen die Vorläuferin der ab 1970 produzierten Wochenendbeilage Tages-Anzeiger-Magazin («Tagi-Magi»), ab 1988 Das Magazin genannt.


Die Weiacher sind »steinreich« 

Mit diesem Titel über seinem Bildbericht zementierte der Autor Theo Frey den Mythos der sozusagen auf einer Goldgrube sitzenden Standortgemeinde der Weiacher Kies AG. Nachstehend der Text im vollen Wortlaut, jeweils unterbrochen durch Kommentare:

«Auf dem Gebiete der zürcherischen Gemeinde Weiach am Rhein soll demnächst der Kiesabbau im großen [sic!] beginnen. Guter Schotter ist (wer hätte das je zu prophezeien gewagt!) heute Mangelware geworden. An der rationellen Ausbeutung der mächtigen, vier Kilometer langen und 700 Meter breiten Kiesbank bei Weiach ist vor allem der Kanton Zürich stark interessiert.»

Die hier genannten Zahlen sind schon ziemlich hoch gegriffen. Darauf kann man nur kommen, wenn die gesamte Fläche vom Bahnhof Weiach-Kaiserstuhl bis zum heutigen westlichen Ende der Umfahrung Glattfelden (Autobahn A 50) eingerechnet wird. Und das auch noch auf der gesamten Breite vom Hangfuss bis zum Rheinufer. Notabene ohne Rücksicht auf den Bahndamm, später ausgeschiedene Grundwasserschutzgebiete sowie diejenigen Flächen, auf denen noch Wald steht. 

Über den Schienenweg transportierbarer Schotter für den Nationalstrassenbau

Im Weiteren erklärt Frey, worin das Interesse der Kantonsverwaltung bestand:

«Bis vor kurzem war die Beschaffung der enormen Mengen von Schotter in bester Qualität, wie ihn der Bau der Nationalstraßen erfordert, höchst problematisch; vor allem deswegen, weil man von den ohnehin überlasteten Straßen weitere große Materialtransporte fernhalten, das heißt, auf den Schienenweg verweisen will. In Weiach nun findet sich nicht nur der Schotter erster Qualität, der zudem bloß mit einer dünnen Humusschicht bedeckt ist, sondern auch der Abtransport auf dem Schienenweg macht keine Mühe, denn parallel zur zukünftigen Kiesgrube verläuft die Bahnlinie Basel–Schaffhausen [sic!]»

Bereits hier zeigt sich, wie die Hochkonjunktur sich auf den Strassen auswirkte. Die Zeitgenossen fanden, die Strassen würden durch Lastwagen überlastet und suchten nach Alternativen. «Für Güter, die Bahn» war im Kern schon damals das Mantra der Verkehrsplaner.

Keine Ahnung, wie der Journi auf die Idee gekommen ist, die Bahnstrecke Koblenz-Winterthur ausgerechnet als «Basel–Schaffhausen» zu benennen. Diese Bezeichnung ist eigentlich dem entsprechenden Abschnitt der 1857 im Auftrag der Regierung des Grossherzogtums Baden als Badische Hauptbahn fertiggestellten, nördlich des Rheins verlaufenden und heute von der DB (Deutsche Bundesbahn) betriebenen Hochrheinbahn vorbehalten. Denn erstens hat die Nordostbahn die Linie von Eglisau nach Neuhausen am Rheinfall erst 1897 eröffnet und zweitens müsste der von Basel herkommende Zug in Eglisau eine Spitzkehre vollführen und vice versa von Schaffhausen aus. Keine durchgehende Linie wie bei der Hochrheinbahn.

Zürcher Tiefbaubeamten treffen französischen Bohrmeister

«Anlaß zu unserem Besuch in Weiach haben Bohrungen gegeben, die man zur Untersuchung des Baugrundes der vorgesehenen Aufbereitungsanlage hat vornehmen müssen. Nicht bloß die Experten des Zürcher Tiefbauamtes prüften die Ergebnisse der Bohrungen eingehend; junge und alte Zuschauer aus Weiach gruppierten sich um die Monstermaschine französischer Herkunft, denn selbstverständlich sind vor allem die Bürger dieser rein landwirtschaftlichen Gemeinde zuallererst an der zukünftigen Goldgrube interessiert!»

Schon zu diesem Zeitpunkt war die Erwerbsstruktur der Gemeinde Weiach keine rein landwirtschaftliche mehr. Die neuen Verdienstmöglichkeiten in und um die Metropole Zürich waren schlicht zu attraktiv (was Walter Zollinger in seinen Jahreschroniken 1961 und 1962 auch entsprechend beklagt, vgl. WeiachBlog Nr. 965 und Nr. 1060).


Ab hier sind die Texte von Frey reine Bildlegenden.

«Oben links: Topfeben ist dieses Weiacher Gemeindeland zwischen Bahnlinie und Rhein. Noch wächst Frucht auf dem trockenen Boden, aber demnächst soll hier der größte Kiesabbau der Ostschweiz in Angriff genommen werden.»

Ob hier tatsächlich nur Gemeindeland abgebildet ist, wäre noch zu prüfen. Für diejenige Parzelle, auf der die Aufbereitungsanlagen zu stehen kamen, trifft dies allerdings zu. Dort dürfte die hier beschriebene Bohrung stattgefunden haben.

«Mitte [links]: Monsieur Jean, ein französischer Bohrmeister, der schon in aller Herren Länder (vor und hinter den Vorhängen) nach Petrol und andern Bodenschätzen gebohrt hat, ist hier daran, mit der Riesenmaschine französischer Herkunft nach dem "Weiacher Gold" zu bohren.»

Die flapsige Bemerkung über Vorhänge ist auf den Eisernen Vorhang zwischen dem amerikanisch beeinflussten Westeuropa und dem von der sowjetisch kontrollierten Ostblock gemünzt. Gemeint ist also nicht die namensgebende Brandschutzeinrichtung auf Theaterbühnen.

Waren die Weiacher alle für das Grossprojekt?

Unten links: Die Bauern, die hinaus in die Kartoffeln fahren, machen bei der Bohrstelle Halt und folgen dem Geschehen aufmerksam. Ihnen kann es nur recht sein, daß die Gemeinde nun zu neuen Einkünften kommt.»

Ob das wirklich zutrifft? Immerhin war längst nicht jeder Weiacher Feuer und Flamme für dieses Grossprojekt, wie die Aufzeichnungen von Walter Zollinger zu den diesbezüglichen Gemeindeversammlungen von 1961 und 1963 belegen (vgl. WeiachBlog Nr. 979 und Nr. 1318). 

1961 hatten die politisch und geschäftlich Verantwortlichen laut Zollinger versprochen, dass es bei der Ausbeutungsfläche nördlich der Bahnlinie bleiben werde. Nimmt man aber die oben von Journalist Frey erwähnten 700 Meter zum Nennwert, dann war insgeheim bereits vor dem ersten Baggerlöffeleinsatz die Ausbeutung bis an den Hangfuss im Süden der Ebene geplant, wie sie dann nach Verlegung der Hauptstrasse Nr. 7 nach der Jahrtausendwende auch umgesetzt wurde.

Operation Bohrlochleiter

«Nebenstehend: Soeben sind die Experten vom kantonalen Tiefbauamt eingetroffen. Sie möchten genau wissen, wie das Material unten, drei Meter tief unter dem Humus, beschaffen ist. Da die Maschine ausgerechnet heute streikt (Riß eines Drahtseils) entschließt man sich dazu, mit Hilfe einer Leiter ins Bohrloch zu steigen.

Unten links: Ein benachbarter Bauer war so freundlich, eine Leiter zu leihen, und bald kann die Expedition ins Erdinnere erfolgen.»

Bei diesem benachbarten Bauern handelt es sich wohl um den Eigentümer des Ofenhofs. Näher am Standort der Betriebsgebäude der Weiacher Kies AG liegt kein Landwirtschaftsbetrieb.

Gemeindeschreiber Pfenninger erzählt von steiniger Vorgeschichte

«Mitte rechts: Der Gemeindeschreiber (links) hat sein Büro für eine Weile verlassen und ist auch hinaus auf die Bohrstelle gefahren. Es brauchte einiges, bis es so weit war, d.h. bis eine leistungsfähige Firma für die Ausbeutung gefunden und der Anspruch der Gemeinde gewahrt war. Das Ausbeutungsrecht der Basler Firma Haniel AG, bei der sich der Kanton Zürich für die Kiesausbeutung von Weiach mit 40 Prozent beteiligen will, ist auf 50 Jahre vorgesehen.»

Der erste Vertragspartner, die gewerblichen Kiesunternehmer Gebrüder Aymonod (Pratteln & Muttenz), hatten es seit 1957 nicht zustandegebracht, den abzubauenden Kies auf dem Zürcher Markt zu platzieren und wollten daher den Vertrag bereits im Dezember 1958 stilllegen. 1961 zedierten sie dann ihr Ausbeutungsrecht mit Einwilligung des Gemeinderats Weiach an die Haniel AG in Basel, der Tochtergesellschaft eines grossen Mischkonzerns mit Wurzeln im Bergbau des Ruhrgebiets, vgl. Weiacher Geschichte(n) Nr. 95.

Aus den 40 Prozent wurde dann doch nichts. Nach zwei längeren Debatten (am 9. und 16.10.61) lehnte der Zürcher Kantonsrat am 16. Oktober 1961 die vom Regierungsrat beantragte Beteiligung des Kantons an der künftigen Weiacher Kies AG mit 87 gegen 47 Stimmen ab, vgl. WeiachBlog Nr. 1094.

Produkt überzeugt den Kanton. Grossauftrag für die A3.

«Unten rechts. Schon eine oberflächliche Prüfung des geförderten Schotters zeigt, daß er von vorzüglicher Qualität ist, das heißt genügend hart für den Straßenbau. Im Versuchslabor des Tiefbauamtes werden nun die Proben noch genauer untersucht.»

Wie man weiss, hat die Weiacher Kies AG dann trotzdem grosse Mengen Material für den Bau der Autobahn A3 ab Zürich-Brunau Richtung March-Gaster geliefert. Per Bahn. Denn das war für die Zürcher Regierung matchentscheidend, vgl. auch WeiachBlog Nr. 1868. Von da an prägten die ockerfarbenen Blockzüge mit dem Schriftzug Weiacher Kies das Bild von unserer Gemeinde in weitem Umfeld. 

Weiach = Kies. Für Hüntwangen und Wil gilt das seltsamerweise in viel kleinerem Masse. Obwohl auch da der Name in Grossschrift auf den Schüttgüterwagen prangte: «Kieswerk Hüntwangen AG» bzw. «Kies AG Wil-Zürich». Nur: das waren Schweizer Unternehmen (Holcim), die dort den Abbau in der Hand hatten.

Umfrage: Wer kennt die abgebildeten Personen? [Nachtrag 1. Januar 2023]

Laut dem Tagi-Fotojournalisten soll es sich bei den nachstehenden Personen (zumindest teilweise) um Weycherinnen und Weycher gehandelt haben:


WeiachBlog und drei weitere Mitglieder der Facebook-Gruppe Du bisch vo Weiach, wenn... (Anita Lörtscher, Bruno Koller und Esther Werthmüller) sind der Meinung, Bildberichterstatter Frey habe sich bei der Zuordnung des Namens geirrt: Der Weiacher Gemeindeschreiber Ernst Pfenninger (noch bis Herbst 1961 im Amt) steht auf obigem Bild rechts, nicht links.

