Mittwoch, 12. August 2020

In den Musikalien «nodernde» Organisten

«Nodere». Was dieses Dialektwort bedeutet, erklärt natürlich das Idiotikon (vgl. Id. IV 645). Oder die Luzerner Zeitung in der Rubrik Lozärner Usdröck. Im «Kulturkanton» gibt es den Begriff ebenfalls, wie man beim Online-Projekt Hunziker2020.ch zur aktuellen Aargauer Sprache herausfindet. Aber auch im Kanton Zürich. Kurz könnte man es etwa mit «intensiv in etwas (herum)wühlen» umschreiben.

In dieser Bedeutung kommt das Wort in einem Brief vom 24. Mai 1929 vor, den ein ehemaliger hiesiger Pfarrer, Arnold Zimmermann (1897-1903 in Weiach), seinem Amtsnachfolger Albert Kilchsperger (1908-1940 in Weiach) geschickt hat. Und der im Pfarrarchiv Weiach erhalten geblieben ist.

Der damals 57-jährige Zimmermann, ab 1913 in der Pfarrei Neumünster und ab 1924 zusätzlich Zürcher Kirchenrat, also Mitglied der Exekutive der reformierten Landeskirche, äussert sich in dem Schreiben zu den Orgelanschaffungsplänen der Weiacher.

Amerikanischer Götti erzwingt Fundraising-Kampagne

Diese Pläne wurden 1929 auf einen Schlag dringend, weil ein grosszügiger Auslandschweizer nur unter der Bedingung bereit war, den namhaften Betrag von 10'000 Franken zu spenden (ca. CHF 155'000 nach heutigen Werten), wenn andere sich innert 6 Monaten ebenfalls und mindestens im Umfang von 5000 Franken finanziell engagieren würden (vgl. Weiacher Geschichte(n) Nr. 68, S. 214-215).

Im Rahmen der zu diesem Zweck angestossenen Fundraising-Kampagne wurde auch Zimmermann um eine Spende angegangen. Per 27. Mai 1929 überwies er 120 Franken (CHF 1865), wie einer undatierten Liste Gaben für die Orgel im Pfarrarchiv zu entnehmen ist.


Wo die Orgel nach Pfr. Zimmermann nicht platziert werden sollte

Nachstehend wird Zimmermanns Brief (S. 1 s. Bild oben) im vollen Wortlaut wiedergegeben:

Pfarramt Neumünster Zürich
Pfarrer Arnold Zimmermann

Zürich 8, den 24. Mai 1929

Herrn Pfarrer Kilchsperger, Weiach

Lieber Freund!

Es hat mich von Herzen gefreut, dass die Kirchgemeinde Weiach einen so guten "Götti" gefunden hat, und ich möchte sie von Herzen dazu beglückwünschen. Denn wenn ich auch ein Fragezeichen dazu machen muss, dass eine Orgel das Leben in der evangelischen Kirche fördere, so ist sie doch entschieden eine Belebung des Gottesdienstes und kann ihrer Aufgabe in ganz anderer Weise genügen als ein Harmonium.

Es ist mir möglich, einen bescheidenen Beitrag zu leisten, der durch Postmandat folgt. [Grad so bescheiden, wie Zimmermann das hier darstellt, war seine Spende nicht, wie oben erläutert.]

Dann hätte ich im Blick auf die Erstellung der Orgel eine Bitte, die ich freundlich aufzunehmen ersuche.

Ich vermute, dass die Plazierung der Orgel vorn im Chor beabsichtigt wird, wie dies zum Beispiel in Bachs der Fall ist. Meine Bitte ist, zu prüfen, ob sie nicht anderswo besser angebracht würde.

Meine Bedenken gegen die Aufstellung im Chor, wenigstens in der Mitte des Chores, sind folgende:

Der schöne Blick aus dem Schiff in den hellen Chor, der meines Erachtens etwas vom Wesentlichsten an der ganzen Architektur ist, geht verloren.

Die Gemeinde hat alle Manipulationen des Organisten stets im Angesicht. Das kann für die Gemeinde ebenso unangenehm, wie für den Organisten peinlich sein. Wir lehnen den messelesenden Priester im Angesicht der Gemeinde mit Grund ab, aber er befriedigt die ästhetischen Bedürfnisse des Kirchenbesuchers doch noch mehr, als der in seinen Musikalien "nodernde" Organist, davon zu schweigen, dass es Organisten gibt, die sich Nebenbeschäftigungen hingeben. Es hatte sicher seinen guten Grund, wenn die Alten die Orgel manchmal fast versteckt anbrachten, obwohl ich nicht sagen möchte, dass man so weit gehen müsse. Es wäre vielleicht zu untersuchen, ob die Borkirche [Empore] die Orgel zu tragen vermöchte, oder, wenn sie ins Chor soll, ob sie nicht seitlich, gegenüber der Kanzel anzubringen wäre. 

Ich hoffe, Ihr betrachtet meine Zeilen nicht als unbefugte Einmischung, sondern nur als Ausdruck eines alten Weiacherpfarrers, der gerne möchte, dass das liebe Kirchlein auch nicht durch eine Orgel irgendwie in seiner schlichten Schönheit verderbt würde.

Vielleicht wäre auch Herr Kantonsbaumeister Dr. Fietz um ein Gutachten zu ersuchen; ich weiss gar nicht, wie er in Sachen denkt.

Ich schliesse mit dem Wunsche, die Orgel möge den [sic!] kräftigen Weiacher Kirchengesang nicht Eintrag tun, das ist nämlich auch eine gewisse Gefahr.

Im Uebrigen aber habe ich also mit Euch eine grosse Freude.

Mit herzlichen Grüssen an das liebe Pfarrhaus und die Post,
Dein: 
[sig.] Arnold Zimmermann

[Die Grüsse an die Post sind damit zu erklären, dass Pfr. Kilchsperger seit 1915 mit Elisa Meierhofer verheiratet war, die aus der Weiacher Posthalter-Familie Meierhofer stammt.]

Vor aller Augen. Aber nur für 35 Jahre.

Genau so, wie von Pfr. Zimmermann befürchtet, kam es dann auch. Und das trotz einer «starken Strömung für Erhaltung des Chores» (vgl. WG(n) Nr. 68, S. 215).


Die Orgelfirma Kuhn beschwatzte in der Folge nämlich die Kirchenpflege erfolgreich in dem Sinne, dass der Raum auf der Empore für eine Orgel schon arg niedrig sei. Die Empore als Orgelstandort komme daher nur in Frage, «wenn der Chor wirklich einen historisch-architektonischen Wert hätte oder wenn schön gemalte Fenster vorhanden wären.» Da dies aber nicht der Fall sei «kann er durch die Platzierung einer Orgel nur gewinnen.» (vgl. WG(n) Nr. 68, S. 216). Der Berater der Firma Kuhn wollte also den Innenraum sozusagen aufwerten. Die von Pfr. Zimmermann geschätzte Schlichtheit, die seines Erachtens geradezu das architektonische Wesen der Weiacher Kirche ausmacht, wurde vom Tisch gewischt.

Zurück zur Schlichtheit aus der Bauzeit

Mit der grossen Restaurierung in der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre (die Pfr. Zimmermann nicht mehr erlebt hat, er starb 1951) folgte dann die Kehrtwende zurück zu seinen Vorstellungen. Man wollte die Kirche und insbesondere das Chorpolygon wieder in ihren ursprünglichen Zustand versetzen.

Da passte es ganz gut ins Konzept, dass die pneumatische Kuhn-Orgel von 1930 trotz ihres vergleichsweise jungen Alters in vielerlei Hinsicht versagt hatte, ja dass sie gar, wie an der Orientierung vom 21. Oktober 1965 erklärt wurde, «am Sterben» sei, also sozusagen aus dem letzten Loch pfeife (vgl. Weiacher Geschichte(n) Nr. 80, S. 277).

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