Montag, 24. Dezember 2018

Kuhgespanne in älterer Fassung des Dorfgedichts

Ja, Weiach hat ein Dorfgedicht - mindestens eines! So muss man das wohl nennen, wenn ein paar Verse lokalpatriotischen Inhalts für Wert erachtet werden, über Jahrzehnte in den Schubladen unterschiedlicher Gemeindebürger zu schlummern.

Das Dorfgedicht, um das es hier geht, wurde unter dem Titel «Es Dörfli» 2008 in den Gemeindemitteilungen abgedruckt (vgl. den mit Kommentar versehenen Text in WeiachBlog Nr. 651 vom 23. September 2008).

Solche spontan eingesandten (und veröffentlichten) volkstümlichen Beiträge haben im 21. Jahrhundert Seltenheitswert. In den Anfangszeiten der «Mitteilungen für die Gemeinde Weiach» sind sie hingegen regelmässig zu finden. Die Redaktion (das Ehepaar Mauro und Ursula Lenisa) hat die oft handschriftlichen Zuschriften nicht selten im Original drucken lassen. So auch diese hier vom Mai 1988:

Wer den nachstehenden von Schenkel eingereichten, mit Schreibmaschine getippten Text mit dem 2008 publizierten vergleicht, erkennt die bis auf die Orthographie über weite Strecken identischen Inhalte. Ein Kommentar folgt im Anschluss:

Oises Dörfli ano 1920

1.
Es git es Dörfli, sisch z'underscht im Land,
E herzigs Nestli mit Züri verwandt.
J gsenes vormer wies artig da lit,
von Obstbäume beschattet zur Summerszit.

2.
Jm Mai doch erst wie schön isches im Mai.
Jm Blühet muesch es go g'schaue Juhei.
Jm Herbst na wenn Zwigli hanget voll Frücht.
Und alles amene prächtige Garte glicht
Und usem Garte chömed die herrliche Grücht

3.
Es Chirchli staht da, s'isch tusig nett
Jm Büehl ene luegets vom Türmli det
Es lueget fründli uf d'Hüser uf d'Lüt
Wie gester so sorgets für alli na Hüt.

4.
Von "Hofwiese" grüesst es heimeligs Hus
Fast Tägli springt d’Jungmannschaft i und us
S'wird [nöd] nu läse und schriebe drinn g'lehrt
Au d'Wisheit fürs Läbe wo so vill isch wert

5.
Jm Dorf obe chlapperet d'Mühli am Bach
Sie lauft mit der Zit verstaht ihres Fach.
Sie Mahlt und sortiert s'Mehl schmackhaft und zart
Us Cherne, usem Hasli und usem Hard.

6.
Witer une flüsst s'Bächli wieder in Teich
Es müend halt d'Wasserchreft usgnutzt sii zWeich.
E Werchstatt tribts na scho vili Jahr
Ja früener het mer det Tröschet sogar.

7.
Zur Sagi hindere gats Källe-n-uf
Am Holz fehlts nannig wos brucht für de Bruef
Me bringts vo de Bleiki, vom Sanzeberg
Vom Jsebüheli isch grad so begehrt.

8.
De Bedme i, muess mer wämmer per Bahn
Z'Visite, oder uf Züri will ga
Js Holzwerk, oder i Schäftliastält
Js Rhistedtli oder Kaiserstuhl wenns eim gfallt

9.
Gascht am Rhjhof une vorbj
Stoht es Wasserrad im Rhj
Wils elektrisch zoge is Land
Stoht sie jetzt im Ruhestand

10.
Und prachtvolli Wiese hets, Ackerland
Das ghört ja zum löbliche Buurestand
S'hett herliche Wald, nachli Rebe und Chlee
Vill Geisse und hühner, feiss Säu und schöns Veh

11.
S'isch gsuecht das fin Tafelobst wos da git
Die chreftig Milch bis i Stadt ie beliebt
D'Herdöpfel glichfals was meistens guet grat
Und s'Uebrig wo d'Landwirtschaft stellt parad

12.
Jm Früehlig natürli lockt d’Fasnachtflueh
Ganz bsunders s’Jungvolk gern zuenere ue
De Blick ufs Rafzerfeld uf de lieb Rhj
Uf Brugg und de Römer-turm ziehts eim hi

13.
Am Sunntig drum öppe wen d’Sunne lacht
Wird e sone gfreuts Türli i d’Höchi gmacht
S'wird gsunge und g'juchzet und gmüetli ta
S'wott Strüssli vo Maie e jedes na ha

14.
Dur d’wuche dur puurets vom Berg bis an Rhj
Potz wüeschte Fahne wie henkets da i
Mit Chüegspann fahrets über Land
Sie ziehend au de Pflueg durs Ackerland

15.
Obwohl ei gross Werch am andere folgt
So werdet im Summer vill Beeri gholt
Jm Stocki, im Schwendi, im Büechlihau
Und sinds derbi z'friede im Weiachergau

16.
Bim heiga wird gsunge und g'johled derbj
Dass es tönt bis äne an Rhj
Heubeerirolle - Chrätte hämer volle
Und Buschle i der Hand und es Mul es ischt e Schand

17.
Drum wämers nu grad eso mache wie sie
Und wöisched mer Gottessägä na dri
Und leged mer alles i sini Hand
Eusers so liebi W e i a c h e r l a n d .