Bleibt noch die Frage: Wer ist der Mann mit Schnauz? Nach einem Gespräch mit Willi Baumgartner-Thut ist WeiachBlog zum Schluss gekommen, es könnte sich um Jakob Meierhofer-De Bastiani handeln. Diese Vermutung wird von Esther Werthmüller und alt Gemeindeschreiber Hans Meier-Forster bestätigt. Meierhofer-De Bastiani (Zuname laut Hans Meier: «Chäfere-Schnauz») war 1957 in der RPK und hat damals das Projekt der Kies-Unternehmer Aymonod aus dem Baselbiet befürwortet. Kein Wunder also, dass er sich auch für diese Bohrung interessiert hat.


Auch die Zaungäste auf diesem Bild sind keine Unbekannten. Laut Lörtscher und Werthmüller handelt es sich bei dem stehenden Herrn mit verschränkten Armen und Zigarette um Otto Baumgartner, genannt «Lindä Otti» (Rest. Linde an der Stadlerstrasse). Und rechts neben ihm, der mit Hut, das sei Ernst Baumgartner, genannt «Schutteruechel», ist von Esther Werthmüller zu erfahren. Dieser sei «unser Störmetzger» gewesen. Schutteruechels waren laut Mina Moser an der Bergstrasse ansässig.

Hans Meier-Forster vermutet, bei den beiden auf dem Brügiwagen Sitzenden handle es sich um die Eltern von Ernst Baumgartner, genannt «Schurterruechel», was Werthmüller bestätigt. Wie man sieht bestehen über die korrekte Schreibweise des Zunamens unterschiedliche Ansichten. Die Bedeutung des Namens ist noch zu klären.

Nachtrag vom 11. Juli 2023: Mit einer handschriftlichen Notiz von Willi Baumgartner-Thut auf einem Ausdruck der obigen Abbildung werden die beiden Sitzenden als «Martha + Ernst Baumgartner, Bergstr. 2» identifiziert. In diesem Haus wohnte auch obgenannter Ernst Baumgartner.

Quelle und weiterführende Artikel

  • Frey, Th.: Die Weiacher sind »steinreich«. In: Zeitbilder. Illustriertes Unterhaltungsblatt zum Tages-Anzeiger, 15. Juli 1961, Nr. 28. [Zuordnung laut StAZH III Pz Weiach; in die Sammlung aufgenommen vom Stadtarchiv Zürich. 1990 ans Staatsarchiv extradiert.]
  • Zu den Gemeindeversammlungen vom 15. April und 28. Juni 1961, vgl. Brandenberger, U.: Vertrag über die Kiesausbeutung genehmigt. WeiachBlog Nr. 979 v. 4. Februar 2011.
  • Zur Lage im Jahr 1963 (nach Gemeindeversammlung vom 15. Juni), vgl. Brandenberger, U.: «Und das Unheil schreitet fort». Kritik Zollingers an der Kiesausbeutung. WeiachBlog Nr. 1318 v. 28. Oktober 2016.
  • Gesamtübersicht und Links auf alle zum Thema Weiacher Kies erschienenen Beiträge auf der Website des Wiachiana-Verlags: https://weiachergeschichten.ch/kies/

Dienstag, 27. Dezember 2022

A4-Blätter ausgemustert. P.P.-Vermerk in Dienst gestellt.

Doppelseitig bedruckte A4-Blätter, oben links mit einer einzelnen Bostitchklammer geheftet. Das war über Jahrzehnte hinweg seit Juni 1982 die allen Weycherinnen und Weychern vertraute Erscheinungsform der Mitteilungen für die Gemeinde Weiach. Nach 448 Ausgaben in diesem Stil war diese Traditionslinie beendet.

Seit der Ausgabe Oktober 2019 kommt das Mitteilungsblatt nun in einer anderen Form daher. Nicht mehr als «Loseblattsammlung», sondern als richtige Broschüre. Sie wird auf A3-Bögen gedruckt, mit zwei Bostitchklammern zusammengefügt und auf A4-Format gefalzt. 

Neckischerweise heisst die Publikation heute, wo sie nicht mehr aus einzelnen A4-Blättern zusammengebaut wird, «Mitteilungsblatt» (vgl. WeiachBlog Nr. 1391). Und nicht etwa «s'Weycher», wie es laut dem Reglement eigentlich genannt werden müsste (vgl. WeiachBlog Nr. 1326).

Postversand statt Verteilung durch die Weibelin

Seit der Ausgabe September 2020 (in der fortlaufenden Zählung: Nr. 460) prangt auf der hinteren Umschlagseite ein P.P.-Vermerk der Schweizerischen Post: 

P.P. steht für «Port payé». 

«Anstatt mühsam Briefmarken aufzukleben, wird P.P. auf die Umschläge gestempelt oder gedruckt. Ist eine Sendung aufgabebereit, erfassen die Kunden online auf post.ch alle notwendigen Angaben für den Versand.» So beschreibt die Berner Informatikfirma Glaux Soft AG in ihrem «Customer Case evidence» den Arbeitsablauf für den Postkunden. 

Da die Gemeinde Weiach auch die Adressdaten derjenigen Empfänger innerhalb und ausserhalb der Gemeinde, die das Mitteilungsblatt auf eigenen Wunsch noch in gedruckter Form erhalten, an die Druckerei in Bachenbülach übergeben hat, können die Adressetiketten dort aufgeklebt werden. Die Anzahl Etiketten wird dann im Software-Tool «evidence» erfasst und die Mitteilungsblätter gehen druckfrisch auf die Post. Und werden anhand dieser Adressen zugestellt wie jede andere Sendung auch.

Von den alten Zeiten, als Hildia Maag (1970-2005) und Debora Zimmermann (ab 2009, vgl. WeiachBlog Nr. 753) noch die Funktion einer Gemeindeweibelin wahrnahmen und im Stil privater Zustelldienste exklusiv gemeindeinterne offizielle Drucksachen verteilten, musste man sich nun auch in Weiach verabschieden. Diesmal wohl für immer.

Quelle

Montag, 26. Dezember 2022

Identitätspolitik mit dem Kalender

Kennen Sie Aloisius Lilius? Das war der Mediziner, Astronom und Philosoph aus Kalabrien, der spätestens 1575 das kalendarische Ei des Kolumbus geliefert hat: Eine Korrektur des Julianischen Kalenders, die die Datierung nicht nur wieder mit der Astronomie in Einklang zu bringen, sondern auch künftig dort zu halten versprach. Mit dem Gregorianischen Kalender laufen die noch verbleibenden Differenzen zum Sonnenlauf (ca. 26 Sekunden) erst nach über 3000 Jahren zu einem ganzen Tag auf.

Falscher Absender. Auswirkungen bis heute.

Nun stellen Sie sich vor, Sie seien in einem Umfeld voller in der Wolle gefärbter Woke-Links-Grüner tätig. Und erfahren von dieser mathematisch-astronomisch genialen Lösung. Die hat, das müssen Sie im stillen Kämmerlein konstatieren, eigentlich nur Vorteile, besonders für den internationalen Handel. Alles wäre paletti. Wäre. Wenn denn diese Lösung nicht von der falschen Seite käme.

Das Problem: dieser Kolumbus ist ein SVPler! Und das Schlimmste: der Godfather der weltweiten Verschwörung dieser rechtsextremen Gläubigen aller Nationen (ein Gottseibeiuns, bekannt unter dem Namen Papst Gregor XIII.) hat dieses Ei mit der Bulle Inter gravissimas auch noch hochoffiziell zum neuen Goldstandard erklärt. «Ganz übel! Schlimm! Geht gar nicht!!!», findet ihr Umfeld. Denn dessen quasireligiös motivierte Ideologen tun ihre Verachtung mit lautstarker Vehemenz kund und nageln jeden an die Wand, der anderer Meinung ist.

Da könnten Sie heutzutage ebensogut behaupten, es gebe nur zwei Geschlechter, Mann und Frau. Der sicherste Weg, Ihre Karriere mit Vollgas an die Wand zu fahren. 

Damals wie heute: Es geht um zutiefst weltanschauliche Fragen. Diese waren der eigentliche, tiefere Grund für die Ablehnung der Gregorianischen Kalenderreform.

«Eher soll unsre Stadt untergehen, als daß wir den neuen Kalender annehmen»

Das rund 115 Jahre dauernde Kalenderschisma zwischen Kaiserstuhl und Weiach basierte auf diesen ideologischen Begründungen. Dieselben, auf denen die Weltuntergangsrhetorik fusste, die die Bülacher nach der obrigkeitlichen Anordnung, per 1. Januar 1701 auf den neuen Kalender wechseln zu müssen, gepflogen haben sollen (vgl. Weiacher Geschichte(n) Nr. 105).

Die Ideologen der oben erwähnten Woke-Links-Grünen, das waren Ende des 16. Jahrhunderts die massgebenden Theologen der Zürcher Staatskirche und ihrer Pendants in Bern, Genf, etc. Es war letztlich nur eine hartnäckige Identitätspolitik, die in reformierten Gebieten eine mathematisch-naturwissenschaftlich nicht zu leugnende Differenz von 1 Tag in 128 Jahren (vgl. Fourmilab Calender Converter) zur astronomischen Realität während fast einem Dutzend Jahrzehnten par ordre de mufti schlicht wegdefiniert hat.

Die letzten offiziellen Rückzugsgefechte im Kalenderstreit fanden hierzulande 1812 im Kanton Graubünden statt, als nach einem Beschluss des Grossen Rates die Gemeinden Schiers und Grüsch zum Wechsel auf den neuen Datierungsstil gezwungen werden mussten. 

In den Klöstern der Mönchsrepublik Athos aber und bei der Festsetzung des Datums des Alten Silvesters auch im Appenzeller Hinterland, da gilt er weiterhin, der julianische Kalender aus der Römerzeit. Auf den bezieht sich der Hinweis auf die Antike im gestrigen WeiachBlog-Artikel

Wintersonnenwende am 25. Dezember?

Die astronomische Wintersonnenwende ereignet sich am 21. Dezember, das ergibt sich aus der Setzung des Frühlingsäquinoktiums auf den 21. März, welche am Ersten Konzil von Nicäa im Jahre 325 vorgenommen wurde. An diesem Konzil wurde nämlich das Osterdatum verbindlich festgelegt, und zwar auf den ersten Sonntag nach dem ersten Vollmond im Frühling. Dieses Jahr in der Regierungszeit des Kaisers Konstantin des Grossen ist daher unser Referenzpunkt.

Weil aber das julianische Jahr verglichen mit dem tatsächlichen Lauf der Erde um die Sonne um 11 Minuten und 13 Sekunden zu lang ist, verschiebt sich über die Jahrhunderte hinweg sozusagen das Koordinatensystem. Bis zu Papst Gregor XIII. waren seit Nicäa 10 Tage aufgelaufen, die gemäss seinem Dekret übersprungen werden mussten. 

Eigentlich hatte man dieses Problem bereits im Jahre 325 erkannt (die Leute konnten auch da schon rechnen). Hrabanus Maurus (um 840), Roger Bacon (1263/65) und Nikolaus Kopernikus (1514) hatten Korrekturen vorgeschlagen und auch die Konzilien von Konstanz (1414–18) und Basel (1431–48) befassten sich mit der Materie. Hätte man die Reform damals schon durchgezogen (und nicht erst nach der Reformation), dann würden die Silvesterkläuse in Appenzell-Ausserrhoden nicht mittlerweile am 13. Januar nach gregorianischer Datierung auf ihre identitätspolitische Tour gehen.

