Mittwoch, 2. Dezember 2020

500 Jahre St. Marien Hohentengen? Das Gotteshaus ist viel älter!

Am Sonntag, dem 2. Dezember 1520, also am heutigen Datum vor 500 Jahren, wurde die spätgotische Pfarrkirche St. Marien ennet dem Rhein in Hohentengen feierlich geweiht.

Weil wir heute nicht mehr mit dem julianischen Kalender rechnen, wie die Damaligen, ist erst am 12. Dezember nach gregorianischer Zeitrechnung exakt ein halbes Jahrtausend vergangen. Aber was sind schon 10 Tage auf mehrere Dutzend Generationen?

Es war auf jeden Fall ein grosses Ereignis für die ganze Gegend, war doch diese Kirche schon damals wohl seit mindestens einem halben Jahrtausend das spirituelle Zentrum für eine weitläufige Pfarrei, zu der nicht nur die namensgebende Stadt Kaiserstuhl und Hohentengen selber, sondern auf der linken Rheinseite auch Fisibach, Schwarzwasserstelz und Weiach, sowie auf der rechten Seite Wasterkingen, Hüntwangen, Herdern, Günzgen, Stetten, Oberhoven (Oberhof b. Bühl ennet dem Kalter Wangen?), Oeschingen (Bergöschingen), die Höfe Berchen und Türnen und sogar Küßnach gehört haben. Lienheim soll «wohl nicht sehr lange, mehr vorübergehend» zur Pfarrei Kaiserstuhl gehört haben. Bis zu seiner Abspaltung im Jahre 1421 war ausserdem Glattfelden noch Teil dieser Grosspfarrei. [Angaben nach Wind 1940, S. 18]

Nur den Weihbischof geschickt

Ein wichtiger Tag und doch liess sich der seit 1496 als Fürstbischof von Konstanz regierende Hugo von Hohenlandenberg nicht in Hohentengen blicken. Der aus der Adelsfamilie der Landenberger (mit Stammburg bei Bauma im Tösstal) stammende Hugo hatte offenbar Wichtigeres zu tun.

Er übertrug seinem Generalvikar, Weihbischof Melchior Fattlin (1518-1548 im Amt) die Aufgabe, die weitgehend neu aufgebaute Kirche zu konsekrieren, d.h. dem liturgischen Gebrauch der Gemeinde zu übergeben.

Melchior war der vierte Titularbischof von Ascalon (dem heutigen Ashkelon in Israel), ein Bistum das bereits Jahrhunderte zuvor an die Araber verlorengegangen war. Diese Würde wurde vom Papst rein formal verliehen. Und trotzdem steht dieser Titel natürlich in der Weiheurkunde, die seither im Stadtarchiv Kaiserstuhl aufbewahrt wird (Signatur: StAK Urk 141; vgl. Bild).

Bild: Südkurier, 19. Oktober 2020

Im Standardwerk Aargauer Urkunden Bd. XIII von Paul Kläui ist das Pergament als Nr. 159 auf S. 79 aufgeführt, jedoch bloss als Regest:

«1520 XII. 2. und 3. Der Generalvikar des Bischofs Hugo von Konstanz weiht die Pfarrkirche der Stadt Kaiserstuhl. - Orig. Perg. StAK Urk. 141 S. abgef. - Druck: Welti S. 73 Nr. 57»

Friedrich Emil Welti, der hier erwähnt wird, hat den vollen Wortlaut 1905 publiziert. Wir geben hier nur die ersten Zeilen wieder: 

«Melchior, dei et apostolice sedis gratia episcopus Ascalonensis, reverendi in Christo patris et domini, domini Hugonis, eadem gratia episcopi Constantiensis in pontificalibus vicarius generalis, recognoscimus per presentes, quod anno a natiuitate domini millesimo quingentesimo vicesimo, die vero secunda mensis decembris, insignia pontificalia in diocesi Constantiensi exercentes, ecclesium parrochialem opidi Keiserstuol, extra muros eiusdem situatam, in honore beatissime virginis Marie, unacum tribus altaribus, ...»  Für eine Übersetzung, siehe Wind 1940, S. 15.

Dieser Einleitung folgt eine detaillierte Aufzählung der sechs Altäre, die damals in der Kirche zu finden waren. Die Eckdaten dieser Bestätigung sind aber klar: Diese Baute ist der Gottesmutter Maria geweiht (die älteste Nennung des Patroziniums datiert nicht weiter zurück als 1440, vgl. AU XIII, Nr. 68).

Imposantes Bauwerk

Weiter geht aus der Urkunde klar hervor, dass die Pfarrei eben nach Kaiserstuhl benannt war (und nicht nach dem Standort der Kirche). Die dortige Siedlung nannte man übrigens nach diesem imposanten Kirchenbau «Dengen der hohen khirchen», woraus später Hohentengen wurde.

Wenn man sich das Gebäude anschaut und sich vergegenwärtigt, dass Hohentengen früher wesentlich weniger Einwohner hatte als in die Kirche passen, dann wird klar, dass sie nicht nur für die dort Wohnenden gedacht war, sondern für einen viel weiteren Kreis.

Älterer Vorgängerbau aus dem 11. Jahrhundert?

Wie oben erwähnt, wurde die Kirche nicht nur renoviert, nein, man hat sie praktisch neu gebaut. Was vom alten Gotteshaus übernommen wurde, war nur der Kirchturm. Kein Wunder, denn der ist so solid gebaut, dass er fast für die Ewigkeit taugt. Er wurde, so vermutet Paul Kläui, zweimal aufgestockt. Letztmals 1518 bis 1520, als die Gebäude (und auch der Turm) seine heutige Form und Höhe erhalten haben.

Kläui Grabungen, S. 283

Der romanische, «nördlich des gotischen Chors stehende Turm» hatte einen Chor enthalten, «der zu einem in der Achse der heutigen Kirche, aber rund 9 m nördlicher gelegenen Schiff gehörig war.» (Kläui Grabungen, S. 285)

Die ca. 90 cm dicken Mauern dieses alten Schiffs verschwinden unter den Fundamenten des Chorturms, was Kläui veranlasst hat, die bisher kursierenden These, dass der Kirchturm auf römischen Fundamenten stehe, zu verwerfen. Das alte Schiff war, wie man der Skizze entnehmen kann, nicht breiter als der Turm selber, d.h. nicht mehr als 7 Meter. Aber über 20 Meter lang, also ein langgezogener Schlauch, der im Innern nur deshalb nicht als solcher auffiel, weil der Baukörper durch eine Quermauer unterteilt war. Es gab also eine Vorhalle von ca. 8 Metern Länge und ein Schiff von 16.5 Metern Länge.

Da sich die bei der Ausgrabung nach dem Brand von 1954 freigelegten, innerhalb des gotischen Baus von 1518-1520 liegenden Fundamente der Südmauer der alten Kirche ohne jegliche Fuge über die ganze Länge erstrecken, muss davon ausgegangen werden, dass die heutigen Ausmasse von Anfang an bestanden haben und keine Erweiterung erfolgt ist!

Von den Zähringern gebaut

Was die Datierung des Chorturms betrifft, so nimmt Kläui an, dass er in der ersten Hälfte der Regierungszeit des Bischofs Gebhard III. von Zähringen (im Amt 1084 bis 1110) errichtet worden sei und begründet das wie folgt:

«Das späte 11. Jahrhundert war die Zeit, in der die Zähringer sich um die Erfassung des Schwarzwaldes bemühten. Sie zeichnet sich in der Gründung von St. Georgen (1084), der Verlegung des Klosters Weilheim unter Teck nach St. Peter und in der Förderung von St. Blasien ab. Die Errichtung eines starken, möglicherweise auch wehrhaften Kirchturms in Hohentengen würde sich zwangslos einfügen in die Tätigkeit der Häupter der kirchlichen Reformpartei in Schwaben, Herzog Berchtolds II. von Zähringen und seines Bruders Gebhard, des Bischofs von Konstanz. Zieht man noch die enge Verbindung Herzog Berchtolds mit dem Reformkloster Allerheiligen in Schaffhausen in Betracht, so zeichnet sich überdies eine Linie ab, die die Frage erlaubt, ob nicht in baulicher Hinsicht direkte Beziehungen zwischen Hohentengen und Illnau zu suchen sind, denn Graf Adelbert von Mörsburg aus dem Hause Nellenburg, um 1100 Vogt von Allerheiligen, war auch Besitzer der Kirche Illnau.» (Kläui Grabungen, S. 289)

Karolingische Kirche aus dem 8. od. 9. Jahrhundert

Wie alt das zum Zeitpunkt des Turmbaus bereits vorhandene Schiff mitsamt Chor ist? Kläui nimmt – wieder in Analogie zu den Grabungsergebnissen von 1954 in Illnau sowie ebensolchen aus dem st. gallischen Eschenbach – an, dass es sich um eine karolingische Kirche aus dem 8. oder 9. Jahrhundert handeln dürfte. Also ein Steinbau, der zur Zeit Bischof Gebhards bereits ein Alter von zwei- bis dreihundert Jahren aufwies (Kläui Grabungen, S. 289) [Korrektur am 3.12.2020].

Wie ähnlich sich die Baupläne der beiden Kirchen von Hohentengen und Illnau (heute reformierte Kirche) sind, zeigt die nachstehende Skizze aus einer Publikation des Zürcher Denkmalpflegers Drack:

Auch bei der Illnauer Kirche liegt der mit massiven Mauern errichtete Chorturm im Osten, woran sich im Westen ein exakt in der Flucht der Turmmauern aufgeführtes Schiff anschliesst.

Mitfinanziert und doch kaum genutzt

Und die Weiacher? Die haben den Bau des grossen spätgotischen Neubaus ennet dem Rhein, dessen aufgestockter Turm auch vom Dorf aus nicht zu übersehen ist, mitfinanziert. Sie waren damals ja auch noch brave Katholiken. 

Zufälligerweise exakt in dieser Bauzeit, 1519, trat in Zürich bekanntlich Zwingli sein Amt als Leutpriester am Grossmünster an. Die nachfolgenden turbulenten Jahre der Reformation haben die Weiacher von ihrer Mutterpfarrei und der alten Kirche abgetrennt. Das dürfte sie sehr geschmerzt haben, wurden doch in dieser Kirche auch die von ihnen gestifteten Jahrzeiten für ihre verstorbenen Vorfahren zelebriert.

Quellen

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