Kommentar Anno 2018

Strophen 9, 11 und 16 nach der Fassung Schenkel (s. oben) sind in der Fassung Wagner (vgl. WeiachBlog Nr. 651) nicht enthalten. Möglich - ja wahrscheinlich - ist es, dass sie direkt von Schenkel stammen, erwähnt er doch in seinem handschriftlichen Kommentar selber, er habe das Gedicht «erweitert».

In Strophe 9 bringt Schenkel die Sprache auf das Wasserrad im Rhein beim Rhihof, welches gemäss Lagerbuch der Gebäudeversicherung 1912 einem Hochwasser zum Opfer gefallen ist (möglicherweise bereits 1910; vgl. Wasserrad beim Rheinhof weggeschwemmt, WeiachBlog Nr. 859 vom 15. Juni 2010; Bild des Wasserrads: vgl. http://doi.org/10.3932/ethz-a-000131290; im Mai 1925 postalisch gelaufen). Schenkel sagt im Gedicht einerseits, dieses Rad habe noch in den 1920ern bestanden und sei letztlich der Elektrifizierung zum Opfer gefallen, bzw. deswegen ausser Betrieb gesetzt worden (die Elektrizitätsgenossenschaft Weiach gibt es seit 1912). Vielleicht handelt es sich um ein nicht mehr versichertes Nachfolgeobjekt.

Mit der «Brugg» (bei Wagner nicht erwähnt) ist in Strophe 12 die Kaiserstuhler Rheinbrücke gemeint. «Römerturm» ist der (irreführende) volkstümliche Name des mittelalterlichen Oberen Turms, dem weithin sichtbaren Wahrzeichen des Städtchens.

Es dürfte auch so sein, dass es sich bei der Schenkelschen Vorlage tatsächlich um einen älteren Text handelt. Wo nämlich an entsprechender Stelle (Strophe 14) bei Schenkel steht: «Mit Chüegspann fahrets über Land. Sie ziehend au de Pflueg durs Ackerland» ist bei Wagner dieser Passus durch: «Scho mängi Aarbet muess eläktrisch gaa. Mit Raat und Taat gänd d’Eltere naa.» ersetzt worden.

An dieser Modernisierung widerspiegelt sich indirekt der technologische Wandel, der bereits in den 1950er-Jahren Kuhgespanne zu einer aussterbenden Kuriosität gemacht hatte (darüber hat Walter Zollinger in seinen Jahreschronik 1959 geschrieben, vgl. WeiachBlog Nr. 680 vom 1. Oktober 2009).

Noch in den 1920er-Jahren aber, wo Schenkel die Entstehungszeit des Dorfgedichts ansetzt, dürften angesichts der damals noch vorherrschenden kleinbäuerlichen Strukturen vorgespannte Kühe gang und gäbe gewesen sein. So wie schon Mitte des 19. Jahrhunderts, wie es in der sog. Ortsbeschreibung 1850/51 zum Ausdruck kommt:

«Unter allen Hausthieren sind die armen Kühe am meisten zu bedauern, die Pflug und Wagen der kleinen Landwirthe allein schleppen und zugleich die ganze Haushaltung sammt denen, die draussen harren, mit hinreichender Milch versehen sollten, was den guten und willigen Thieren um die schwere Zeit ein etwas bedenkliches Aussehen gibt.» (Ortsbeschreibung Weiach, Abschnitt VII Viehzucht von Hans Heinrich Willi, Vieharzt)

In Schenkels Strophe 15, 3. Zeile, wird der Flurname «Büechlihau» erwähnt. Bei Wagner steht an selbiger Stelle (wohl verschrieben) «Büechli au», was so natürlich keinen Sinn macht. «Stocki» und «Schwendi» sind gleichfalls dorfnahe Waldstücke. Eine sinnentstellende Auslassung kennt auch die Fassung Schenkel in Strophe 4. Die fehlende Negation ist deshalb in eckigen Klammern ergänzt.

Auch die Strophe 16 wirkt schon vom Dramaturgischen her wie nachträglich eingebaut. Denn da kommt schon wieder Gesang und - diesmal gar: «Gejohle» vor.

Damit bleibt mir an Heiligabend nur noch eins übrig: mich dem in Strophe 17 geäusserten Wunsch nach Gottes Segen anzuschliessen.

Quelle

Schenkel, Joh.: Oises Dörfli ano 1920. In: Mitteilungen für die Gemeinde Weiach, Mai 1988 - S. 4-5.

Keine Kommentare: