Freitag, 19. November 2021

Erzwungene Bundesverfassung von 1848. Weyacher stimmten Ja.

Wenn ein Verein seine Statuten ändert und das einigen Mitgliedern nicht gefällt, dann haben sie das Recht auszutreten. Oder etwa nicht? Unter Staatswesen wird das nicht immer so gehandhabt. Austretende werden schikaniert (siehe Brexit im Falle der EU) oder gar mit Waffengewalt daran gehindert, ihren eigenen Weg zu gehen.

Auch die Schweiz war einst ein Verein von unabhängigen Staaten, die miteinander durch den Bundesvertrag von 1815 verbunden waren. Der war nicht ganz freiwillig entstanden. Inhalt und Gebiet wurden letztlich durch die europäischen Grossmächte im Wiener Kongress 1814/15 ausgehandelt und garantiert, denn sie alle hatten ein Interesse daran, dass keiner von ihnen und auch kein Dritter sich im Herzen Mitteleuropas einen (militärischen) Vorteil verschaffen konnte. So kam unsere immerwährende Neutralität zustande.

Legitime Schutzvereinigung oder illegaler Sonderbund?

In diesem eidgenössischen Staatenbund sahen einige der Mitglieder die Welt anders als die anderen. Die schlossen sich bereits nach wenigen Jahren zu dem zusammen, was später mit dem Kampfbegriff «Sonderbünde» bezeichnet wurde. Schon anfangs der 1830er-Jahre war das der Fall, als die per Verfassungsänderung freisinnig-radikal umgebauten Kantone eine Revision des Bundesvertrags anstrebten, sich zum Siebnerkonkordat (ZH, BE, LU, SO, SG, AG, TG) zusammenschlossen und die konservativen Stände daraufhin den überkonfessionellen sogenannten Sarnerbund (UR, SZ, OW, NW, NE, BS) bildeten. Der wurde Mitte November 1832 gegründet, um die faktische Teilung der Kantone Basel und Schwyz rückgängig zu machen. Die Vertragsparteien des Sarnerbundes beschlossen, an keiner Tagsatzung teilzunehmen, an der Basel-Landschaft (ab Januar 1831 mit eigener Regierung) oder Ausserschwyz (das sich 1831 vom alten Kantonsteil losgesagt hatte) zugelassen würden. Der Sarnerbund wurde von der Tagsatzung im August 1833 als dem Bundesvertrag zuwiderlaufend betrachtet und für aufgelöst erklärt. Das ebenso bundesvertragswidrige Siebnerkonkordat hingegen durfte bestehen bleiben.

Nach etlichen weiteren Wirren, u.a. Freischarenzügen nach Luzern, etc. schlossen die Kantone Luzern, Uri, Schwyz, Obwalden, Nidwalden, Zug, Freiburg und Wallis im Jahre 1845 schliesslich ein Separatbündnis, das als Schutzvereinigung der katholisch-konservativen Stände dienen sollte. Auch diese Vereinigung erachteten die Freisinnig-Radikalen als illegalen Sonderbund, was schliesslich im November 1847 zum Bürgerkrieg führte, dem sogenannten Sonderbundskrieg.

Ablehnende Kantone zum Bund gezwungen

Die Verlierer dieses Krieges wurden nicht mehr gefragt, ob sie eine neue Verfassung und den engeren Zusammenschluss zu einem Bundesstaat wollten. Er wurde über ihre Köpfe hinweg beschlossen. Das ging umso eher, als die Garantiemächte des Bundesvertrags von 1815 mit eigenen Aufstandsbewegungen quer durch Europa gerade mehr als ausgelastet waren und sich nicht auch noch um die Auseinandersetzungen in der Eidgenossenschaft kümmern konnten bzw. wollten. 

Acht Kantone (UR, SZ, NW, OW, ZG, AI, TI und VS) haben sich gegen den Bundesstaat entschieden, wurden aber trotzdem - nolens volens - in diesen zwangsintegriert.

Dass es dabei nicht in allen Kantonen so ganz direktdemokratisch zugegangen ist, zeigt sich im offiziellen Internet-Archiv des Bundes, wo alle Volksabstimmungen seit 1848 aufgeführt sind.

Da heisst es wörtlich zum Entscheid über die neue Verfassung von 1848: «Das genaue Datum der Abstimmung ist unbekannt. Das Verfahren war nicht einheitlich. Nach heute geltender Ordnung (vgl. Art. 123 Abs. 3 BV [s. unten]) stimmten nur 14 Voll- und 2 Halbkantone ab. In Freiburg entschieden der Grosse Rat, in Graubünden die Komitialstimmen, in den Kantonen Uri, Ob- und Nidwalden, Glarus, Appenzell Ausserrhoden und Appenzell Innerrhoden die Landsgemeinde (vgl. BBl 1879 I 426f). Die Zahl der gültigen, der Ja- und Nein-Stimmen bezieht sich nur auf die 14 Ganz- und die 2 Halbkantone.» Da es heute 26 Ganz- und Halbkantone gibt und der Kanton Jura erst 1979 gegründet wurde, fehlt hier noch einer.

Unter Art. 123 Abs. 3 BV ist der Wortlaut nach Bundesverfassung von 1874 gemeint, der bis Ende 1999 in Kraft war. Er betrifft Verfassungsrevisionen und lautet: «Das Ergebnis der Volksabstimmung in jedem Kanton gilt als Standesstimme desselben.» Daraus ergibt sich, dass zwingend eine Volksabstimmung durchzuführen ist.

Nichtstimmende sind Ja-Stimmende

Bei diesem einen Kanton dürfte es sich um Luzern gehandelt haben, wo offiziell 59 % Ja-Stimmen resultierten. Waren die Luzerner also mehrheitlich für den Bundesstaat? Man darf es bezweifeln. Denn: Abwesende (d.h. Nichtstimmende) wurden den Ja-Stimmen zugerechnet! (vgl. e-HLS-Artikel Bundesverfassung (BV)). Da sind 9 % ein allzu dünnes Polster.

Ein solches Verfahren hat zur Zeit der Helvetischen Republik auch dazu geführt, dass Weyach 1802 in der Abstimmung um die helvetische Verfassung geschlossen Ja gestimmt haben soll (wo in Tat und Wahrheit einfach niemand teilgenommen hat; d.h. dafür offenbar keine Gemeindeversammlung einberufen wurde), vgl. WeiachBlog Nr. 663.

Im Bezirk Regensberg war der Fall klar

Bereits in den ersten Augusttagen hatten sich die Stimmberechtigten im Kanton Zürich klar und deutlich für den Bundesstaat ausgesprochen. Die «Eidgenössische Zeitung» meldete in der Morgenausgabe vom 8. August 1848 das «Resultat der Abstimmung über die neue Bundesverfassung in sämmtlichen Gemeinden des Kantons Zürich»:

Man sieht, wie extrem hoch die Ja-Anteile ausgefallen sind. In etlichen Fällen gab kein einziger Stimmbürger ein Nein-Votum ab, von den Raatern mit 25 Ja und 8 Nein einmal abgesehen. In Weyach gab es immerhin noch 3 Anhänger des alten Bundesvertrags. 97.6 % wollten aber den Bundesstaat. Die bundesstaatliche Begeisterung im Bezirk war also gross. Bei diesen Werten verwundert es nicht, dass die NZZ am 9. August meldete, von der Lägern herab hätten am Abend des 6. August fünfundzwanzig Kanonenschüsse und ein grosses Feuer die Annahme der Bundesverfassung verkündet.

Mit 91 % Ja ist der Schnitt über den ganzen Kanton Zürich nur unwesentlich tiefer. Ähnlich hohe Werte erreichten nur noch die beiden Basel. Höher lag von den Kantonen ohne Landsgemeinde nur Neuenburg mit 95 %.

Im Aargau und im Bernbiet hingegen war das längst nicht so klar. Da waren nur 70 resp. 77 % für die neue Verfassung. Im Kanton St. Gallen 68% und im Kanton Solothurn gar nur 62 %.

Ebenso deutliche Nein-Mehrheiten ergaben sich in allen Sonderbunds-Kantonen (mit Ausnahme von Luzern und Freiburg), dem im Krieg neutralen Appenzell-Innerrhoden sowie dem eigenwillig die Bundeshoheit über die Zölle ablehnenden Tessin. In Obwalden gab es nur 3 % Ja-Stimmen (geschätzter Anteil an der Landsgemeinde), in Nidwalden immerhin 17 % (ebenfalls geschätzt).

Wie ermittelt man ein Abstimmungsresultat?

Bei einer solchen Vielfalt an Verfahren, die angesichts der Kantonsverfassungen all dieser souveränen Staaten nicht zu vermeiden war, muss man sich natürlich Gedanken darüber machen, nach welchen Kriterien man eine Annahme oder Ablehnung denn nun konkret feststellen soll.

Die dazu eingesetzte Kommission der Tagsatzung stellte in ihrem Bericht am 9. September 1848 fest, dass von «zirka 437,103 stimmfähigen Schweizerbürgern (d.h. 1/5 der Gesammtbevölkerung) im Ganzen beiläufig 241,642, also mehr als die Hälfte an der Abstimmung über die neue Bundesverfassung persönlich Theil genommen haben. Es stimmten nämlich (Freiburg inbegriffen) circa 169,743 für und (Tessin ganz dazu gerechnet) 71,899 gegen dieselbe.»

Also ca. 70 % Ja (mit nicht quantifizierten Nein-Anteilen aus Luzern und Freiburg) sowie ca. 30 % Nein (mit nicht quantifizierten Ja-Anteilen aus dem Tessin) bei rund 55 % Stimmbeteiligung (auch die nur abschätzbar).

Man muss einen versöhnlichen Weg finden

So ganz anders als in heutiger Zeit war es also mit Mehrheiten und Minderheiten auch nicht. Wollte man den Bürgerkrieg nicht zum Dauerzustand werden lassen, so blieb der Mehrheit trotz militärischem Sieg nichts anderes übrig, als sich mit der nicht einfach wegzudiskutierenden Minderheit so weit zu arrangieren, dass beide Seiten zumindest damit leben konnten.

So wird es nach der Abstimmung vom 28. November 2021 über die Revision zum COVID-19-Gesetz wohl auch in der Impffrage herauskommen müssen. Es sei denn, man wolle partout einen blutigen Glaubenskrieg entfesseln und die Spaltung auf Generationen hinaus in Beton giessen.

Denn jedes Durchdrücken von Mehrheitsentscheiden hat gravierende Folgen. Der streitbare Basler Rechtsgelehrte Dr. David Dürr hat die Bundesstaatwerdung von 1848 jedenfalls offen als «Sündenfall» bezeichnet, als «unrechtmässigen Staatsstreich». Das missachtete Einstimmigkeitsprinzip habe vielen die Würde genommen. Und das, so Dürr, spüre man bis heute. Ein bissiger, aber lesenswerter Artikel (s. unten).

Quellen

  • Eidgenössische Zeitung, Nummer 218, Dienstag den 8. August 1848, Morgenausgabe, S. 870.
  • Neue Zürcher Zeitung, Nummer 222, 9. August 1848, S. 992.
  • Kommissionalbericht an die hohe Tagsatzung und Beschlussesvorschläge, betreffend die Abstimmung, die Annahme und Einführung der neuen Bundesverfassung der schweizerischen Eidgenossenschaft, d.d. 9. Herbstmonat 1848. (Google Books)
  • Dürr, D.: Der Sündenfall von 1848. In: Basler Zeitung, 6. November 2015.

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