Mittwoch, 18. Januar 2023

Bahnwärterhaus Knecht. Langes Leben nach Todesanzeige

Die Bahnstrecke der Schweizerischen Nordostbahn-Gesellschaft (NOB) von Winterthur nach Koblenz wurde bekanntlich anfangs August 1876 in Betrieb genommen (vgl. Weiacher Geschichte(n) Nr. 20). 

Auf dem Gemeindegebiet von Weiach liess die NOB im Hinblick darauf nicht weniger als vier Bahnwärterhäuschen errichten, welche nach dem Nummerierungsplan 1809 der kantonalen Gebäudeversicherung von Westen nach Osten die Nummern 148 bis 151 zugeteilt erhielten. Wo genau sie gestanden haben, ist bis auf eines nicht gesichert. Zuerst zu den drei «Unbekannten».

Abtransportiert. Umbenannt. Abgetragen.

Nr. 148 wurde bereits 1890 nach Frauenfeld «translociert», wie es 1891 im Lagerbuch der Gebäudeversicherung heisst. Damit enden die Einträge für dieses mit 700 Franken versicherte, zu 90 Prozent aus Holz bestehende Häuschen.

Nr. 149 muss nahe der Bahnstation gestanden haben, wie man aus dem Ortsvermerk im jüngeren der beiden im Gemeindearchiv Weiach verfügbaren Lagerbücher (PGA Weiach, IV.B.06.02) entnehmen kann. Dieses Häuschen war für 800 Franken assekuriert (ca. 41'000 Franken nach heutiger Kaufkraft, vgl. Historischer Lohnindex HLI von Swistoval.ch). Es bekam 1895 die Nummer 193 verpasst, wurde ab 1941 als «Wärterbude» bezeichnet und erhielt nach dem heute noch geltenden System 1955 die Nummer 692, was auf einen Standort am aufgehobenen Bahnübergang bei der heutigen Landi Weiach hinweist. Und auf der Siegfriedkarte von 1913 ist unmittelbar westlich davon tatsächlich ein kleines Gebäude eingezeichnet.

Nr. 151 war das östlichste Wärterhäuschen. Bei der Umnummerierung 1895 erhielt es die Nr. 195 und die Ortsbezeichnung «Hard». 1907 wird im Lagerbuch vermerkt, dass die neue Eigentümerin (seit 1902 die Schweizerischen Bundesbahnen) diese Baute «abgetragen» hat.

Nein, die US-Luftwaffe hat das Bahnwärterhäuschen nicht zerstört

Nr. 150 (1895: Nr. 194 und 1955: Nr. 151) hat am längsten ausgehalten, rund 115 Jahre. Wo doch im 2. Weltkrieg die Zeitungen landesweit bereits sein feuriges Ableben vermeldet hatten. Nahe diesem Bahnwärterhaus ist nämlich am 9. September 1944 ein Eisenbahnzug von amerikanischen Jagdflugzeugen angegriffen und in Brand geschossen worden. Besonders aus dem Bahnhofquartier sah es so aus, wie wenn auch das Bahnwärterhaus brennen würde, was dann selbst von offiziellen Armeestellen verbreitet wurde (vgl. WeiachBlog Nr. 1852). 

Laut Bericht im «Wehnthaler» (vgl. Aussage Knecht in Weiacher Geschichte(n) Nr. 41, S. 86) waren in zehn Metern Entfernung Geschosseinschläge auf der Zufahrtsstrasse (Feldweg Richtung Stubengraben) zu erkennen. Das Bahnwärterhaus selber blieb fast unversehrt. Bis auf eine zerschlagene Fensterscheibe wegen eines durch Geschosseinwirkung weggeschleuderten Steins sei ihm nichts passiert.

Die nachstehende über das ETH-Bildarchiv (ba.e-pics.ethz.ch) öffentlich zugängliche Fotografie des Wärterhäuschens auf der Höh datiert vierzig Jahre später:


Die Aufnahme wurde von Dieter Enz im Oktober 1984 geschossen und ist Teil einer Reportage der Comet Photo AG mit 34 Bildern.

Abgelegenes Einfamilienhäuschen

Zu diesem Zeitpunkt war das Häuschen bereits lange Jahren in Privateigentum. Es gehörte seit 1936 der Familie Knecht, erhielt 1938 durch die Elektrizitätsgenossenschaft Weiach einen Stromanschluss und wurde 1939 im Lagerbuch als «Schopf» (versichert für 700 Franken) vermerkt. Von einem Wohnhaus ist im 39er-Eintrag nicht die Rede, was der Nachlässigkeit des Kanzlisten zuzuschreiben sein dürfte. Entgegen den Vorschriften hat er den Eintrag zum bestehenden Gebäude in der Neuaufnahme nicht wiederholt. Denn dieser Schopf wurde als Nebengebäude zusätzlich erstellt. Man muss das auch aus einer Luftaufnahme von 1931 schliessen (vgl. Quellen).

Lagerbuch der Gebäudeversicherung des Kantons Zürich, 1895-1954, PGA Weiach IV.B.06.02

Noch unter der Ägide der Nordostbahn wurde das spätere Haus Knecht nach dem Nummernplan 1895 im jüngeren Lagerbuch (PGA Weiach, IV.B.06.02, vgl. Bild oben) mit der Standortangabe «Wiesenthal» versehen. Auch das überrascht. Diese Angabe wurde von späterer Hand gestrichen und durch die Ortsbezeichnung ersetzt, an der das Objekt tatsächlich gestanden hat, nämlich «Höh». Eine Verschiebung entlang der Bahnlinie nach Osten dürfte hier wohl nicht vorliegen, eher ein Irrtum, diesmal einer aus dem Jahre 1895.