Traditioneller Jahresbeginn im Natalstil

Die Wintersonnenwende wanderte julianisch-kalendarisch ebenfalls mit. Eine Verschiebung von vier Tagen auf 25. Dezember wurde schon im Jahre 838 erreicht. Und nicht bereits kurz vor dem formellen Ende des Weströmischen Reiches (im Jahre 476, am Übergang von der Spätantike aufs Frühmittelalter), wenn man Julius Caesar und seine Kalenderreform um das Jahre 47/46 v. Chr. als Referenz nimmt, wie das die Verfechter der These des Erfundenen Mittelalters tun.

Wenn man also in der Diözese Konstanz (zu der das heutige Züribiet offiziell rund 1200 Jahre gehört hat), im Mittelalter den Jahresanfang im sogenannten Natalstil auf den 25. Dezember festsetzte (vgl. WeiachBlog Nr. 1431, Kapitel 3), dann begann das Jahr am Weihnachtstag bereits damals sozusagen zu früh. 

Zum Zeitpunkt des Ersten Geschworenen Briefes (Brun'sche Zunftverfassung 1336) als in Zürich die Daten für die Amtsübergaben zwischen Natalrat und Baptistalrat festgelegt wurden (vgl. WeiachBlog Nr. 1880), war das astronomische Phänomen der Wintersonnenwende im Vergleich zum Konzil von Nicäa 325 nämlich auch schon wieder 7.87 Tage weitergewandert, also auf den 29. Dezember.

Dass das neue Jahr 1336 nach damaliger Vorstellung trotzdem noch an Weihnachten begann (und die Zürcher die Bezeichnung Natalrat noch bis 1798 durchgezogen haben, wie die Ratsmanuale des Natalrats zeigen, dessen Sitzungen bereits in der Altjahrswoche begannen), hat somit einiges mehr mit Tradition zu tun als mit einer wissenschaftlich abgestützten, über lange Zeiträume konsistenten Chronologie. 

Ideologie ade. Ohne Aufsehen zu erregen. 

Diesen Umstand muss man bei der Transkription und Edition auf dem Schirm haben. Nicht nur bei Urkunden aus dem Mittelalter, wie der von 1166 (oder doch 1167?) über Wiach am Randen (vgl. WeiachBlog Nr. 1431), sondern auch bei den Zürcher Ratsbüchern. Wenn da gemäss Ratsmanual von 1701 (StAZH B II 672) am 28., 30. und 31. Dezember Sitzungen stattgefunden haben, dann sind das noch Tage des Jahres 1700. 

Bild: Beginn des 18. Jahrhunderts im Ratsmanual des Natalrates des Stadtschreibers auf Seite 6 des Jahresbandes 1701

Die erste Sitzung des 18. Jahrhunderts (Seculum XVIII) fand am 15. Januar statt (StAZH B II 672, S. 6). Der 1. Januar nach julianischer Zeitrechnung war gleichzeitig der 12. Januar nach gregorianischer Zeitrechnung.

Was aussieht wie zweiwöchige Ferien der Zürcher Regierung nach dem 31. Dezember 1700, ist somit in Tat und Wahrheit der Vollzug der Kalenderreform mit rund 115 Jahren Zeitverzug. Normaler Sitzungsrhythmus halt. Gehen Sie weiter, hier gibt es nichts zu sehen!

Quellen und weiterführende Literatur

  • Gutzwiller, H.: Kalender. In: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 15.01.2018.
  • Brandenberger, U.: Hundertundfünfzehn Jahre auf der Datumsinsel. Warum Weiach und Kaiserstuhl einst nicht die gleiche Zeitrechnung hatten. Weiacher Geschichte(n) Nr. 105. Ursprünglich erschienen in: Mitteilungen für die Gemeinde Weiach, August 2008. Stand: Mai 2019.
  • Brandenberger, U.: Keine Allerheiligen-Connection und ein paar Kalenderbetrachtungen. WeiachBlog Nr. 1431 v. 3. Dezember 2019.
  • Brandenberger, U.: Machtwechsel! Ab Weihnachten regierte der Natalrat. WeiachBlog Nr. 1880 v. 25. Dezember 2022.

Sonntag, 25. Dezember 2022

Machtwechsel! Ab Weihnachten regierte der Natalrat

In der Stadt Zürich, die mit der pfandweisen Übernahme der habsburgischen Grafschaft Kyburg im Februar 1424 die Hochgerichtsbarkeit über Weiach erlangt hatte, war bekanntlich seit 1336 die sogenannte Brun'sche Zunftverfassung in Kraft. 

Rudolf Brun hatte sich damals an die Spitze der Handwerker gestellt, die in einem Staatsstreich die immer uneingeschränkter regierenden Patrizier entmachteten und sie zwangen, in ein neues System einzuwilligen.

Nach diesem Putsch im Juni 1336 wurde der Erste Geschworene Brief aufgesetzt, der den Einfluss der Zünfte auf die Regierungsgeschäfte sicherte.

Gemäss dieser neuen Verfassung setzte sich der Kleine Rat aus 26 Mitgliedern zusammen: 13 stellten die Konstaffel, welche die Ritter und die Grosskaufleute umfasste; davon mussten sieben Ritter sein. Die 13 anderen Räte waren die Zunftmeister der jeweiligen Handwerkerzünfte. Das war checks & balances Züri Style.

Natalrat und Baptistalrat

Im oben erwähnten Dokument ist auch ein danach über Jahrhunderte beibehaltenes Turnussystem festgehalten. Jeweils am Weihnachtstag, dem 25. Dezember, und am Tage Johannes des Täufers, dem 24. Juni, d.h. den antiken Daten der Sonnenwende, wurden die Amtsgeschäfte übergeben.

Der Rat organisierte sich somit in zwei Ratsgruppen: den «Natalrat» (Weihnachtsrat) und den «Baptistalrat» (nach Johannes dem Täufer). Die 26 Natalräte regierten ab 25. Dezember in der ersten Jahreshälfte, die 26 Baptistalräte ab 24. Juni in der zweiten Jahreshälfte.

Es gab also immer zwei Bürgermeister: einen, der gerade regierte und einen, der gerade pausierte. Beispiel: Heinrich Escher vom Glas (1626-1710), vgl. Bild aus dem Jahre 1700, war von 1678 bis zu seinem Tod Bürgermeister des Natalrats.

Bild: Schweizerisches Nationalmuseum, DEP-3203

Im 15. Jahrhundert wurde dieser «Kleine Rat» aus zwei Halbjahresräten mit je zwölf Zunftmeistern (die Zünfte wurden auf 12 reduziert) und zwölf Constafflern sowie zwei Räten aus freier Wahl und den zwei sich abwechselnden Bürgermeistern gebildet. 

Der «Kleine Rat» war gleichzeitig Regierung, Parlament sowie oberste Gerichtsinstanz. Dadurch, dass die Ratsherren gleichzeitig regierten und richteten, besassen sie eine enorme Machtfülle. Keine Spur von Gewaltenteilung, wie wir sie heute kennen.

Weiterführende Literatur

Samstag, 24. Dezember 2022

Strom im Dorf! Gab Gemeinnützige Gesellschaft 1900 Startschuss?

Bekanntlich hat in unserem Dorfe an einem Heiligabend erstmals elektrisches Licht aus dem Stromnetz das Dunkel der Nacht erhellt. Also heute. Vor 110 Jahren, wie Willi Baumgartner-Thut (*1930) in seinem chronologischen Rückblick auf das 20. Jahrhundert (MGW, Januar 2000, S. 11-15) zum Jahr 1912 notiert hat:

«27. Mai: Gründung der Elektrizitäts-Genossenschaft Weiach (EGW), Netzausbau im 2. Halbjahr und erstmals Stromeinschaltung bei 85 Abonnenten und der Strassenbeleuchtung am 24. Dezember.» (zit. n. Brandenberger/Zollinger: Weiach. Aus der Geschichte eines Unterländer Dorfes, 6. Aufl. Vers. 55; Dezember 2022 – S. 92)

Erleuchtung hat pünktlich geklappt

Wie dieser denkwürdige Tag der ersten Einschaltung des Stroms aus technischer Sicht ablief, zeigt ein Protokollauszug, den wir ebenfalls Willi verdanken (vgl. Seite Geschichte auf der Website der EGW).

«Nachdem die Herren Ingenieurs Maag der Maschinenfabrik Oerlikon und Joos von der EKZ die Apparate im Transformatorenhaus [Luppenstrasse 1a] und die Leitungsanlage mittels eigens mitgebrachten Apparaten geprüft und einige kleine Unstimmigkeiten behoben, setzte Herr Joos um 16.30 Uhr die Anlage unter Strom.

Zur allgemeinen Freude und zur grossen Genugtuung der anwesenden Ingenieurs sowie des Personals der beteiligten Installationsfirmen und nicht zuletzt der Betriebskommission funktionierte die Anlage tadellos und ohne die geringste Unterbrechung konnte dieselbe unter Strom belassen werden, sodass die beiden Ingenieurs, nachdem sie dem anwesenden Personal der EGW nochmals die nötigsten Instruktionen wiederholt hatten, der Betriebskommission die Anlage übergeben.

Nach einigen kurzen Stunden, die die beiden Herren im Beisein der Betriebskommission und 2 Mitglieder des Vorstandes im" Sternen" zubrachten, reisten sie mit dem 8 Uhr Zug von Weiach ab.

Dank dem grossen Einsatz von Chefmonteur Stirnimann konnten die verspätet gelieferten Ausleger für die Strassenbeleuchtung noch rechtzeitig montiert werden und so das Dorf während den Feiertagen erstmals beleuchten. Die Ausleger wurden von Herrn Albert Meierhofer, Direktor der Broncewarenfabrik Turgi (ein Weiacher) der EGW geschenkt.»

Dieser Albert Meierhofer war übrigens der Vater der bekannten Kinderärztin Marie Meierhofer, Gründerin des heute nach ihr benannten Instituts für Psychohygiene im Kindesalter (vgl. Weiacher Geschichte(n) Nr. 115).

Die Gemeinnützige Gesellschaft als Transmissionsriemen

Die Elektrifizierung der Landschaft im Zürcher Unterland ist allerdings schon viele Jahre zuvor angestossen worden. Eine wichtige Rolle spielte die Gemeinnützige Gesellschaft des Bezirkes Dielsdorf (GGBD). Sie besteht seit 1836, wurde damals noch unter dem Namen Regensberg gegründet und war massgeblich an der Gründung der Bezirkssparkasse und des Bezirksspitals beteiligt. Ende des Jahrhunderts dann auch bei der Entwicklung der damals aufkommenden Netzwerktechnologien in den Bereichen Schienenverkehr und Elektrizität.

In diesem letzteren Feld dürfte die treibende Kraft im Hintergrund die 1891 gegründete Brown, Boveri & Cie (Teil der heutigen ABB) aus Baden gewesen sein. Dieses Unrternehmen hatte die Produkte zur Stromerzeugung entwickelt hatten und wollte ihre breite Anwendung im Markt vorantreiben. Zwecks Ankurbelung ihres Geschäfts gründete die BBC 1895 eine Finanzierungsgesellschaft namens Motor AG (die spätere Motor-Columbus).

Wer nun letzlich auf wen zugegangen ist, ist schwierig zu eruieren. Sachdienliche Hinweise könnten aber allenfalls noch im Firmenarchiv der Atel Holding AG (so heisst die Rechtsnachfolgerin der Motor-Columbus) oder den alten Protokollen der GGBD zu finden sein. 

Die Elektrizitätskommission nimmt die Arbeit auf

Erwiesen ist allerdings, dass die Gemeinnützige unseres Bezirks kräftig die Werbetrommel für die BBC gerührt hat. Und zwar durch die Gründung einer fünfköpfigen Elektrizitätskommission. Zu deren Aufgaben findet man detailliertere Angaben in der NZZ von Heiligabend des Jahres 1900:

«Zürich. (Korr.) In Sachen der Beschaffung elektrischer Kraft zu Beleuchtungs- und Betriebszwecken für die Gemeinden des Bezirkes Dielsdorf ist vor kurzem durch die Gemeinnützige Gesellschaft dieses Bezirkes ein Fünferkomitee bestellt worden, welches den Auftrag erhielt, die weiteren Vorarbeiten zu besorgen. Dieses Komitee hat nun an alle Gemeindevorstände des Bezirkes ein Cirkular erlassen, in welchem auf die Wichtigkeit der elektrischen Kraft als Triebkraft und die Bedeutung derselben für die wirtschaftliche Entwicklung einer Gegend aufmerksam gemacht und die Gemeindevorstände gebeten werden, für die Sache zu wirken, sei es durch Veranstaltung von Vorträgen, durch Belehrung der Gemeindegenossen, oder durch direkten Verkehr mit der Gesellschaft „Motor“ in Baden.»[s. dazu oben]

Die Elektrizitätskommission hat für ihre Mitglieder eine Arbeitsteilung eingeführt in der Weise, daß jedem derselben ein besonderer Wirkungskreis zugeteilt wurde, damit die Interessenten jeder Gegend wissen, an wen sie sich wenden können, wenn sie Ratschlag und Aufschluß nötig haben. So wurden Hrn. Kantonsrat Hauser die Gemeinden Stadel, Weiach, Bachs, Windlach, Neerach zugeteilt  [wohl auch die Gemeinde Raat-Schüpfheim; sie war wie Windlach noch bis 1907 selbstständig]; in den Wehnthalgemeinden besorgt Hr. Gemeindeammann Widmer das Nötige, Hr. Guyer-Meyer wirkt in seiner Gemeinde Rümlang und in den umliegenden Gemeinden Affoltern [damals noch zum Bezirk Dielsdorf gehörend; seit 1934 in Zürich eingemeindet] und Oberglatt; Hrn. Sekundarlehrer Strickler in Andelfingen wurden nebst seiner Wohngemeinde noch die Gemeinden Dänikon-Hüttikon, Boppelsen, Buchs, Dällikon und Regensdorf-Watt übertragen. In Dielsdorf und Regensberg, Niederhasli, Oberhasli und Niederglatt giebt Hr. Pfarrer Schüepp in Dielsdorf den Interessenten die gewünschten Auskünfte.»

Bestens vernetzter Stadler

Der genannte Kantonsrat, Heinrich Hauser (1851-1905), war ein Stadler. Wohl einer der bestvernetzten Köpfe, die das Dorf in den letzten zweihundert Jahren vorzuweisen hat. Schon sein Vater war Gemeindepräsident. Er selber übernahm 1870 zusammen mit seinem Bruder den elterlichen Landwirtschaftsbetrieb, wurde 1876 Gemeinderatsschreiber und Stadler Posthalter, zusätzlich war er Besitzer der Bäckerei und Wirtschaft Zur Post. Daneben betätigte er sich als Händler mit Getreide, Mehl und Holz. 1881 wurde er in den Kantonsrat gewählt, 1882 übernahm er die Funktion des Gemeindeammanns (im Kanton Zürich die Bezeichnung des Betreibungsbeamten), 1883-1892 und ab 1896 war er überdies auch noch Gemeindepräsident! Nicht zu vergessen sein Amt als Bezirksschulpfleger ab 1884. Und 1899 der Einsitz im Bankrat der Zürcher Kantonalbank. Kurz: Eine Machtfülle, die ihresgleichen sucht. Es gibt sogar einen Artikel im Historischen Lexikon der Schweiz über ihn, der sein Engagement u.a. so charakterisiert: «H. suchte den Anschluss von Gem. und Bez. an den techn. Fortschritt (Bahn, Elektrizität, Telefon).»

Touristenbahn nach Regensberg, Elektrotherapie-Anstalten, Aluminiumproduktion

Solche bestens vernetzten, mit Geschäftssinn begabte Personen waren aber durchaus nützlich, wie man den weiteren Ausführungen in der NZZ entnehmen kann. Denn da ging es um eine Infrastruktur- und Wirtschaftsentwicklung, bei der man Grosses im Sinn hatte:

«Im fernern hat die Elektrizitätskommission ein Arbeitsprogramm für ihr weiteres Vorgehen entworfen. Nach demselben soll auf die Verbesserung der schon bestehenden Verkehrsmittel und Fahrgelegenheiten Bedacht genommen werden, auch die Bestrebungen des schon bestehenden Eisenbahnkomitees Niederglatt-Stadel sind zu unterstützen, ebenso der Ausbau der Wehnthalbahn nach Döttingen anzustreben. Als weitere schon besprochene Projekte werden genannt eine elektrische Bahn Bülach-Dielsdorf und eine Touristenbahn Dielsdorf-Regensberg. Dazu kommt noch die schon mehrere Jahre alte Idee einer elektrischen Straßenbahn Regensdorf-Affoltern-Milchbuck. Selbstverständlich ist man sich wohl bewußt, daß bei allem dem mit den bestehenden Verhältnissen gerechnet werden muß.

Als neue Industriezweige, auf deren Einführung getrachtet werden soll, werden genannt die Gewinnung von Calciumcarbid aus dem vorhandenen Kalkgestein, und von Aluminium aus den vorhandenen Lehmlagern, auch ist von Einführung der Elektrotherapie, verbunden mit Wasserbehandlung, wofür Anstalten errichtet werden sollten, die Rede. Nebenbei wird der Hebung des Handwerks und der schon bestehenden Industrien alle Aufmerksamkeit gewidmet, und es ist eine Industrie-, Gewerbe- und Handwerksstatistik in Aussicht genommen. Als Agitationsmittel stehen zur Verfügung die beiden Bezirksblätter [gemeint sein dürften: die Bülach-Dielsdorfer Wochen-Zeitung (Zürcher Unterländer) und der Bülach-Dielsdorfer Volksfreund (Neues Bülacher Tagblatt)], ferner sind Vorträge in öffentlichen Versammlungen und Besprechungen in landwirtschaftlichen und gewerblichen Vereinigungen geplant.

Wie s. Z. [seiner Zeit] gemeldet, wird der Bezug elektrischer Energie aus dem in Erstellung begriffenen Elektrizitätswerk in der Beznau [1902 vollendet] beabsichtigt. Zur Zeit ist man damit beschäftigt, eine Uebersicht über die in Aussicht stehenden Kraftlieferungsverträge zu beschaffen. Im Bezirk Dielsdorf sollen bis jetzt für rund 1000 HP. Abnehmer gesichert sein [HP = Horse Power; es ging v.a. um elektrische Energie für den Betrieb mechanischer Anlagen]. Dazu kämen dann noch weitere Abnehmer in den Glatthalgemeinden; so in Oerlikon, Seebach, Rümlang, Kloten, Dietlikon, Bassersdorf, Wallisellen, Schwamendingen, Dübendorf. Versammlungen zur Besprechung dieser Angelegenheit haben letzthin stattgefunden in Regensdorf, Wallisellen und Kloten; weitere Versammlungen sind von verschiedenen Gemeindevorständen in Aussicht genommen.»

Man staunt, welche unglaubliche Fülle an Aktivitäten diese Kommission entfaltet hat. Wenn man sich vergegenwärtigt, dass insbesondere Kantonsrat Hauser ein sehr beschäftigter Mann war, dann kann man sich leicht ausrechnen, dass im Hintergrund die Geschäftsinteressen der Motor AG und deren Ingenieure am Werk gewesen sein müssen. Anders ist so ein Arbeitsprogramm kaum zu stemmen.

Abklärungen in Weiach verlaufen erstmal im Sand

Dass Hauser mit seinem Gemeindepräsidenten-Amtskollegen Jakob Nauer in Weiach (vgl. WeiachBlog Nr. 1853) schon aus rein geschäftlichen Gründen im Kontakt war, darf angenommen werden. In unserem Dorf musste der Vielbeschäftigte aber kaum tätig werden, er hätte offene Türen eingerannt, denn da gab es kraft Gemeindeversammlungsbeschluss bereits seit Ende Juli 1900 eine «Kommission für Vorstudien zur Erwerbung elektrischer Kraft» (vgl. WeiachBlog Nr. 1436), deren Arbeit Willi Baumgartner-Thut wie folgt würdigt:

«Der erste Anlauf für die Einführung der Elektrizität in Weiach in den Jahren 1900 bis 1902 mit mehreren Kommissionssitzungen, Wassermessungen in den Dorfbächen, Werkbesichtigungen und Verhandlungen mit den damaligen Elektrofirmen Joh. Jakob Rieter & Cie, Winterthur sowie Motor Aktiengesellschaft für angewandte Elektrizität, Baden ergaben keine Lösung.

Neun Jahre später am 13. Februar 1911 wählte die Gemeindeversammlung wieder eine Kommission zur Abklärung des Bedarfs an elektrischer Kraft in Weiach. Die Gemeindeversammlung am 26. März beauftragte die Kommission mit der EKZ Verbindung aufzunehmen und dann die elektrische Kraft möglichst rasch in Weiach zu installieren.»  (Quelle: https://www.ewweiach.ch/geschichte)

Und mit Hilfe der 1908 gegründeten Elektrizitätswerke des Kantons Zürich (EKZ) ging es dann tatsächlich erstaunlich rasch. Bereits 639 Tage nach dieser Gemeindeversammlung erstrahlten die Lichter.

Quellen

Freitag, 23. Dezember 2022

Was die Romandie zum Weiacher Ortsmuseum beigetragen hat

Weiacherisches bleibt in der Regel in der Region. Es sei denn, es sei darüber hinaus von Interesse. Normalerweise handelt es sich dabei um Ereignisse sportlicher Natur oder solche aus der Kategorie Unglücksfälle und Verbrechen. Nicht so in diesem Fall.

Die in Fribourg erscheinende Tageszeitung La Liberté, gegründet im Jahre 1871, ist eines der letzten von grossen Medienkonglomeraten unabhängigen Presseerzeugnisse der Romandie mit einer Reichweite von rund 100'000 Lesern (WEMF MACH Basic 2018-II).

In seiner Sonntagsbeilage vom 3. August 1968 berichtete das Blatt unter dem Titel «Un musée régional à Weiach» samt Bild des Blickfangs seiner Küche von der Eröffnung des Weiacher Ortsmuseums im Lieberthaus am Müliweg 1:

«Après des années de préparation, un musée du bas pays zurichois a été ouvert au public à Weiach. Toute la population a contribué à sa création. Il présente maints objets rappelant le passé de la région et d'autres dont les habitants se servaient quotidiennement. On voit, sur notre photo, une cuisinière à la forme très particulière. C'est une excellente idée que d'ouvrir ces petits musées. Même modestes, ils mettent en honneur le travail des artisans d'autrefois. Ils sont aussi une leçon de choses et souvent une leçon d'histoire. (Photopress)»

Anschauungsunterricht und Geschichtsstunde zugleich. Eine Hommage in wenigen Worten. Man kann ohne Übertreibung sagen, dass die Initianten um den ehemaligen Weiacher Lehrer Walter Zollinger zumindest bei einigen ihrer Zeitgenossen die richtigen Saiten zum Klingen gebracht haben. Denn dass die sich in voller Entfaltung befindliche Hochkonjunktur in hohem Tempo Althergebrachtes zum Verschwinden brachte (und noch bringen würde), das war bereits damals offensichtlich.

Auch das Waadtland hat sich geäussert

Was man damals noch nicht wusste: wie alt das Lieberthaus tatsächlich ist. Getreu den Angaben der Gebäudeversicherung des Kantons Zürich (die meist ohne Quellenangabe in den Akten stehen und daher für die Zeit vor den Lagerbüchern von fraglicher Qualität sind) ist auch der Verfasser dieser Zeilen bis vor wenigen Jahren von der Annahme ausgegangen, es sei 1728 erstellt worden. 

Dass es zwei Bauetappen gab, zeigt aber schon die von aussen sichtbare Balkenstruktur. Seit Mitte Oktober 2018 ist dank dendrochronologischer Analyse, die aus Cudrefin VD am Neuenburgersee, also ebenfalls aus der Romandie stammt, klar: der ältere, südöstliche Teil ist auf das Jahr 1646, der jüngere, nordwestliche Teil auf das Jahr 1765 zu datieren (vgl. Weiacher Geschichte(n) Nr. 63, Totalrevision 2019, S. 192).

Quelle 

Mittwoch, 21. Dezember 2022

Dem verbotenen Lockruf fremden Geldes erlegen

Kennen Sie Teófilo Romang? Das ist der Gründer der Kleinstadt Romang in der argentinischen Provinz Santa Fé, 750 km nördlich von Buenos Aires, eine eigentliche Schweizerkolonie, in der sich ab 1873 viele Auswanderer aus unserem Land niederliessen. 

Romang, der eigentlich Peter Wingeier hiess, stammte aus der Gemeinde Trubschachen im oberen Emmental. Dort findet sich an seinem Geburtshaus an der Hauptstrasse Nr. 10 (Les Verrières–Luzern), nahe dem Flüsschen Trueb, seit 1980 eine in spanisch verfasste Plakette zu seinen Ehren. Daneben eine weitere mit der deutschen Übersetzung.

Diese Tafeln erwähnen aber den Namen Wingeier (noch heute häufig in dieser Gegend) mit keinem Wort. Aus Gründen. Denn Peter Wingeier, ursprünglich angesehener Uhrmacher, geriet mit seinem Geschäft in finanzielle Schwierigkeiten, missbrauchte seine Vertrauensstellung, indem er öffentliche Gelder veruntreute und haute 1860 mitsamt den noch vorhandenen, ihm anvertrauten Mündelgeldern nach Argentinien ab. Unterwegs kaufte er der Witwe eines bei der Überfahrt verstorbenen Arztes aus Langnau i.E., Theophil Romang, die Papiere des Toten ab. Wingeier nahm dessen Identität an. Und praktizierte sogar als Arzt!!!

Da kann man schon von krimineller Energie reden. Und obwohl sein Sohn, der ihm als 14-Jähriger in die neue Heimat folgte, dort studierte und Advokat wurde, der Gemeinde Trubschachen den finanziellen Schaden vollständig zurückzahlte (und so ab 1905 auch ganz offiziell den Namen Romang tragen durfte), haben die Schächeler sich für eine Art der damnatio memoriae entschieden. Über diesen Wingeier redet man nicht. Immerhin ist seine Tat auch nach heutigem Strafgesetzbuch (Art. 138 Ziff. 2 StGB) ein Verbrechen, auf das bis zu 10 Jahre Gefängnis stehen.

Planlose spontane Dummheit

Ein Weiacher namens Rudolf Baumgartner (ohne Alias-Namen) wird aller Wahrscheinlichkeit nach nie eine solche Plakette erhalten. Seine Taten, im Alter von 19 bzw. 29 Jahren begangen, wiewohl auch in den Bereich der Veruntreuung einzureihen, sind doch eher als jugendliche bzw. spätpubertäre Dummheiten einzustufen. Gegen das Gesetz und kriminell. Ja. Aber kriminelle Energie geht anders. Das muss man zumindest schliessen, wenn man die nachstehende Gerichtsberichterstattung aus der Neuen Zürcher Zeitung vom 8. September 1879 liest:

«Rudolf Baumgartner u. Gen. (21. August) Rudolf Baumgartner von Weiach, geboren 1850, verheirathet, kinderlos, 1869 wegen Unterschlagung bestraft, Dienstmann in Zürich, wohnhaft in Außersihl, wurde von der Handelsbank in Zürich öfter zum Einzug von Wechseln verwendet und empfing am 30. Juni d. J. 18 solcher im Gesammtbetrag von ca. Fr. 10,000 zu diesem Zweck.» [Umgerechnet nach dem Historischen Lohnindex HLI von Swistoval wäre das über eine halbe Million!] 

«Nachdem er am Morgen einige Wechsel im Betrag von Fr. 1174 eingezogen [nach HLI umgerechnet: 63'700 CHF], begegnete er auf seinem Weg beim Bahnhof einem Bekannten, dem Schlosser Gugolz von Außersihl, einem arbeitsscheuen Strolch von 21 Jahren, den er zu einem Glas Bier einlud. Beide sprachen, Anfangs scherzweise, dann ernsthaft, vom Durchbrennen mit dem eingezogenen Geld, Baumgartner, indem er sich über seinen häuslichen Unfrieden beklagte, Gugolz, weil er keine Arbeit und ebendarum kein Geld habe. Beide spazierten mit einander nach Enge zur Papierfabrik.» [Gemeint: Papierfabrik an der Sihl nahe der Saalsporthalle; die Fabrik stand auf Wiediker Boden] 

«Hier gab Baumgartner dem Gugolz Geld, damit er ihm in Zürich einen Zivilanzug kaufe und bringe, da er in der Dienstmännerkleidung unmöglich durchbrennen könne. Wirklich ging Gugolz nach Zürich, kaufte einen Anzug und brachte ihn Baumgartner, der jetzt seine Dienstmannsuniform auszog und sie mit Steinen beschwert in der Sihl versenkte. Gleichzeitig schenkte er Gugolz großmüthig Fr. 100 von dem eingezogenen Geld und schickte ihn noch einmal in die Stadt, mit dem Auftrag, ihm einen Revolver zu kaufen, „da er lebend der Polizei nicht in die Hände fallen wolle“. 

Beide wollten sich dann „im Sternen“ wieder treffen, um gemeinsam durchzubrennen. Gugolz ging, kam aber nicht wieder. Baumgartner, den das lange Warten im „Sternen“ verdroß, ging endlich allein fort, zog von Wirthshaus zu Wirthshaus und wurde am späten Abend betrunken in der „Schützenhalle“ in Außersihl, auf Klage der Handelsbank längst von der Polizei verfolgt – verhaftet. Er trug noch Fr. 926.10 auf sich. 

Am andern Tag wurde auch Gugolz, der sich am vorhergehenden Abend und in der Nacht in Wirthshäusern und Bordellen herumgetrieben hatte, im Konsum in Unterstraß, wo er renommirte und „wixte“ – am Kopf genommen.» [Was der mundartliche Begriff «wixen» wohl bedeutet hat? Eine Handlung, die geeignet war, öffentliches Ärgernis hervorzurufen? Letzteres, was wir heute darunter verstehen würden, wohl eher nicht, zumindest erwähnt die NZZ nichts dergleichen.]

«Baumgartner ist nun der Unterschlagung von Fr. 147.90 (die dem Gugolz geschenkten Fr. 100 und für sich verbrauchten Fr. 47.90) und des Versuchs von Unterschlagung weiterer Fr. 926.10, indem er diese Summe aus dem Säckchen der Handelsbank genommen und in seine Tasche gesteckt hatte, um damit durchzubrennen und Gugolz ist der Gehülfenschaft zu diesem Versuch, indem er zum Zweck der Flucht dem Baumgartner den Zivilanzug verschafft und der Hehlerei im Betrag von Fr. 100 (der geschenkten) angeklagt. Beide erklärten sich schuldig und wurden: Baumgartner zu acht Monaten Arbeitshaus (ab 5 Wochen), Gugolz zu 6 Monaten Gefängniß (ab 7 Wochen) verurtheilt.» [«ab» bedeutet eine (partielle) Anrechnung der Untersuchungshaft]

Was ist mit den Wechseln passiert?

Über den Verbleib der noch nicht in Bargeld umgesetzten Wertpapiere schweigt sich die NZZ aus. Dafür findet man in der Züricherischen Freitagszeitung (Bürkli-Zeitung) vom 19. September nachstehendes Inserat des Bezirksgerichts Zürich, wonach die Handelsbank offenbar nur fünf der am Tage der Deliktbegehung dem Dienstmann Baumgartner zum Einziehen «übertragene und von diesem angeblich in die Sihl geworfene Wechsel» im Gesamtbetrag von rund 3600 Franken vermisste:

Da Baumgartner laut NZZ nur 1174 Franken unterschlagen hat, so muss angenommen werden, dass er auch noch im Besitz von einigen Wechseln war, als man ihn verhaftet hat, es sei denn, der im NZZ-Beitrag genannte Gesamtwert von rund 10'000 Franken sei unzutreffend.

Erstaunlich milder Richterspruch

Wie dem auch sei: Die vom Richter ausgesprochene Strafe erscheint verglichen mit dem maximal möglichen Strafrahmen und angesichts des Umstandes, dass Baumgartner einschlägig vorbestraft war, doch recht mild. Die Tat wurde nämlich nach den §§ 171 bis 173 des kantonalen Strafgesetzbuches beurteilt:

«§ 171. Der Unterschlagung macht sich schuldig, wer sich eine in seinem Besitz oder Gewahrsam befindliche fremde bewegliche Sache rechtswidrig zueignet. Die Unterschlagung ist vollendet, sobald der Besitzer die Sache dem zur Zurückforderung Berechtigten wissentlich abgeleugnet oder auf andere Weise seine Absicht, über dieselbe wie über sein Eigenthum zu verfügen, zu erkennen gegeben hat.

§ 172. Die Unterschlagung wird, wenn der Betrag derselben 500 Franken oder weniger ausmacht, mit Gefängniß oder Arbeitshaus bis zu fünf Jahren, in gelindern Fällen mit bloßer Geldbuße bis zu 50 Franken, bei einem Betrage von mehr als 500 Franken mit Arbeitshaus, in schwereren Fällen mit Zuchthaus bis zu zehn Jahren bestraft.

§ 173. Abgesehen von dem Betrage kommt bei der Strafzumessung als strafschärfend insbesondere in Betracht:
a. wenn die Unterschlagung verübt wurde von Vormündern, Bevollmächtigten, Verwaltern, Rechnungsführern, Depositaren, Beamten und Angestellten der Post, Fuhrleuten, Boten, Schiffern, sowie von den bei Aktiengesellschaften, Eisenbahn- oder Dampfschifffahrtsunternehmungen angestellten Personen an Sachen, die ihnen in Folge ihrer Stellung anvertraut werden müssen;
b. von einem Wirthe an seinem Gaste, von Dienstboten oder andern in der gleichen Haushaltung lebenden Bediensteten an Sachen, die ihnen von ihrem Dienstherren oder den Seinigen anvertraut wurden.»

Das Strafgesetzbuch für den Kanton Zürich sah drei Arten von Freiheitsstrafen vor: Zuchthaus, Arbeitshaus sowie Gefängnis. 

Die ersten beiden Kategorien mussten in Strafanstalten verbüsst werden, mit entsprechender Arbeitspflicht der Insassen. Laut § 5 konnten lebenslängliche Zuchthausstrafen verhängt werden, aber auch zeitlich begrenzte zwischen 1 und 15 Jahren. Arbeitshausstrafen dauerten im Minimum 6 Monate, maximal 10 Jahre. Dem Gericht blieb aufgrund von § 172 nichts anderes übrig, als Baumgartner zu einer Arbeitshausstrafe zu verurteilen, blieb aber im untersten Bereich des Strafrahmens.

Auch sein Kumpan Gugolz profitierte von der Richtermilde. Er wurde lediglich ins Gefängnis gesteckt, wo er nicht hätte arbeiten müssen (jedenfalls dann, wenn er den angerichteten Schaden finanziell hätte gutmachen können, was kaum zu erwarten ist), denn §10 des Strafgesetzes lautete: 

«Die Gefängnißstrafe besteht darin, daß der Verurtheilte in eine Verhaftsanstalt eingeschlossen wird. Die Auswahl der Nahrung und der Beschäftigung steht ihm innerhalb der Schranken der Hausordnung frei, wenn er den gestifteten Schaden ersetzt und die Gerichtskosten bezahlt hat, sowie die Kosten des Unterhaltes zu bestreiten vermag. Im andern Falle wird er reglementarisch beköstigt und angemessen beschäftigt.»

Quellen

Montag, 12. Dezember 2022

Das Eisenwarengeschäft in Buenos Aires in Zeiten des Gelbfiebers

Heute vor 150 Jahren nahm der Zürcher Regierungsrat per Präsidialverfügung ein Begehren aus der Gemeinde Weiach zum Anlass, via den Bundesrat das Schweizer Konsulat in der argentinischen Hauptstadt um sachdienliche Hinweise über eine «Verlassenschaftssache», d.h. den Nachlass eines Weiacher Bürgers zu ersuchen: 

«12. December 1872. Bezugnehmend auf die durch Präsidialverfügung vom 4. Nov. abhin erhaltene Mittheilung berichtet der Gemeindrath Weiach, daß der auf dem vom Bundesrathe eingesandten Verzeichnisse der in Buenos-Ayres am gelben Fieber gestorbenen Zürcher erscheinende Konrad Meyer, Tischler, wirklich ein Angehöriger der Gemeinde Weiach und der am 10. Mai 1822 geborne Sohn Jakobs u. der Susanna geb. Schenkel sei, der im Sept. 1868 sich von Genf aus nach Buenos-Ayres begeben habe. Zwei in der Heimat lebende Brüder des Verstorbenen behaupten aber, daß Konrad Meyer sich mit bedeutendem zum größten Theil elterlichen Vermögen nach Amerika begeben habe u. in Buenos-Ayres bei einem Verwandten als Associé in ein rentables Eisenwaarengeschäft eingetreten sei. Sie wünsche daher, daß über den Nachlaß nähere Erkundigungen eingezogen u. derselbe den rechtmäßigen Erben aushingegeben werde. Der Gemeindrath Weiach ersucht, daß diesem Wunsche durch Vermittlung des Bundesrathes resp. des Konsuls in Buenos-Ayres entsprochen werde. Es wird ein entsprechendes Schreiben an den Bundesrath gerichtet.»

Im Bundesarchiv sind die Handakten des damals als Schweizer Konsul tätigen Friedrich Kubly erhalten geblieben. Ob sie auch Unterlagen zu diesem Fall enthalten, ist noch unklar. Die Digitalisierung des Dossiers (und nachfolgende Auswertung durch den Verfasser dieser Kurznachricht) muss erst noch erfolgen. Affaire à suivre. [Nachtrag vom 13. Januar 2023: Durchsicht des digitalisierten Dossiers ergibt: Unterlagen mit Glattfelden-Bezug, nicht aber zu Weiach].

Die grosse Epidemie in Buenos Aires, 1871

Was die Todesursache anbelangt, so kann festgehalten werden, dass Gelbfieber (wie die in WeiachBlog Nr. 1875 thematisierte Tollwut) durch ein Virus ausgelöst wird, welches durch Mücken übertragen wird. In Argentinien ist die Krankheit eigentlich nicht endemisch. Die südamerikanischen Endemie-Gebiete liegen in subtropischen und tropischen Breitengraden des Kontinents. Ab und zu aber wird die Krankheit auch in Gebiete eingeschleppt, wo sie normalerweise kein Problem darstellt. So auch nach Buenos Aires.

Ausgelöst wurde der Seuchenzug von 1871 durch aus dem brutalen Krieg der Tripelallianz (Argentinien, Brasilien und Uruguay) gegen Paraguay zurückkehrende argentinische Soldaten. Verschärfend wirkten hohe Bevölkerungsdichte kombiniert mit unhaltbaren hygienischen Zuständen, denn die Stadt verfügte weder über ein Abwassersystem noch eine sichere Trinkwasserversorgung. Letztere war überdies durch menschliche Exkremente kontaminiert.

Ende Januar wurden die ersten Fälle diagnostiziert, jedoch nicht ernst genommen, sodass die Situation bereits im März derart ausser Kontrolle geriet, dass die Wohlhabenden aus der Stadt flohen und die umliegenden Provinzen jeden Verkehr mit der Hauptstadt strikte unterbanden. In der ersten Hälfte des Aprils 1871 stieg die Todesrate auf über das 25-fache der üblicherweise beobachteten Zahlen. Gesundheits- und Bestattungswesen waren völlig überfordert. Resultat: Bis am 2. Juni starben acht Prozent der Einwohner der Stadt am Rio de la Plata an Gelbfieber, darunter auch der oben erwähnte Weiacher Bürger.

Quellen

Sonntag, 11. Dezember 2022

«Wuthkranker Hund». Sind die Tollwut-Viren ausgerottet?

Können Sie sich noch an die grosse Hühnerkopf-Impfaktion erinnern? In den 1980er-Jahren wurden grosse Anstrengungen zur oralen Impfung der besonders für die Verbreitung der Tollwut verantwortlichen Füchse unternommen (sie waren für fast drei Viertel aller Tollwutfälle dieser Jahre verantwortlich).

Spezialisierte Equipen legten ganze Barrieren aus impfstoffpräparierten Hühnerköpfen. In unwegsamem Gelände hat man diese Köder damals sogar aus dem Helikopter abgeworfen. Wegen der Restpathogenität des verwendeten Impfstoffs gegen das Rabiesvirus wurde die Bevölkerung zur Vorsicht gemahnt.

Ab 1991 weniger problematischer Impfstoff

Von späteren Impfaktionen mit einem wesentlich sichereren Impfstoff, die ab 1991 durchgeführt wurden, hat die Öffentlichkeit fast nichts mitbekommen. 

Ab 1939 wanderten Füchse, die Träger des Rabiesvirus waren, von Polen her in Deutschland ein und verbreiteten sich immer weiter nach Westen und Süden. Nachdem man im März 1967 den ersten Fuchstollwutfall in Merishausen im Norden des Kantons Schaffhausen verzeichnen musste (vgl. Zanoni et al. 2000, S. 423) und es in den 1970ern in der Schweiz gar drei Tote zu beklagen gab, ging ein Ruck durch das Land. Nach rund dreissig Jahren konnte man dann endlich einen grossen Erfolg feiern. Seit 1999 gilt die Schweiz offiziell als tollwutfrei. Nach 2006 konnte Deutschland dasselbe von sich sagen. 

Wildtiere nicht anfassen! Tollwutgefahr!

Ist die Tollwut also besiegt und ausgerottet? Nein, das ist sie nicht. Denn es gibt immer noch Wildtiere, die Träger des Virus sind, so z.B. Fledermäuse (wie gerade im Sommer 2022 im Kanton Bern). Das Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen schreibt auf seiner Themenseite über Tollwut dazu:

«Die Schweiz ist frei von Tollwut, sowohl bei Haus- wie auch bei Wildtieren. Einzelfälle bei Fledermäusen können dennoch vorkommen. Innerhalb der letzten 40 Jahren ist dies der fünfte Fall (zuvor 1992, 1993, 2002 und 2017).

Es ist wichtig, kranke und verhaltensauffällige Wildtiere nicht anzufassen und die Wildhut zu informieren. Bei einem Biss durch eine Fledermaus ist umgehend ein Arzt oder eine Ärztin aufzusuchen.»

Wenn man diese Tiere anfassen muss, dann nur mit Wegwerfhandschuhen, denn: 

«Das Virus ist im Speichel eines tollwütigen Tieres vorhanden und der Infektionsweg führt fast immer über einen Biss. Aber auch kleinste Verletzungen der Haut und Schleimhäute können das Eindringen des Virus per Schmierinfektion oder Kontaktinfektion ermöglichen.» (Wikipedia-Artikel Rabiesvirus)

Tollwütiger Hund verletzt Menschen in Glattfelden und Weiach

Vor 150 Jahren gerieten auch Menschen aus unserer Gegend in Lebensgefahr. Damals nicht durch einen Fuchs, sondern durch einen Haushund (heute noch für >95 % aller rund 59'000 Tollwuttodesfälle weltweit verantwortlich):

«Laut Bericht des Statthalteramtes Bülach (Zürich) ist in Glattfelden ein wuthkranker Hund abgefangen und getödtet worden, nachdem derselbe daselbst, sowie in der Gemeinde Weiach Personen angefallen und theilweise verlezt hatte.»  (BBl 1875 IV 668)

Diese amtliche Verlautbarung aus dem Eidg. Departement des Innern über Tierseuchen in der ersten Hälfte des Novembers 1875 erschien am 20. November 1875 im Bundesblatt und betraf vor allem die Maul- und Klauenseuche (daher wurde im Original auch der Begriff «Viehseuchen» verwendet).

Schon damals haben die Journalisten solche Mitteilungen ausgewertet und in ihren Blättern eingerückt. Die Neue Zürcher Zeitung war da keine Ausnahme, wie der nachstehende Text zeigt:

«Laut Bericht des Statthalteramtes Bülach (Zürich) ist in Glattfelden ein wuthkranker Hund abgefangen und getödtet worden, nachdem derselbe daselbst, sowie in der Gemeinde Weiach Personen angefallen und theilweise verletzt hatte.»  (NZZ, 23. November 1875, Erstes Blatt, S. 2)

Die redaktionelle Leistung besteht in der orthographischen Modernisierung des zweitletzten Wortes. Sonst ist das Copy&Paste. Keine neue Erfindung unserer Tage also.

Tollwut ist bis heute unheilbar

Damals gab es noch keine Impfungen gegen Tollwut. Sie wurden erst ab 1885 entwickelt. Ohne Schutzimpfung oder Postexpositionsprophylaxe (PEP) verläuft eine Tollwutinfektion innerhalb von 15 bis 90 Tagen – von sehr seltenen Einzelfällen abgesehen – tödlich. 

Die Postexpositionsprophylaxe ist nur innerhalb von 24 Stunden nach der Infektion wirksam. Wenn Sie also nicht Wildhüter sind (mit Schutzimpfung) dann sollten Sie bei einem Wildtierbiss zum Arzt: je schneller, desto besser.

Quellen und weiterführende Artikel

[Veröffentlicht am 12. Dezember 2022 um 00:52 MEZ]

Donnerstag, 8. Dezember 2022

Mehr als 97% Ja für die Bundesverfassung 1874

Die meisten von uns haben sie noch in voller Rechtskraft erlebt, die Bundesverfassung von 1874. Sie wurde über 125 Jahre hinweg immer wieder teilrevidiert und erreichte damit ein respektables Alter, bis sie dann 1999 durch die heute geltende Verfassung abgelöst wurde. Bei ihrer Annahme hätte wohl kaum einer auf ein so langes Leben gewettet. Denn unumstritten war sie keineswegs.

Schon die Verfassung von 1848 wurde von den im Sonderbundskrieg unterlegenen Kantonen fast durchgehend abgelehnt. Im Kanton Freiburg kam die Zustimmung nur durch Parlamentsentscheid und im Kanton Luzern gar dadurch zustande, dass man alle Stimmenthaltungen als Ja-Stimmen gezählt hatte. Auf ähnliche Weise hatte schon die Gemeinde Weiach der Helvetischen Verfassung von 1802 zugestimmt: 100% Ja durch Stimmenthaltung, vgl. WeiachBlog Nr. 663.

Nach Herumschrauben am Text angenommen

Schon in den 1860ern wurde über eine Revision der ersten Bundesverfassung nachgedacht und 1872 scheiterte ein erster Versuch einer Totalrevision an der Urne. 

Andreas Kley erklärt die Gründe für das Scheitern im Historischen Lexikon der Schweiz so: «Der Verfassungsentwurf vereinte insgesamt zu viele Postulate; seine Gegner rekrutierten sich aus dem katholisch-konservativen Lager und den welschen Föderalisten. In der Abstimmung vom 12. Mai 1872 wurde die totalrevidierte BV mit 260'859 gegen 255'609 Volks- und dreizehn zu neun Standesstimmen verworfen.» 

Dass bereits weniger als zwei Jahre später erneut abgestimmt wurde, mag man in den ehemaligen Sonderbundskantonen als Zwängerei empfunden haben. Zumal in der überarbeiteten Vorlage nun die antikatholische Stossrichtung noch deutlicher zutage trat. 

In den Worten von Kley: «Das knappe Ergebnis bewog die Befürworter zu einem zweiten Anlauf. Es gelang ihnen, die Gegnerschaft auf die Katholisch-Konservativen zu beschränken, indem sie im neuen Entwurf einerseits die Bundeskompetenzen in den Gebieten Armee, Recht und Schule sowie die demokratischen Rechte gegenüber der Vorlage von 1872 abbauten und andererseits die kulturkämpferischen Bestimmungen verschärften. Die reformierten Kantone Appenzell Ausserrhoden, Graubünden, Waadt, Neuenburg und Genf wechselten das Lager.»

In nackten Zahlen präsentierten sich die beiden Abstimmungen dann in der NZZ vom 21. April 1874 wie folgt:


Bemerkungen: In Graubünden stimmten auch 17- bis 19-Jährige ab, die aber offenbar bei obigen Zahlen herausgerechnet wurden. Und im Kanton Freiburg fehlt der Sensebezirk in den Resultaten. An der massiven Ablehnung der neuen Konstitution dürfte das nichts geändert haben.

Die Katholiken waren auch im Kanton Zürich dagegen

Im Kanton Zürich gab es keine einzige Gemeinde, in der kein Ja resultierte. Massgebliche Prozentzahlen an Nein-Stimmen waren lediglich in katholischen Gemeinden wie Rheinau oder Dietikon zu verzeichnen. Im Bezirk Dielsdorf mit seiner damals noch fast homogen reformierten bäuerlichen Bevölkerung war die Zustimmung im April 1874 noch ausgeprägter als 1872, wie man der untenstehenden Tabelle entnehmen kann. In den beiden Spalten links die Ja- und Nein-Stimmen von 1874, im Spaltenpaar rechts die Zahlen vom Mai 1872.


In Weiach stieg der Ja-Stimmenanteil von 83 Prozent am 12. Mai 1872 auf über 97 Prozent am 19. April 1874.

Quellen

Montag, 28. November 2022

Die Trottenvielfalt im 19. Jahrhundert

«Zu Urgrossvaters Zeiten existierten in Weiach zwei Baumtrotten. Die eine war in der Kelle, an deren Platz heute eine besser eingerichtete Trotte steht. Die andere stand im Oberdorf & ist ebenfalls besser eingerichtet worden.»  -- Ruth Schulthess-Bersinger (1926-2013)

In den letzten 50 Jahren wurde in ortsgeschichtlichen Publikationen der Eindruck erweckt, es habe in Weiach nur zwei Trotten gegeben, eine an der Trottenstrasse (ehemals untere Rebstrasse; Namenspatronin dieser Strasse), die andere in der Chälen. So hat es auch Walter Zollinger (Lehrer in Weiach von 1919 bis 1962) in sein 1972 erschienenes blaues Büchlein geschrieben (vgl. S. 58-59). Und so hat es der WeiachBlog-Autor in den letzten rund 20 Jahren übernommen. Zollinger und – wie eingangs zitiert – Schulthess-Bersinger waren schliesslich Zeitzeugen, bzw. mit denselben direkt verwandt. Nur: dieser Eindruck täuscht gewaltig.

Grosse Mengen in kurzer Zeit zu verarbeiten

Warum an dieser Zweizahl etwas nicht stimmen kann, wird eigentlich nur schon klar, wenn man sich vor Augen führt, dass es auf dem Gemeindegebiet in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Tausende von Obstbäumen und über 20 Hektaren an Rebbergen gab (vgl. WeiachBlog Nr. 1865 für die Obstbäume sowie die Topographische Karton des Kantons Zürich (sog. Wildkarte) und der Topographische Atlas der Schweiz für die Rebberge). Die Wildkarte zeigt den Stand in der zweiten Hälfte der 1840er-Jahre, die Siegfriedkarte denjenigen der späten 1860er:

Dass zwei Trotten nie und nimmer ausreichen konnten, wird erst recht offensichtlich, wenn man sich dazu noch überlegt, wie die riesigen Mengen an Obst und Trauben innert nützlicher Frist verarbeitet werden sollten, gerade unter den Bedingungen des 19. Jahrhunderts, als es weder Kühllager noch Transportmöglichkeiten (wie die Eisenbahn) und man daher längst nicht den gesamten Ertrag an gewerbliche und industrielle Verarbeiter weit ausserhalb des Gemeindegebiets liefern konnte.

Aufzeichnungen der Gebäudeversicherung bringen Licht ins Dunkel

Wie die laufenden Auswertungen der Lagerbücher der kantonalen Gebäudeversicherung zeigen, konnte man in Weiach in der Mitte des 19. Jahrhunderts nicht nur zwei, sondern mindestens sechs Trottwerke finden (und das waren auch nur die versicherten unter ihnen, d.h. grössere, fix installierte Anlagen, teilweise in einem eigens dafür vorgesehenen Gebäude). 

Geordnet nach dem Nummerierungssystem 1809 sind dies (Originalwortlaut in kursiver Schrift):

  • N° 1b; Oberdorf
    doppelte Scheune, Stall & Trotte. Letztere war 1834 zu 200 Gulden versichert. Später wurden Wohnräume eingebaut und dafür das Trottwerk 1879 abgetragen. Am 27. Januar 1884 ist das Gebäude abgebrannt. Diese Trotte stand direkt neben der Mühle im Oberdorf, mutmasslich im heutigen Garten gegen das Haus Müliweg 4 (erstellt 1922; Wohnhaus von Walter Zollinger).
  • N° 1e; Leewingert
    Trottgebäude und Trottwerk.
    Heutiges Gebäude: Trottenstrasse 7. Diese Trotte gehörte ursprünglich ebenfalls zum Eigentum der Müller- und Untervogts-Dynastie Bersinger, wie man an der Nummer ablesen kann.
  • N° 36; Bey der Linden
    Diese Anlage bestand (wenn unscharfe Negativfoto ab Mikrofilm StAZH RR I 575.1 nicht täuscht) schon ab 1812. Im Jahre 1831 wurde der Vermerk «Die Trotte f. 200 inbegriffen» eingetragen. 1842 bis 1876 wird im Lagerbuch 1 Trottwerk genannt (PGA Weiach IV.B.06.01), danach fehlen einschlägige Einträge. Erst 1952 ist im Lagerbuch wieder von einer «Weinpresse» die Rede (Lagerbuch 1895-1954; PGA Weiach IV.B.06.02). Heutiges Gebäude: Oberdorfstrasse 7, bis 1830 Gasthof zum Sternen; sog. Alter Sternen, seit über 200 Jahren im Eigentum von Angehörigen der Familie Schenkel, die sich u.a. als Wirte und Tierärzte betätigt haben.
  • N° 68d; Unten in Kellen
    Trotthaus,Trotthausstüblianbau, Trottwerk (Einträge ab 1853); zwischen 1866 und 1871 geschlissen. Diese Trotte gehörte zwischen 1834 und 1863 den Gebrüdern Rudolf & Hans Heinrich Meyerhofer. Wo genau sie gestanden hat, ist noch ungeklärt. Aufgrund der Nummerierung ist zur Zeit der Einführung der Nummern (1809 oder früher) vom selben Eigentümer auszugehen. Eine räumliche Nähe zu N° 68a&c (heute Chälenstrasse 6) und N° 68b (heute Riemlistrasse 3) ist nicht zwingend anzunehmen (vgl. die Trotte Leewingert, die 150 m Luftlinie vom Hauptgebäude der Mühle entfernt ist).
  • N° 78c; An der Tobiasgass
    Trotthaus mit Trottstübli, Trotthausanbau, Trottwerk (Eintrag von 1853). Diese Trotte gehörte damals Jakob Meier, Küfer und dürfte, nach der Nummer zu schliessen, in der Chälen gestanden haben. Das Gebäude wurde 1858 «gänzlich geschlissen». Da dieses Gebäude das einzige in den Lagerbüchern ist, das diese Ortsbezeichnung trägt und der Autor auch sonst bisher an keiner andern Stelle darauf gestossen ist, kann sich die Tobiasgass auch im Büel oder Oberdorf befunden haben, wenn man die Gepflogenheit, Nummern mit Indizes den Eigentumsverhältnissen entsprechend zu vergeben, in Betracht zieht.
  • N° 87c; Hafnergass
    Trotthaus, Trottwerk, Holzhaus & Schweinställe (Eintrag von 1852). Dieses Gebäude gehörte 1834 «Jac. Baumgartner Gdamm»  (Gemeindeammann war damals die Bezeichnung für den Gemeindepräsidenten), also einem Mitglied der dörflichen Oberschicht. 1852 werden als neue Eigentümer genannt: «Heinrich & Ulrich Baumgartner, Zunftgerichtspräsidenten Söhne», 1858 nur noch Ulrich, der den Namenszusatz «alt Präsidentens» erhielt. Als Hafnergass wurde damals der unterste Teil der heutigen Stockistrasse bezeichnet, ca. bis auf die Höhe, wo die Zelglistrasse abzweigt. Im Lagerbuch 1895-1954 wird das Gebäude unter der Ortsbezeichnung Kellen geführt und mit «Trotthaus u. Speicher, Weinpresse» beschrieben.
    Dieses Gebäude ist am 7. Januar 1929 abgebrannt, zusammen mit den Gebäuden 87b und 87d. Wo genau sein Standort war und wo danach die von Ruth Schulthess-Bersinger 1941 beschriebene bessere Trotte gestanden haben soll, ist ungeklärt. Mutmasslich in der Liegenschaft N° 87a, heute Stockistrasse 4. Dieses Gebäude kam beim Brand 1929 laut Eintrag im Lagerbuch mit einem kleinen Schaden von 80 Franken davon, was für eine unmittelbare Nachbarschaft spricht.

Quellen

  • Lagerbuch Weiach der Gebäudeversicherungsanstalt des Kantons Zürich, 1812-1895. -- Staatsarchiv des Kantons Zürich. Signatur: StAZH RR I 575.1.
  • Brandassekuranzlagerbuch der politischen Gemeinde Weiach, 1834-1894. -- Archiv Pol. Gde. Weiach, Signatur PGA Weiach IV.B.06.01.
  • Lagerbuch 1895-1954 (auf der Umschlagvignette: Gebäudeschätzungsprotokoll 1895- sowie Bd. II) -- Archiv Pol. Gde. Weiach, Signatur PGA Weiach IV.B.06.02.
  • Zitat von R. Schulthess-Bersinger, vgl.: Brandenberger, U.: «Die Trotte im Oberdorf war unser Eigentum». Ein Vortrag von Ruth Bersinger an der Bezirksschule, November 1941 (Teil 2). Weiacher Geschichte(n) 89. In: Mitteilungen für die Gemeinde Weiach, April 2007 – S. 9-12. Hier: Gesamtausgabe S. 329.

Sonntag, 27. November 2022

Jetzt kommt die Glettise-Polizei!

«In der Schweiz würde man eine schwere Strommangellage daran erkennen, dass Frauen und Männer mit zerknitterten Blusen und Hemden herumlaufen. Bereits in der zweiten Eskalationsstufe könnte der Bundesrat den Haushalten zwecks Stromsparen verbieten, ihre Kleider zu bügeln.»  -- Christof Forster (NZZ Online vom 23.11.2022)

In alten Häusern findet man sie noch. Elektrische Installationen, bei denen ein ganzes Wohngeschoss samt Küche an gerade einmal einer einzigen 6 A-Sicherung hängt. Wer das nicht mehr im Kopf hat und Mikrowelle und Wasserkocher gleichzeitig betreiben will, dem haut es die Sicherung heraus. Nur eine einzige Steckdose in der Wohnung hat dann noch Strom: die für das Glettise (schweizerdeutsch für: Bügeleisen). Diese Steckdose verfügt über eine separate Absicherung. Und früher wurde auch der Strom für diese Dose anders abgerechnet. Weil halt so ein Glettise im Einsatz viel mehr Strom zupft als eine Glühbirne. Deren Anzahl vor hundert Jahren übrigens auch den Strompreis mitbestimmt hat.

Schlafwandler am Aufwachen

Für die meisten heute Lebenden sind solche Begrenzungen Erzählungen aus grauer Vorzeit. Gedanken macht sich darüber kaum eine(r). Der Strom kommt halt eben aus der Steckdose. Zuverlässig und auf Knopfdruck (solange man die Rechnung bezahlt). Nur deshalb ist die erratische Politik der letzten Jahre überhaupt denkbar geworden. Wären grössere Teile der Stimmberechtigten wacher gewesen und hätten sich zeitig für eine kohärente Stossrichtung eingesetzt, dann wäre der zum Scheitern verurteilten Energiestrategie 2050 schon längst der Stecker gezogen worden. Aber auch in der Schweiz woll(t)en allzu viele Zeitgenossen glauben, man könne grüne Stromträume mit explodierendem Bedarf locker in Einklang bringen. 

Die letztlich bewusst herbeigeführte Instabilität der europäischen Stromversorgungsnetze hat nun – kombiniert mit ständig steigendem Verbrauch – dazu geführt, dass sich die Schweizer Elektrizitätswirtschaft (v.a. der VSE), das Bundesamt für Wirtschaftliche Landesversorgung (BWL), die OSTRAL (Organisation für Stromversorgung in Ausserordentlichen Lagen) und letztlich der Bundesrat in den letzten Monaten sehr intensiv Gedanken machen. Die Herausforderung: wie kann man die inländischen Netze vor dem Zusammenbruch schützen, wenn die Netze europäischer Partner kollabieren und man selber nicht genug produzieren kann?

Wenn es in den Strassen regelmässig knattert

Wenn die heimische Produktionskapazität nicht mehr ausreicht und man die Differenz zur eigentlich nachgefragten Menge (selbst unter Einsatz von beträchtlichen Finanzmitteln) nicht importieren kann, dann sind turnusmässige Abschaltungen ganzer Städte und Regionen letztlich das einzige Mittel, um den Zusammenbruch abzuwenden. So praktiziert das der Kosovo aus Geldmangel schon seit über 20 Jahren. Wenn die heimische Braunkohle (wegen schwankendem Energiegehalt) nicht genügend Strom hergibt, dann muss kontingentiert werden. Die Kosovaren sind sich das gewohnt. Wer während den reihum gehenden Abschaltperioden Strom braucht, der hat ein Aggregat. Das hört man dann auch. Denn dann knattert vor oder hinter vielen Häusern ein privates Kleinstkraftwerk.

«Mikromanagement»«Verbotsorgie»?

Um es nicht so weit kommen zu lassen, muss man an vielen Punkten den Hebel ansetzen. Auch und gerade beim Verbrauch: den Zwecken, für die elektrischer Strom eingesetzt wird, aber auch bezogen auf die Charakteristika der Strom verbrauchenden Applikationen (Einschaltstrom, etc.). 

Wie breit die in Helvetien nun geplanten Massnahmen aufgegleist sind, zeigt die Medienmitteilung vom 23. November. Im Anhang findet man da verschiedene Verordnungen, die auf dem Landesversorgungsgesetz (LVG; SR 531) basieren sowie – besonders wichtig – die dazugehörenden Erläuterungen (im juristischen Fachjargon «Kommentar zu...» genannt)

Nun schnöden Schreiberlinge im Solde der Alten Tante von der Falkenstrasse (a.k.a. NZZ) selbst im Newsteil ihrer Zeitung in geradezu populistischer Manier über die ins Alltagsleben des Bürgers eingreifenden Massnahmen. 

Die eingangs zitierte Passage stammt aus einem Artikel, der nicht als Kommentar gekennzeichnet ist. Forster konnte sich den Begriff Mikromanagement dennoch nicht verkneifen. Im Kommentar selber setzt sein Kollege David Vonplon noch einen drauf:

«Erst jetzt, kurz vor Wintereinbruch, hat Wirtschaftsminister Guy Parmelin endlich sein Massnahmenpaket vorgelegt, das die Versorgung in einem solchen Extremszenario sicherstellen soll.»

«Extremszenario»?

Hätte Larmepain, wie er verwaltungsintern auch zuweilen genannt wird, die Massnahmen bereits vor Monaten kommuniziert, dann wäre dies mit Sicherheit auch kritisiert worden. Als verfrüht, überhastet, was auch immer. Denn die Lageentwicklung war und ist ja eine durchaus dynamische. Dafür sorgt schon die von skrupellosen Ideologen befeuerte Energiepolitik in unserem nördlichen Nachbarland. Hand in Hand mit den Folgen des Krieges um die Ukraine. Man wusste also noch im Sommer nicht, wie es herauskommen würde (das war erst nach dem Nordstream-Attentat klarer). 

Was NZZ-Journi Vonplon offensichtlich nicht ganz verstanden hat: Das wirkliche Extremszenario wäre ein mehrere Tage oder gar Wochen dauernder landesweiter Blackout, ein totaler Stromausfall in allen 26 Kantonen. Und damit verbunden ein Zivilisationsbruch von potentiell apokalyptischen Ausmassen. 

Aber selbst eine Strommangellage (vor der man unser Land mit diesen Massnahmen zu wappnen sucht) wäre gemäss Nationaler Risikoanalyse Katastrophen und Notlagen Schweiz 2020 ein Ereignis, das die Kosten der Corona-Massnahmen in den Schatten stellen könnte (vgl. das Gefährdungsdossier Strommangellage des Bundesamts für Bevölkerungsschutz BABS).

Nationale Risikoanalyse «Katastrophen und Notlagen Schweiz». Gefährdungsdossier Strommangellage, S. 12.

Schon beim oben dargestellten Szenario Gross (12 Wochen Strommangellage mit 30 % Unterdeckung des Bedarfs und zwei Wochen turnusmässigen Abschaltungen) gehen die Experten von aggregierten Schäden im Bereich von 300 Milliarden Schweizer Franken und mehr aus. Da gibt es aber auch noch ein Szenario Extrem. Und selbst dieses basiert lediglich auf einer viermonatigen Unterdeckung von 40 %, dafür aber Netzabschaltungen während 4 Monaten.

Es braucht einen Sinneswandel

Nur zur Erinnerung: die von der NZZ kritisierten Eskalationsstufen-Massnahmen (vgl. Bild unten) mögen vielleicht wie Tropfen auf heisse Steine aussehen. Aber diese Stufen sind auch nur vorbeugende Vorkehren, um das oben beschriebene Strommangel-Szenario à la Kosovo abzuwenden, das notabene auch in vielen anderen Ländern dieser Welt den Alltag prägt, bspw. in der durchaus industrialisierten Republik Südafrika.

Eines der wichtigsten Steuerungsinstrumente ist nun einmal das Verhalten der privaten Verbraucher, die jetzt im Schnellverfahren (wieder) lernen müssen, welche ihrer Strom fressenden Applikationen wie gravierende Auswirkung auf die Netzstabilität haben. Entweder indem sie sehr viele Kilowattstunden fressen oder einen hohen Einschaltstrom fordern, bspw. wenn der Kompressor anläuft.


Abbildung: Das Glettise-Verbot. Ausschnitt aus der Vernehmlassungsversion der Verordnung über Beschränkungen und Verbote der Verwendung elektrischer Energie (Anhang 2 über Totalverbote im Eskalationsschritt 2)

Ohne ein ordentliches Krisenbewusstsein wird eine Kontingentierung umso unausweichlicher. Wie bei Allmenden, die nicht übernutzt werden dürfen, weil nur eine begrenzte Menge Grünfutter darauf wächst, so muss auch bei der Elektritzitätsversorgung ein Bewusstsein dafür geschaffen werden, dass das System an die Grenze gekommen ist. Wenn nötig, mit dem Holzhammer! Die Regelungen, die dabei für den Durchschnittseinwohner herauskommen, mögen kleinlich wirken. Wichtig sind sie dennoch. Und wenn nicht materiell, so doch zumindest psychologisch.

Um den Kreis zum Eingangsstatement zu schliessen: Dieses Lamento über zerknitterte Blusen und Hemden kann auch nur von Angehörigen der komplett abgehobenen Krawatten- und Foulardträger-Kaste (oder einem ihrer Domestiken) herausgeblasen werden. Für die Büezer an der Basis wirken diese Zeitgenossen je länger je mehr wie die Perückenträger des Ancien Régime (vgl. WeiachBlog Nr. 828).

Quellen