Sonntag, 13. September 2020

Dem Glücklichen schlägt keine Stunde?

Das Geläute einer Kirche hat bekanntlich vielfältige Funktionen. Am kürzesten zusammengefasst werden sie im Sinnspruch «Vivos voco, mortuos plango, fulgura frango» (Übersetzung nach Krünitz: «Die Lebenden rufe ich, die Toten beklage ich, die Blitze breche ich.»; vgl. Anmerkung und Quelle unten)

Will heissen: Glocken rufen zum Gottesdienst und/oder zum Gebet. Glocken läuten den Toten zum letzten Geleit. Und Glocken sollen Gefahren abwehren. Früher noch durch eine Art Gegenzauber, der möglichen Schaden bannt (also die Kirche selber und die Gemeinschaft um sie herum vor Blitzschlag bewahrt). Und bis ins 20. Jahrhundert hinein durch das Sturmläuten der Glocken, insbesondere bei Brandfällen, aber auch anderen grossen Gefahren (z.B. dem Einfall von Feinden).

Hilfreiche Erinnerung oder unerträgliche Bevormundung?

Mit der Einführung der Kirchturmuhren kam noch ein zusätzliches Element hinzu. Die Taktung der Zeit durch den Glockenschlag (in Weiach frühestens ab dem Einbau der Turmuhr im Jahre 1659, also auf dem Turm der alten Kirche im Oberdorf).

Der Schlag auf das klingende Metall ist sozusagen die bürgerliche Funktion des Signalgebers Glocke. Wie die Einführung der Stunden-, ja Viertelstundenschläge bei den Hiesigen angekommen ist, wissen wir nicht. Immerhin dringt die Akustik ungefragt in den jedem Menschen anders vorkommenden Zeitfluss ein. Möglich, dass auch einige Weiacher Mitte des 17. Jahrhundert nicht ungeteilte Freude daran hatten, mit hartnäckiger Regelmässigkeit über das Verstreichen einer von aussen aufgedrückten Zeit konfrontiert zu werden.

In der heutigen Zeit ist es bekannt, dass sich einzelne Anwohner einer Kirche über diese akustische Zeiteinteilung echauffieren und insbesondere die Nachtruhestörung abgestellt haben wollen. Und es kommt auch vor, dass solche Auseinandersetzungen vor Gerichten landen, die aber bislang salomonische Urteile gefällt haben.

Was auch völlig in Ordnung ist, denn das Geläute und der Viertelstundenschlag waren schon lange da, bevor sich die klagende Partei daran gestört hat. Wer da im Zweifel weichen muss, dürfte klar sein.

Elektronische Lösung möglich, aber teuer

Trotzdem kann man sich fragen, inwiefern das Glück davon abhängt, ob einem eben keine Stunde schlägt, zumindest nicht in der Nacht. Und schon gar nicht alle 15 Minuten.

Es ist, wie der Architekt der gegenwärtig laufenden Renovation der Weiacher Kirche (die auch die Turmuhr umfasst) hat verlauten lassen, durchaus machbar, die Viertelstunden- oder gar Stundenschläge des Nachts aussetzen zu lassen. Eine elektronisch programmierte Steuerung macht das möglich. Ist aber mit einigen Kosten verbunden.

Abgesehen von der Frage der Kostentragung stellt sich die grundsätzliche Frage: Ist die Tradition wichtiger? Ist das implizite «memento mori», die Erinnerung daran, dass jedem Lebewesen irgendwann das letzte Stündlein geschlagen hat, wichtiger? Oder doch die ungestörte Nachtruhe aller (auch der unmittelbaren) Anwohner?

Mit dieser Frage muss sich nolens volens auch die hiesige Kirchenpflege als Vertretung der Eigentümerin der Weiacher Glocken immer wieder von neuem befassen. Und einen salomonischen Ausgleich der Interessen finden. Denn abzuwägen ist letztlich, wann welches Ziel überwiegt.

Anmerkung und Quelle
  • Diese Inschrift auf der 1486 in Basel gegossenen 4500 kg schweren grossen Glocke des Schaffhauser Münsters hat Friedrich Schiller als Motto seinem berühmten Lied von der Glocke vorangestellt, weshalb die seit 1898 als Denkmal vor dem südlichen Querschiff stehende Glocke auch «Schillerglocke» genannt wird.
  • Stichwort Glocke, in: Krünitz, J. G.: Oeconomische Encyclopädie, Band 19, 1. Aufl. 1780, 2. Aufl. Brünn 1788.

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