Montag, 28. Oktober 2019

Der Storch im Stall

Es sind nicht nur Unglücksfälle und Verbrechen oder die eine oder andere Sportnachricht, die den Ortsnamen Weiach in Massenmedien verbreiten. Manchmal sind es auch Kuriosa. In früheren Zeiten allerdings eher als heutzutage. Anfangs des 20. Jahrhunderts brachte der Bote vom Untersee, eine Thurgauer Regionalzeitung, die folgende Kurzmeldung:

«Zürich. In Weiach ließ sich laut "L.-B." ein Storch, der wahrscheinlich die Südreise mit seinen Kameraden nicht mehr mitmachen konnte und von denselben verstoßen wurde, von einem Bürger ganz willig fangen. Er fühlt sich seither ganz heimelig neben den andern Haustieren im Stalle und erfreut sich der besten Gesundheit. Bei warmem Wetter macht er seine Promenaden.»

Mit «"L.-B."» ist ziemlich sicher der «Lägern-Bote» gemeint, der 1949 mit der «Bülach-Dielsdorfer Wochen-Zeitung» zum «Zürcher Unterländer» fusioniert hat.

Die zitierte Kurzmeldung war in der Rubrik «Kantone» eingefügt. Sie folgte nach dem Leitartikel auf Seite 1 und den Rubriken «Eidgenossenschaft» und «Thurgau». Über das «Ausland» wurde erst nach den Kantonen berichtet.

Unfreiwillig komisch wirkt der Titel des Leitartikels derselben Ausgabe, in dem sich der Weiacher Stall-Storch findet: «Die Gefährlichkeit der Haustiere für die Gesundheit des Menschen»!

Damals problemlos, heute nur mit obrigkeitlicher Bewilligung und Ausbildung erlaubt

Heutzutage müsste jeder, der einem Storch in seinem Stall einfach so Asyl gewährte, damit rechnen, ins Fadenkreuz des Kantons zu geraten, der dann mit der Tierschutzverordnung (TSchV) wedelt.

Der Storch gilt als nicht domestiziert und damit gemäss Art. 2 Abs. 1 Bst. b TSchV als Wildtier. Stelzvögel, wozu auch die Störche zählen, dürfen von Privaten gemäss Art. 89 Bst. d TSchV nur mit einer Bewilligung (des Kantons) gehalten werden.

Dann schlägt Art. 85 Abs. 1 TSchV zu: «In bewilligungspflichtigen Wildtierhaltungen müssen die Tiere unter der Verantwortung einer Tierpflegerin oder eines Tierpflegers betreut werden

Unser Bauer von 1902 hätte aber Glück, dass es nur um diesen einen Storch geht. Nach Art. 85 Abs. 2 TSchV muss er deswegen keinen ausgebildeten Tierpfleger anstellen. Aber er braucht wohl noch eine «fachspezifische berufsunabhängige Ausbildung» gemäss Art. 197 TSchV. Ich würde aber fast wetten, dass es einen solchen Kurs nicht gibt.

Wie das Bewilligungsverfahren abläuft, lässt Art. 94 erahnen: «Für das Gesuch ist die Formularvorlage des BLV nach Artikel 209a Absatz 2 zu verwenden.» Artikel 209a derselben Tierschutzverordnung natürlich.

Damit aber nicht genug. Die Räume, in denen der Storch lebt, müssen nicht nur für ihn geeignet sein. Auch ein Entweichen muss ausgeschlossen sein (Art. 95 TSchV). Also nix mit freien Spaziergängen bei schönem Wetter. Und: es muss eine Tierbestandeskontrolle geführt werden (Art. 93 TSchV).

O, sankta Bürokrazia!

Quellen
  • Bote vom Untersee. Publikations-Organ für den Bezirk Steckborn (späterer Titel: Bote vom Untersee und Rhein), 19. November 1902 - S. 2 (Link auf: e-newspaperarchives.ch)
  • Schweizerischer Bundesrat: Tierschutzverordnung (TSchV) vom 23. April 2008 (Stand am 27. November 2018; PDF)

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