Sonntag, 9. August 2015

Der 1. Weltkrieg stoppte den Vormarsch des Hochdeutschen

In der Deutschschweiz ist der Dualismus zwischen Dialekt und Hochdeutsch weit verbreitet. Der Dialekt wird vor allem gesprochen (daher auch der Begriff «Mundart»). Das Hochdeutsche hingegen - auch als «Standardsprache» bezeichnet - wird vor allem geschrieben (daher der Begriff «Schriftsprache»).

Standards erleichtern zwar die Verständigung...

Dieser Blog ist ein gutes Beispiel. Er handelt von einem kleinen Fleck Erde (knapp 10 Quadratkilometer), von seiner näheren Umgebung und von den Menschen, die mit ihm in irgendeiner Beziehung stehen und gestanden haben. Wenn ich das hier Geschriebene quasi nur für die Eingeborenen vorgesehen hätte, dann könnte ich ihn auch im Zürcher Unterländer Dialekt verfassen.

Das Problem dabei: es gibt keine wirklich allgemein akzeptierte Art und Weise, schweizerdeutsche Dialekte zu schreiben. Wohl gibt es Wörterbücher für so ziemlich alle Varianten hiesiger Dialekte. Die sind aber (anders als Wörterbücher der Standardsprache wie der «Duden» oder der «Wahrig») in der Regel nicht Teil der Ausbildung an den öffentlichen Schulen.

So kommt es, dass einem oft die passenden Buchstaben fehlen, um gewisse Dialektlaute in Schrift umzusetzen. Es muss quasi jede(r) seinen bzw. ihren eigenen Weg finden. Das fördert zwar die Kreativität. Die Schwierigkeiten beim Schreiben treten dann natürlich spiegelbildlich beim Lesen eines von Dritten niedergeschriebenen Dialekttextes auf. Manchmal muss man sich das Vorliegende im Geiste (oder gar laut) vorlesen - dann versteht man auch besser was gemeint ist. Und das geht wohl nicht nur mir so.

Hochdeutsch dient also der besseren Verständigung, sowohl innerhalb des eigenen Landes (z.B. mit den Romands) als auch mit Personen aus anderen deutschsprachigen Regionen.

... aber Sprache transportiert eben auch Identität

Die Wahl der Sprachform hat jedoch nicht nur etwas mit Verständlichkeit zu tun. Sprache muss nicht nur praktische Nützlichkeit aufweisen. Es geht auch um Identität und Selbstbehauptung. Und letzteres dürfte denn auch der tiefere Grund sein dafür, dass man hierzulande eisern am Dialekt festhält - ja ihm sogar noch weitere Verbreitung verschafft und zubilligt. Dialekt ist gerade bei Lokalradios heutzutage Standard - mit Ausnahme der Nachrichtenbulletins. Selbst in den «heiligen» Sendegefässen des Staatsfernsehens SF DRS wird immer mal wieder Dialekt verwendet. Selbst im Printbereich gibt es Ansätze: die Pendlerzeitung «Blick am Abend» lässt alle paar Monate eine Ausgabe in Dialekt schreiben.

Das muss erlaubt sein, schliesslich ist Deutsch auch aufgrund der von vielen Kleinstaaten geprägten Geschichte der deutschsprachigen Landen von Niederösterreich über Sachsen, Vorpommern, Schleswig-Holstein und das Rheinland bis ins Südtirol und Oberwallis eine sogenannt plurizentrische Sprache. Eine Sprache mit vielfältigsten dialektalen Färbungen, wie sie eigentlich ganz natürlich ist (beim Französischen war das früher auch noch viel eher der Fall).

Standardisierung ist ein imperiales Konzept. Eine Vereinheitlichungsmaschine, die grosse Landstriche und Bevölkerungsmassen auf Linie bringen soll. Mit ähnlichen Sprachen können Nationen zusammengezimmert werden, wegen besserer Verständigung und der Schaffung einer neuen Identität. Die gewonnene Schlagkraft kann dann in die Eroberung von Kolonien - oder sonstige Ausdehnung der eigenen Einflusssphäre umgesetzt werden. Standardsprache ist kulturelle Machtentfaltung.

Zerreissprobe Erster Weltkrieg

In der prosperierenden, langen Zeit relativen Friedens von 1871 bis 1912 spürte man in der Schweiz zwar die Muskeln des Deutschen Reichs, fühlte sich aber nicht unmittelbar bedroht. Mit der auf globalen Massstab ausgeweiteten Neuauflage des Konflikts Deutschland - Frankreich stellte sich aber die Frage, ob man nun deutsch sei oder französisch. Oder eben etwas Eigenes.

Die Eliten beidseits des Röstigrabens, die die jeweilige Standardsprache der grossen Hegemonialmächte zur kulturellen Abgrenzung von den niederen Ständen verwendeten, mussten sich entscheiden. Und sie entschieden sich für die Schweiz. Für ein Land mit sprachlichem Erbe aus mindestens drei nationalen Kulturkreisen (Deutschland, Frankreich, Italien) aber eben eigener Identität.

Historischer Zufall?

Die Frage der Journalistin Julia Wartmann von der Limmattaler Zeitung: «Warum wird in der Schweiz überhaupt noch Dialekt gesprochen, während in Deutschland die Standardsprache dominiert?» wurde von der Sprachwissenschaftlerin Ingrid Hove wie folgt beantwortet:

«Die Tatsache, dass in der Schweiz immer noch Mundart gesprochen wird, ist ein historischer Zufall. Im 18. und 19.  Jahrhundert hatte sich das sogenannte Hochdeutsch als Alltagssprache in Deutschland ausgebreitet, und zwar tendenziell von Norden nach Süden. Diese Entwicklung war zu Beginn des 20. Jahrhunderts sogar in Basel und Zürich angekommen.

Mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs distanzierten sich die Schweizer jedoch bewusst von Deutschland und behielten ihre Dialekte bei. War man vor etwas mehr als hundert Jahren noch davon überzeugt, dass sich die Standardsprache auch in der Schweiz als Alltagssprache durchsetzen würde, ist eine Abwendung vom Schweizerdeutschen heutzutage nicht in Sicht

Wenn man den 1. Weltkrieg als Zufall ansieht, dann ist wohl auch der Entscheid für den Dialekt einer.

Ich glaube allerdings, dass diese Entwicklung angesichts der Grundkonstruktion der Schweiz als eine Art Antithese zum Konzept «sprachlich homogener Nationalstaat» zwingend war. Zur Sicherung seines Überlebens ist unser Land nun einmal auf eine eigene Identität angewiesen. Und die ist letztlich auch eine Frage des eigenen sprachlichen Ausdrucks. Ein mündlicher Aufstand gegen alle Standardisierungsversuche.

Quelle

Keine Kommentare: