Samstag, 20. November 2021

Nachrichtenloses Vermögen, Anno 1791

Einem Bären kann man das Fell erst dann über die Ohren ziehen, wenn er tot ist. Und einen Menschen kann man auch erst dann beerben, wenn sein Tod einigermassen sicher feststeht. Für ersteres sorgt die Wehrhaftigkeit des Mutzen, für letzteres Vater Staat.

Ist dieser Mensch unter Bedingungen verschwunden, die seinen Tod als sehr wahrscheinlich erscheinen lassen (z.B. von einem Hochwasser führenden Fluss mitgerissen), dann ist das eine Sache. 

Anno 1739 ausgewandert

Eine andere ist es, wenn jemand nachrichtenlos abwesend ist. Wie soll man dann die Frage beantworten, ob er/sie noch lebt oder schon tot ist? In Erbschaftssachen ebenfalls wichtig: hatte die nachrichtenlos abwesende Person Nachkommen oder nicht?

In einer solchen Angelegenheit musste vor 230 Jahren der Landschreiber des Neuamts im Auftrag des Obervogtes tätig werden. Er liess den folgenden Aufruf in der NZZ (damals noch Zürcher Zeitung genannt) abdrucken:

«Da Margaretha Bersinger von Weyach, der Vogtey Neu - Amt in Lobl. Canton Zürich nach sicheren Berichten schon Ao. 1739. aus ihrer Heimath gezogen, und sint der Zeit von derselben nichts in Erfahrung gebracht werden können, als wird gedachte Margaretha Bersinger oder ihre Nachkommen hiermit Oberkeitlich aufgefodert [sic!], in Zeit von sechs Monaten Ends unterzeichneter Canzley Nachricht von sich zu geben, widrigenfalls das vor einigen Jahren ihr erbsweise zugefallene, in vögtlicher Verwahrung liegende Vermögen ihren rechtmäßigen Erben aushingegeben werden wird. Geben Zürich den 8ten April 1791. Canzley des Neuen - Amts.»

Seit der Abreise der Ausgewanderten aus der alten Heimat waren also rund 52 Jahre vergangen. In den Jahren zwischen 1734 und 1744 sind viele Weiacher nach Übersee ausgewandert. Zumindest wollten sie ursprünglich dorthin. Es war aber durchaus möglich, dass eine Auswanderergruppe dann schliesslich ganz woanders hinkam. Denn die Informationen über das Zielland Carolina im gelobten Amerika waren ziemlich lückenhaft. Da konnte ein redegewandter Anwerber einer anderen Destination (z.B. im deutschen Osten) viel bewirken (vgl. auch WeiachBlog Nr. 1503).

Zweimal 15 Jahre nach der letzten Nachricht

Bei seinem Entscheid griff der Landschreiber nicht einfach in die Luft. Er hat sich zwar wohl nicht am Erbrecht der Stadt Kaiserstuhl orientiert, das in Weyach zu dieser Zeit Gültigkeit hatte (vgl. WeiachBlog Nr. 1341), sondern eher an der in Zürich gebräuchlichen Rechtssammlung, deren erster Band im Jahre 1757 in gedruckter Form herauskam und sich u.a. mit dem Erbrecht von 1716 befasste. 

In dessen Theil III, § XII. mit der Zusammenfassung «Wie lang eines, der in der Fremde sich befindt, Hab und Gut unvertheilt bleiben soll» gibt es aber einen Anhaltspunkt für solche Fälle wie den der Margaretha Bersinger:

«Wann einer Person, die an die Fremde sich begiebt, und ihr schon ererbtes Hab und Gut in Vögtlicher Verwaltung hinterlasset, und in während ihrer Abwesenheit in hiesigen Gerichten und Gebieten auch etwas erbsweise anfiele, soll dasselbige gleicher massen vögtlicher Verwahrung anvertrauet werden. Und dafern dann innerhalb fünfzehen Jahren von diesem angefangenen Erb an zu rechnen, oder der Zeit da einer, der ererbte Mittel hätte, von Land gereist ist, nichts gewisses von ihm vernohmen worden, ob er tot oder lebendig sey, mögen seine dannzumal rechtmässige Erben den jahrlichen Zins von seinen zinstragenden Mitteln, jedoch ohne Schmälerung des Haupt-Guts, 15 Jahre zu ihren Handen nehmen, und selbige unter sich vertheilen; nach Verfließung auch dieser fünfzehen Jahren aber, wann inmittelst kein weiterer Bericht von ihm naher einkommt, sind sie dannzumalen befügt, auch das Haupt-Gut mit einander gegen eingebender genugsamer Versicherung um Zins und Kapital zu vertheilen. Es müssen aber diese 15. oder 30. Jahre nicht allemal von der Zeit an, da einer an die Fremde verreist, oder da ihm im Land etwas erblich angefallen, sondern wann er in währender seiner Abwesenheit, seines Aufenthalts halber an der Fremde etwas in das Vaterland berichtet hätte, von der Zeit an des lezten Berichts gerechnet werden. Zu dem End hin ein jeder hiesiger Burgern und Angehörigen, so sich in fremde Lande begiebt, ermahnet wird, die Seinigen von Zeiten zu Zeiten, an welchen Orten er sich aufhalte, zu berichten.»

Jedes Lebenszeichen liess also sozusagen die Verjährungsfrist neu beginnen. Und selbst, wenn jemand verschollen war: Vor Ablauf von 15 Jahren durfte auch der Ertrag nicht angetastet werden. Er wurde wohl thesauriert. Den Ertrag der dann vorhandenen Summe durften die Erbberechtigten während weiterer 15 Jahre nutzen. Nicht aber die zugrundeliegende Erbmasse selber. Das Bärenfell (um beim eingangs gewählten Bild zu bleiben) konnten sie also erst nach 30 Jahren untereinander aufteilen. Und selbst das nur unter Auflagen.

Auch heute gilt eine Frist von 15 Jahren

Wenn wir diese Regelungen aus alter Zeit mit den heutigen vergleichen, dann finden wir viele dieser Bestimmungen in ähnlicher Form wieder. 

Bei nachrichtenloser Abwesenheit ist es nach geltendem Bundesrecht so, dass 15 Jahre abgewartet werden müssen, ehe die Rechtsfolgen der sog. «Verschollenerklärung» eintreten können (vgl. Art. 35-38 ZGB sowie Art. 546-550 ZGB). Innerhalb dieser Zeitspanne erfolgt in der Regel auch eine behördliche Erbschaftsverwaltung, denn das Erbe muss bei plötzlichem Auftauchen der verschollenen Person wieder zurückgegeben werden können (für Details vgl. Merkblatt in den Literaturangaben).

Interessant ist, dass das Recht im 18. Jahrhundert keine Altersgrenze kannte, das aktuelle Recht aber eine absolute Altersgrenze von 100 Jahren vorsieht (vgl. Art. 546 Abs. 2 und Art. 550 Abs. 1 des ZGB). Und das, obschon die aktuelle Lebenserwartung um einiges höher liegt als vor zwei bis drei Jahrhunderten. Die Autoren des 1912 erlassenen ZGB (Eugen Huber et al.) haben im Endeffekt die Rechtssicherheit höher gewichtet.

Quelle und Literatur

  • Sammlung der bürgerlichen und Policey-Geseze und Ordnungen, lobl. Stadt und Landschaft Zürich. Erster Band. Zürich, Orell und Comp., 1757 – Erbrecht S. 60-62.
  • Neue Zürcher Zeitung, Nummer 30, 13. April 1791 – S. 4.
  • Schauberg, J. (Hrsg.): Beiträge zur Kunde und Fortbildung der zürcherischen Rechtspflege, Band 2, Zürich 1842 – S. 49.
  • Merkblatt Feststellung des Todes und Verschollenerklärung von gerichte-zh.ch

Keine Kommentare: