Samstag, 1. April 2023

Ulrich Herzog (28) mit der «Atlantic» untergegangen

Die «Atlantic» war plakativ formuliert so etwas wie die «Titanic» des 19. Jahrhunderts. Ein (für die Erstklasspassagiere) luxuriöses, modernes Schiff. Untergegangen infolge von Fehlern der Crew. Beide wurden sie von der White Star Line betrieben und beide wurden in derselben Werft (Harland & Wolff in Belfast) gebaut.

In Dienst gestellt hat man die «Atlantic» Anfang Juni 1871. Und bereits im April 1873 war sie Geschichte.

Holzstich aus Harper's Weekly, April 1873

Dieses Schiff wurde aus Stahl gefertigt und erhielt seinen Hauptantrieb durch eine vierzylindrige Dampfmaschine mit 600 PS und 11 Kesseln. Sie verfügte ausserdem über vier mit Segeln ausgestattete Masten. Das Leben an Bord verteilte sich auf 3 Decks, spartanisch eingerichtet für die breite Masse, höchst luxuriös für die Oberschicht. Die mit Teakholz ausgeführten Wände der Kabinen und Aufenthaltsräume der Ersten Klasse waren mit Damast bespannt und mit Blattgold verziert.

Vor Halifax auf eine Klippe aufgelaufen

Auf ihrer letzten Fahrt sollte die «Atlantic» nach New York übersetzen. Nach der Abfahrt in Liverpool am 20. März 1873 kam der Dampfer auf seiner 19. Atlantikquerung gut voran, geriet aber am 26. März vor der Küste von Nova Scotia in einen heftigen Sturm, der mehrere Tage anhielt. 

Am 31. März entschied sich der Kapitän, ausserplanmässig.den Hafen Halifax anzulaufen um dort Kohlen zu bunkern. Durch schweren Wellengang und heftige Winde wurde das Schiff vom Kurs abgetrieben und verpasste die Einfahrt in die Bucht von Halifax. Diesen Umstand bekam der Kapitän jedoch nicht mit. So rammte sein Schiff am 1. April mitten in der Nacht an der Felsenküste ein Unterwasserriff namens Marr’s Rock.

Diese Klippe wurde vielen Passagieren der «Atlantic» zum Verhängnis. Durch die hohen Wellen wurde das Schiff mehrmals angehoben und erneut gegen die Klippen geworfen. Da viele zum Zeitpunkt der Havarie unter Deck schliefen und das Haupttreppenhaus geflutet wurde kamen etliche gar nicht erst aus dem Schiff heraus. Zahlreiche Passagiere wurden von Bord gespült. Die zu Wasser gelassenen Rettungsboote wurden mehrheitlich weggespült oder zerschellten an den Felsen. 

Keine einzige Frau und nur ein Kind haben überlebt!

Da das Schiff nur gerade 50 Meter vom Ufer entfernt auf dem Felsen festsass, gelang es einem Offizier mit einigen Mannschaften, eine Seilverbindung zum Land aufzubauen. Auf diese Weise konnten Dutzende Menschen gerettet werden. Weitere wurden von Fischerbooten gerettet. Beim fünften Anprall auf die Klippe kenterte die «Atlantic» und sank.

Die traurige Bilanz dieser Sturmnacht an einer Halbinsel südwestlich von Halifax (laut Wikipedia): 545 Tote, darunter alle Frauen und - bis auf einen Knaben - alle Kinder. Weiter 19 von 31 Erstklasspassagieren. Überlebt haben 412 Personen, darunter fast alle Mitglieder der Besatzung. Die Opferzahlen variieren je nach verwendeten Quellen (s. unten die Angaben auf der Gedenksäule). Es dürften sich insgesamt rund 950 Personen auf dem Schiff aufgehalten haben.

Rauschen im Blätterwald

Die Schiffskatastrophe war am Zielort des Ocean-Liners natürlich Schlagzeilenthema Nr. 1. So in der New York Times (NYT):

«AN AWFUL DISASTER. Total Wreck of the White Star Steam-Ship Atlantic-Over Seven Hundred Lives Lost», titelte die Zeitung am 2. April (vgl. PDF-File verlinkt in Wikipedia). In den folgenden Tagen veröffentlichte die NYT Passagierlisten.

Und natürlich kam auch bald der Skandal ans Licht, dass nur Männer überlebt hatten: «THE WRECKED ATLANTIC; Personal Narratives--The Hatches Battened Down on Women and Children--Inhuman Conduct of the Crew.» (NYT 06-Apr-1873)

Grosse Aufregung: Wer ist schuld?

Die Untersuchungskommission lastete die Schuld mehrheitlich dem Kapitän und seinen Offizieren an. Insbesondere wurde kritisiert, dass offenbar nicht so viel Kohle geladen war, wie der Kapitän dies behauptet hatte. Weiter wurden der Besatzung Navigationsfehler sowie das Unterlassen der Besetzung zusätzlicher Ausgucke trotz schlechter Sicht vorgeworfen.

So schreibt die St. Galler Zeitung am 9. April 1873: «Der erste Lieutenant des "Atlantic", dem im Momente der Katastrophe die Führung des Dampfers anvertraut war, ist nicht umgekommen, sondern wurde am Nachmittage nach dem Unglücke im Tackelwerk des Wracks gefunden und ans Land gebracht. Falsche Berechnung von Fahrgeschwindigkeit und Strömung sollen einen falschen Kurs zur Folge gehabt haben. Die Aufregung an den englischen Häfen ist groß. Offiziere und Mannschaft sowohl als auch die Kompagnie selbst kommen in der Presse nicht am besten weg. Wer die eigentlichen Schul[d]igen sind, wird jedenfalls erst durch die angehobene gerichtliche Untersuchung ermittelt werden.»  (vgl. auch New York Times, 19. April 1873: «THE ATLANTIC DISASTER; Decision of the Halifax Commission Careless Before, Brave After the Wreck Capt. Williams Suspended.)

Abgleich der Namenslisten erweist sich als schwierig

Die Immigrant Ships Transcribers Guild führt ein ganzes Seitenbündel zu diesem Unglück. Dort kann man sehen, dass sich der Abgleich all dieser Listen als nicht gerade einfach erweist. Denn häufig wurden die Namen so geschrieben, wie sie halt für den Schreiben tönten.

Auf Seite 4 von 7 ist unter den STEERAGE PASSENGERS LOST auch der im Titel dieses Artikel erwähnte junge Weiacher aufgeführt. Er erscheint mit Nr. 679 in der New York Times vom 4. April als «Ulrich Herzog».

«Steerage» steht als Begriff für das Zwischendeck. Google Translate beschreibt dieses Deck als 
«the part of a ship providing accommodations for passengers with the cheapest tickets». Auf diesem haben sich die meisten Passagiere aufgehalten. Viele von ihnen waren Auswanderer.

Ein Friedhof für fast die Hälfte der Opfer

Wo Ulrich Herzog begraben wurde und ob man seine Leiche überhaupt je gefunden bzw. identifiziert hat, ist nicht bekannt. Es könnte sein, dass sich sein Grab im «SS Atlantic Heritage Park» (180 Sandy Cove Road, Terence Bay, Nova Scotia, Canada B3T-1Y5) befindet:

«The Ismay family donated the monument pictured below in 1915; Thomas Henry Ismay was the founder of the White Star Line, which owned the SS Atlantic. The monument reads:



Near this spot
was wrecked the
S.S. 'Atlantic'
April 1st, 1873
When 562 persons
perished, of whom 277
were interred
in this church yard.

This monument is
erected as a sacred memorial
by a few sympathetic friends.

Jesus said
'I am the resurrection and the life.'




Die Kunde vom Unglück gelangt auch in die Heimat der Auswanderer

Bereits am 2. April berichtet die Neue Zürcher Zeitung in ihrem Zweiten Blatt des Tages (Nr. 168) unter der Rubrik «Telegramme»: 

«Paris, 2. April. Der Dampfer „Atlantic“ mit 1000 Personen an Bord hat bei der Mars-Insel neben Canada Schiffbruch gelitten. Man versichert, es seien 700 Personen ertrunken

Eine der ersten Schweizer Zeitungen (so ergibt es zumindest aktuell die Suche bei e-newspaperarchives.ch), die über die aus dem Kanton Zürich stammenden Opfer des Unglücks berichtet hat, ist seltsamerweise das Berner Intelligenzblatt vom 23. April 1873, S. 5:

«Auf dem verunglückten Auswandererschiff "Atlantic" befanden sich laut "Z.Pr." auch eine Anzahl Zürcher. Nach Mittheilungen des "Volksfreunds" sind von Letzteren gerettet: Lee von Glattfelden; Schmid von Glattfelden; Albrecht von Stadel und Mülli von Schöfflisdorf.
Vermißt werden: Herzog, Sattler von Weiach und Heinrich Meier von Glattfelden.
»


Die Züricherische Freitagszeitung, Nummer 17, 25. April 1873 - S. 3 bringt nur die Herkunftsorte der vom Unglück betroffenen Zürcher, differenziert aber nicht zwischen Geretteten und Ertrunkenen:

«Auf dem untergegangenen Auswanderungsschiff „Atlantic" befanden sich auch einige Zürcher von Glattfelden, Schöfflisdorf, Stadel und Weiach; vier werden als gerettet, zwei als vermißt bezeichnet.» 

Erbschaftskurier überlebt, aber das Geld ist weg

Über die konsularisch-diplomatischen Kanäle gelangten die Informationen über vom Schiffsunglück direkt betroffene Schweizer via Bern auch nach Zürich. 

Am 28. April (vom Kanzlisten irrtümlich auf einer mit 26. April 1873 vordatierten Seite des Regierungsratsprotokolls notiert) findet man die Zuschrift des Bundesrates «betr. die beim Untergang des Schiffes Atlantic verunglückten Zürcher»:


«Der Bundesrath theilt mit Zuschrift vom 25. dieß auf Grund eines Berichtes des schweiz. Konsulates in New-York und unter Vorbehalt späterer genauern Mittheilungen, die Namen der zürch. Angehörigen mit, welche beim Schiffbruch des Dampfers Atlantic in der Nacht vom 31. März/1. April in der Nähe von Halifax umgekommen oder gerettet worden sind, nämlich:

1. Umgekommen:
Albrecht Heinrich von Stadel 28 Jahre alt
Herzog Ulrich, von Weiach 28 Jahre alt
[...]
2. Gerettete»[Auszug mit den Unterländern]
Von Glattfelden: Schmid Jakob (31), Meier Heinrich (32), Lee Rudolf (29)
Von Schöfflisdorf: Mülli Albrecht (22) und Mülli Johann (22)

Ein Vergleich mit dem Intelligenzblatt (s. oben) ergibt, dass laut behördlichen Erkenntnissen der Stadler Albrecht und nicht der Glattfelder Meier ums Leben gekommen ist.

«Im Weitern fügt der Bundesrath bei; Die Geretteten seien inzwischen in New-York eingetroffen, von der dortigen schweiz. Hülfsgesellschaft aufs Beste aufgenommen worden und hätten dann, jeder mit 10 Dollar Reisegeld versehen, ihre Weiterreise ins Innere des Landes unternommen. Lee von Glattfelden soll in der Heimat, wohin er aus Amerika auf Besuch gekommen, kürzlich eine Erbschaft von Fr. 6 000 erhalten haben, welche er in Baarschaft bei sich getragen und bei der Katastrophe natürlich verloren habe.»

Unter Verwendung von Swistoval.ch, dem Swiss Historical Money Value Converter der Uni Bern, beläuft sich diese Summe von 6000 Franken umgerechnet nach dem Historischen Lohnindex HLI auf heutige Werte auf rund 325'000 Franken.

«Es wird verfügt: [...] II. Den Gemeindräthen der übrigen interessirten Gemeinden [u.a. Weiach] wird von vorstehendem Berichte Kenntniß gegeben.»  (StAZH MM 2.200 RRB 1873/1024)

Wie viele tote Schweizer sind es wirklich?

Derweil versuchte man immer noch, die Passagierlisten mit den Listen der Geretteten und Umgekommenen abzugleichen, was alles andere als einfach war. Die Opferzahl umfasste nach einem Monat 62 Schweizerbürger, wie die Neue Zürcher Zeitung, Nummer 219, 2. Mai 1873 berichtet:

«Schiffbruch des Atlantic. Das Bundesblatt vom 29. April führt unter den ca. 600 Ertrunkenen des Atlantic 62 Angehörige der Schweiz auf, darunter zwei Zürcher, nämlich Hrch. Albrecht von Stadel, 28 Jahre alt und Ulrich Herzog von Weiach, 28 Jahre alt. 
Der schweiz. Konsul in Liverpool ist vom Bundesrathe beauftragt, sorgfältige Erkundigungen über die Zahl und die Namen der Schweizer einzuziehen, welche sich auf dem Atlantic eingeschifft haben.»

Das entspricht den Zahlen, die im Bundesblatt (BBl 1873 II 192) samt den Namen der Opfer veröffentlicht wurden.

Wieder einen Monat später publizierte dann die Zeitung Le National Suisse aus Neuchâtel in der Ausgabe Nummer 130 vom 1. Juni 1873 eine Liste, die noch 21 Opfer dazurechnete:

«En date du 23 mai, le Consul suisse à Liverpool a envoyé au Conseil fédéral une liste complète des passagers du steamer l'Atlantic, échoué le 1° avril dernier devant Halifax. Cette liste, comme toutes celles de ce genre, ne renferme que l'indication des noms, de l'âge et du port d'embarquement, sans faire mention de l'origine des passagers, de telle sorte que l'on n'a, pour découvrir leur nationalité, que le nom de famille et le lieu d'embarquement.» 


Die Gemeinden Movelier (damals bernisch, heute Kt. Jura) und Sevelen im St. Galler Rheintal waren wesentlich stärker betroffen als Weiach oder Stadel (je 1 Opfer), haben sie doch durch dieses Unglück 22 bzw. 28 ihrer Bürger verloren, darunter ganze vielköpfige Familien.

[Veröffentlicht am 25. Juni 2023 um 09:25 MESZ]

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