Dienstag, 31. Oktober 2023

Rente für einen königlich-sizilianischen Veteranen?

War Konrad Bersinger, geboren 1829, ein Abenteurer? Eine Art Aussteiger auf Zeit war er auf jeden Fall. Von seiner untreuen Frau, deren neuem Partner und dem heimatlichen Weiach hatte er im Spätherbst 1855 die Nase gestrichen voll, meldete sich auf einem Werbebüro in Hohentengen als Söldner und verschwand nach Süditalien (vgl. Weiacher Geschichte(n) Nr. 29, S. 47-48.).

Schon damals, mit 26 Jahren, wollte Konrad aber die Brücken zur Heimat nicht abbrechen. Es war ihm wichtig, dass die kantonalen Militärbehörden nicht etwa einen falschen Eindruck von ihm bekämen. Und so beschrieb er die Gründe für seinen Entscheid in Fremde Dienste beim Königreich beider Sizilien zu treten, in einem Brief, den er auf dem Weg nach Neapel verfasst und abgeschickt hat, und der mit den Akten der Zürcher Militärverwaltung ins Staatsarchiv auf dem Milchbuck gelangt ist (StAZH Q I 138, vgl. Quellen unten).

Militärdiplom des Schweizer-Regiments Bessler

Dass er tatsächlich kein Hallodri war, das zeigt sich in einer Akte, die im Schweizerischen Bundesarchiv zu finden ist und zu einem Zeitpunkt entstanden ist, als er bereits im 75. Altersjahr stand. Darin ist nämlich sein Militärdiplom erwähnt, das auf eine Dienstzeit von knapp unter 3 3/4 Jahren hinweist:


Unter beeindruckendem Briefkopf wendet sich der Kanton Zürich am 7ten Dezember 1904 an die «Tit. Schweizerische Bundeskanzlei» (Tit. steht für Titulatur, als Platzhalter für allerlei Höflichkeiten, die man sich im täglichen Amtsverkehr auf diese Weise erspart hat):

«Hochgeachtete Herren.

Konrad BERSINGER, geboren 1829, von Weiach, wohnhaft in Seebach, lässt uns beiliegenden Militärabschied, dat. Palermo den 21. August 1859, nach welchem er von 1855 bis 1859 im Schweizer-Regiment Bessler (2. Bat. 7. Comp.) des Königreichs beider Sicilien gedient hat, vorlegen und uns um unsere Vermittlung zu seinen Gunsten ersuchen, da ihm gesagt worden sei, dass in der letzten Zeit (vor einigen Monaten, vielleicht auch schon vor einem Jahre) ein Vermögen an die Angehörigen jener Regimenter zur Verteilung gelangt sei. Nähere Angaben kann Bersinger leider nicht machen. Da hier von solchen Auszahlungen nichts zu eruiren war (in den Zeitungen war unseres Erinnerns nur von päpstlichen Regimentern die Rede), erlauben wir uns, die Angelegenheit Jhnen zu unterbreiten, mit der ergebenen Anfrage, ob vielleicht dort etwas von der Sache bekannt ist, oder eventuell gesagt werden kann, wer darüber authentischen Aufschluss zu geben in der Lage wäre.

Jndem wir für Jhre gefälligen Bemühungen Jhnen zum Voraus bestens danken, sehen wir Jhrem gefl. Berichte unter Rückschluss der Beilage gerne entgegen.

Mit vorzüglichster Hochschätzung
Für die Direktion der Justiz & Polizei:
Der I. Sekretär: gez. Dr. E. Gysler
»

Die Bundeskanzlei reichte das Schreiben postwendend an das Politische Departement weiter, das seit 1979 die Bezeichnung Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) trägt.

Von dort ging die Anfrage weiter nach Rom an die Légation de Suisse en Italie (also die Schweizer Botschaft in Italien), die damals an der Via Firenze 48 domiziliert war.

Schweizer Truppen in neapolitanischen Diensten

Bereits im 18. Jahrhundert gab es ein Regiment Bessler, das damals noch wie ein Privatunternehmen direkt mit dem spanischen Könighaus der Bourbonen einen Vertrag abgeschlossen hatte (sog. Privatkapitulation). Mit Hilfe dieses Regiments eroberte der spanische Infant (Thronfolger und späterer König Karl III.) im Jahre 1734 das seit dem Hochmittelalter bestehende Königreich, das sich über den Süden des heutigen Italiens erstreckt. Zur Sicherung seiner Herrschaft waren ab diesem Zeitpunkt Schweizerregimenter in Süditalien im Einsatz. Damit war es dann 1789 vorbei, weil die Schweizer Militärunternehmer dem König zu teuer wurden und er sich andere Vertragspartner suchte.

Dann kam die Zeit der Revolutionskriege, die erst mit dem Wiener Kongress 1815 zu Ende ging. Nach der Wiedereinsetzung der Bourbonen in ihre Herrschaft wurden 1825 auch wieder Schweizerregimenter aufgestellt, diesmal allerdings schlossen einzelne Kantone die Verträge ab und mussten sie durch Tagsatzung genehmigen lassen.

Knallharte Disziplin wurde mit allen Mitteln aufrechterhalten

Bersinger musste sich in diesen Jahren einer strengen Führung unterwerfen. Denn dür diese Truppen galt der 1817 ebenfalls von der Tagsatzung genehmigte Strafcodex. Je nach Schwere des Vergehens wurde von einem Schweizer Militärgericht auf Hinrichtung, lebenslange Einschliessung in einer Inselfestung, Galeerenstrafe, Zwangsarbeit in einer Strafanstalt oder Spiessrutenlaufen mit Ausstossung aus dem Regiment bei vorheriger Rasur des Schnurrbarts und der Haare auf der linken Seite des Kopfes erkannt. Unter diesem Niveau hatte der Regimentskommandant die Disziplinarstrafgewalt, wobei er in eigener Kompetenz Gefängnis bis zu drei Monaten verhängen konnte.

Ein Zürcher bei den Katzenstreckern

Aufgrund der Angabe des Kommandanten zum Zeitpunkt der Entlassung aus dem Dienst kann man genau feststellen, wo Konrad Bersinger eingeteilt war: nämlich im 1. Schweizer Regiment, dem Luzerner Regiment, das den welschen Übernamen «les catze-strèque» (die Luzerner werden seit der Reformation Katzenstrecker bezeichnet, vgl. Exkurs unten vor den Quellen). Daneben gab es von 1825 bis 1859 noch drei weitere Schweizerregimenter. Das 2. Schweizer-Regiment wurde von Fribourg, das 3. von Graubünden und das 4. von den Bernern gestellt (vgl. für die Details den Wikipedia-Artikel).

Die Katzenstrecker waren ein Linienregiment von 1'452, später 1'600 Mann, aufgeteilt auf 2 Bataillone, das Bataillon mit 4 (kantonalen) Füsilierkompanien und 2 Elitekompanien (Grenadiere und Jäger oder Voltigeure). Ab 1856 war Oberst Alfons Bessler aus dem Kanton Uri Regimentskommandant und damit Namensgeber. Seine Truppe stammte zu etwas mehr als 50% aus dem Luzernischen (7 Kompanien). Zwei Kompanien stellten die Nidwaldner, je eine die Obwaldner, Urner und Innerrhödler.

Ende der Schweizerregimenter auf Druck von England und Frankreich

Mit dem Ausbruch des Zweiten Italienischen Unabhängigkeitskriegs geriet die mittlerweile zum Bundesstaat umgebaute Schweiz in eine schwierige Lage. England und Frankreich verlangten, dass die Kantone ihre Verträge mit dem Königreich beider Sizilien zu kündigen hätten, worauf die Bundesversammlung den Dienst von Schweizern in ausländischen Truppenverbänden, die nicht als nationale Truppen des sie einsetzenden Staates gelten konnten, sowie die Anwerbung für solche Dienste unter Strafe stellte. In der Folge beschloss der junge König Franz II. die Auflösung der Schweizerregimenter.

Von den 1859 rund 12'000 entlassenen Truppenangehörigen kehrte etwa die Hälfte zurück in die Schweiz, 800 Mann traten in die päpstliche Armee ein, andere liessen sich von der französischen Fremdenlegion oder von den holländischen Truppen für den Dienst im ostasiatischen Java anwerben. 1'800 Mann aber blieben in Neapel und wurden Teil der mehrheitlich von Schweizer Offizieren geführten Schweizer Fremdenbrigade. Dieser Verband wurde wieder von klassischen Militärunternehmern betrieben. Ohne Zutun und gegen den Willen der Schweizer Bundesbehörden. Bereits wenige Monate später musste das Königreich im Kampf gegen Garibaldi kapitulieren.

Falsche Seite des Konflikts. Die Antwort der Schweizer Botschaft in Rom

Und wie war das nun mit der Rente für den betagten Veteranen Konrad Bersinger? Eine solche Rente gab es tatsächlich, das Gerücht stimmte also, wie man der Antwort der Légation ans Politische Departement entnehmen kann (Schreiben vom 22. Dezember 1904):

«Monsieur le Président  [Vorsteher des Departments war 1904 Bundesrat Comtesse, der in diesem Jahr auch als Bundespräsident amtierte]

En réponse à la dépêche que vous avez bien voulu m'adresser en date du 10 de ce mois, au sujet de Conrad Bersinger, j'ai l'honneur de Vous informer que la Direction Générale du Trésor m'a communiqué ce qui suit:

La Loi No. 341 du 8 juillet 1904 a accordé une rente aux vétérans qui ont pris part aux guerres de l'indépendance italienne après la guerre de Crimée, les campagnes de 1848-49 en étant exclues.

Conrad Bersinger, appartenant auch Ier Régiment suisse Bessler, au service du Royaume des Deux Siciles, ne parait pas avoir le moindre droit à cette somme. [...]» 

Leider stand Bersinger diese Rente nicht zu, weil er auf der falschen Seite der Geschichte gedient hatte. Nach den Abklärungen der Botschaft bei der italienischen Regierung war die Rechtslage so, dass nur Veteranen des italienischen Unabhängigkeitskampfes seit dem Krimkrieg (d.h. ab 1856 und bis 1866) in ihren Genuss kommen konnten.

Exkurs Katzenstrecker

Laut dem Schweizerdeutschen Wörterbuch (Id. XI 2177) hat der im Aargau, dem Solothurnischen und im Zürichbiet gebräuchliche spöttische Übername den folgenden Hintergrund: «Chatzestrecker heißen die Luzerner, weil sie pflegten, wenn sie durch fremde Orte zogen und Katzen erwischten, dieselben zu strecken und auszubalgen, um den Balg zu Mützen zu verwenden.»; siehe hierzu auch ebd. Band XI, Spalte 2159 unten, strecken unter Bedeutung 1aγ1. Laut Idiotikon geht der Spottname womöglich auf die Reformationszeit zurück. – Aus sprachlichen und historischen Gründen umstritten ist die von der Luzerner Confiserie Bachmann mit Blick auf ihre Chatzestreckerli vertretene Ansicht, man sage den Luzernern deshalb «Katzenstrecker», weil diese über den sog. Katzenstrick nach Einsiedeln gewallfahrtet seien. Vgl. zur Etymologie des Passnamens das Schwyzer Namenbuch von 2012, Bd. 5, S. 22 (Vgl. ortsnamen.ch). – Quelle: Fussnote 8 im Artikel Kanton Luzern der Online-Enzyklopädie Wikipedia.

Quellen und Literatur

  • Zürcher in neapolitanischen Diensten, 1831-1868 (Dossier). Signatur: StAZH Q I 138. - Interne Korrespondenz der Militärbehörden des Kantons Zürich zu Conrad Bersinger: Dir ds. Milits. Prot. No. 26 d.d. 9. Januar 1856, sowie No. 234 d.d. 14. Merz 1860.
  • Schweizersoldaten in Neapel (Zürchertruppen s. Q I 138), 1857-1860. Signatur StAZH L 16.2.7
  • Eidgenössisches politisches Departement. Schutz der Schweizer im Ausland und Wahrung schweizerischer Interessen. Fremde Kriegsdienste. Pensionsangelegenheiten Bersinger, Cocatrix, Kuhn und de Vevey; 1904. Signatur: BAR-CH E2001A#1000/45#1820*.
  • «Ales half dazu daß ich fremde Dienste nahm» Der lange Weg zum Totalverbot (Reislaufen – Teil 2). Weiacher Geschichte(n) Nr. 29. In: Mitteilungen für die Gemeinde Weiach, April 2002.
  • Schweizer Truppen in neapolitanischen Diensten, Wikipedia-Artikel, Stand 12. Oktober 2023.

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