StAZH PLAN B 884 Übersichtsplan landwirtschaftlich genutzte Parzellen im Siedlungsgebiet, undatiert.

Das Bahnwärterhäuschen befindet sich in der rechten oberen Ecke des Planausschnitts. Und zwar südlich der Bahnlinie. Gleich vis-à-vis, auf der Nordseite der Geleise und des Niveauübergangs ist ein weiteres Gebäude, das laut Willi Baumgartner-Thut als Schopf genutzt wurde.

Wo ist das Wiesenthal... 

Das Gebiet «Wiesenthal» befindet sich auf der Südseite der Bahnlinie, in der Nähe des südlichsten Punktes der langgestreckten Rechtskurve Richtung Station Weiach-Kaiserstuhl. 

Auf obigem Plan weist der Knick in der Panzersperrenparzelle oberhalb des Schriftzugs Weiach genau auf diesen Punkt hin. Just dort befand sich auch der Durchlass, wo sich das Wasser aus der durch jahrhundertealte Bewässerungspraxis gut befeuchteten Wiese (daher der Name Wiesental) sammelte und unter dem Bahndamm hindurch in etwa den Verlauf des heutigen Dorfbachs nahm. Dieser Punkt wäre vom Fundamentaspekt her so ziemlich die ungünstigste Stelle für ein Bahnwärterhaus gewesen. Auch das ein Argument für einen Irrtum des Kanzlisten.

...und wie alt ist der Plan?

Der Hinweis auf die dem Dorfkern vorgelagerte Tanksperre aus dem Zweiten Weltkrieg kann übrigens als Terminus post quem gelten, um die vom Staatsarchiv des Kantons Zürich vorgenommene Eingrenzung des Entstehungszeitpunkts obigen Planes (1920 bis 1950 im Katalogeintrag; 1921 bis 1949 im Georeferencer und dem GIS-System maps.zh.ch) auf die 40er-Jahre einzudampfen. Ein Terminus ante quem sind überdies sowohl das Fehlen des 1946 auf Lebern von Johann Meier-Bersinger erbauten Schopfs mit Keller, sowie des 1947 errichteten neuen (und heutigen) Gemeindehauses. Fazit: der Plan zeigt Weiach im Zweiten Weltkrieg.

Dem Kiesabbau zum Opfer gefallen

Zurück zum Bahnwärterhaus. Bei der dritten Neunummerierung wurde die Nr. 194 (1895) im Jahr 1955 zu Nr. 151. In den Jahren nach 1955 dürfte das Wohnhaus auch erweitert worden sein, denn auf Luftaufnahmen sieht man deutlich einen Quergiebel, der parallel zu den Gleisen ausgerichtet ist.

Luftaufnahmen des Kantons von 1987, bzw. des Bundes von 1988 zeigen, dass das Gebäude damals noch vorhanden war. Es ist allerdings deutlich erkennbar, wie der Abbau in der Südgrube, der entlang der Bahnlinie Richtung Westen vorangetrieben wurde, unaufhaltsam fortschreitet. 

Man muss daher annehmen, dass das Bahnwärterhaus Knecht spätestens anfangs der 1990er-Jahre abgerissen wurde. Das passt zu den Erinnerungen von Willi Baumgartner-Thut: der Abbruch der 1938 erstellten Stromzuleitung (von der man den Dachständer auf dem Bild von Dieter Enz deutlich sieht) sei in diese Zeit gefallen.

Quellen und Literatur

  • Lagerbuch der Gebäudeversicherung des Kantons Zürich. Bd. 1, 1834 bis 1895. Signatur: PGA Weiach IV.B.06.01
  • Übersichtsplan Gemeinde Weiach. Provenienz: Meliorations- und Vermessungsamt des Kantons Zürich. Erstellt zwischen 1940 und 1946. Signatur: StAZH PLAN B 884.
  • Lagerbuch der Gebäudeversicherung des Kantons Zürich. Bd. 2, 1895 bis 1954. Signatur: PGA Weiach IV.B.06.02
  • Enz, D.: Fotografie Betriebsanlagen Weiacher Kies AG und Bahnwärterhaus Knecht (Ausschnitt). Reportage mit 34 Bildern, Oktober 1984. ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv, Com_M33-0208-0002-0002 - CC BY-SA 4.0 - http://doi.org/10.3932/ethz-a-000664218.
  • Swisstopo LUBIS: Luftbild 19310640011608 vom 29. Juni 1931.
  • Swisstopo LUBIS: Luftbild 1987_307_0278 vom 16. April 1987.
  • Swisstopo LUBIS: Luftbild 19882680045960 von 24. Juni 1988.
  • Brandenberger, U.: «Wann die Eröffnung indeß stattfindet, ist Gott bekannt». 125 Jahre Eisenbahnlinie Winterthur–Koblenz. Weiacher Geschichte(n) Nr. 20. Erstpublikation in: Mitteilungen für die Gemeinde Weiach, Juli 2001.
  • Brandenberger, U.: Amerikanische «Luftgangster»? 9. September 1944: US-Luftwaffe beschiesst Güterzüge bei Rafz und Weiach. Weiacher Geschichte(n) Nr. 41. Erstpublikation in: Mitteilungen für die Gemeinde Weiach, April 2003.
  • Brandenberger, U.: Falschmeldung über Weiach auf Kurzwelle ausgestrahlt, 1944. WeiachBlog Nr. 1852 v. 21. August 2022.
  • Telefongespräch des Blogautors mit Willi Baumgartner-Thut, 17. Januar 2023.

Keine Kommentare: