Freitag, 24. Februar 2023

Auf der «richtigen» Seite der Geschichte. Ein Kommentar.

Warum haben etliche Deutsche seit Monaten das Gefühl, diesmal auf der richtigen Seite der Geschichte zu sein? Woher kommt diese plötzliche Kriegsbegeisterung von feministischen Aussenministerinnen und Wehrdienstverweigerern? Von Leuten, die noch vor anderthalb Jahren jegliche Ausfuhr von Kriegsmaterial in Kampfzonen strikt abgelehnt haben? Woher kommt die Wiederauferstehung des Furors, wie er 1999 die Serben getroffen hat? Obwohl selbst des Pazifismus unverdächtige Urgesteine wie Henry Kissinger (*1923) vor weiterer Eskalation warnen und Verhandlungen anmahnen?

Epigonen des Gustave Le Bon

Entscheidend ist die Propaganda. Die funktioniert im Kern immer gleich: über Massenpsychologie, die dann die Politik mitschwemmt, ob sie will oder nicht. Appliziert wird die Propaganda als tägliches Flächenbombardement aus sorgfältig formulierten Kernbotschaften, die ihre Wirkung direkt in den Emotionszentren entfalten. Die Prinzipien wurden vor nicht ganz 100 Jahren niedergeschrieben:

«Jede Propaganda hat volkstümlich zu sein und ihr geistiges Niveau zu richten nach der Aufnahmefähigkeit des Beschränktesten unter denen, an die sie sich zu richten gedenkt. Damit wird ihre rein geistige Höhe um so tiefer zu stellen sein, je größer die zu erfassende Masse der Menschen sein soll. Handelt es sich aber, wie bei der Propaganda für die Durchhaltung eines Krieges, darum, ein ganzes Volk in ihren Wirkungsbereich zu ziehen, so kann die Vorsicht bei der Vermeidung zu hoher geistiger Voraussetzungen gar nicht groß genug sein.

Je bescheidener dann ihr wissenschaftlicher Ballast ist, und je mehr sie ausschließlich auf das Fühlen der Masse Rücksicht nimmt, um so durchschlagender wird der Erfolg sein. Dies aber ist der beste Beweis für die Richtigkeit oder Unrichtigkeit einer Propaganda und nicht die gelungene Befriedigung einiger Gelehrter oder »ästhetischer« Schmachtaffen.» (S. 189)

«Die breite Masse eines Volkes besteht nicht aus Diplomaten oder auch nur Staatsrechtslehrern, ja nicht einmal aus lauter vernünftigen Urteilsfähigen, sondern aus ebenso schwankenden wie zu Zweifel und Unsicherheit geneigten Menschenkindern. Sowie durch die eigene Propaganda erst einmal nur der Schimmer eines Rechtes auch auf der anderen Seite zugegeben wird, ist der Grund zum Zweifel an dem eigenen Recht auch schon gelegt. Die Masse ist nicht in der Lage, nun zu unterscheiden, wo das fremde Unrecht endet und das eigene beginnt.» (S. 192)  

Steter Tropfen höhlt den Stein

«Nun ist aber Propaganda nicht dazu da, um blasierten Herrchen laufend interessante Abwechslung zu verschaffen, sondern um zu überzeugen; und zwar die Masse zu überzeugen. Diese aber braucht in ihrer Schwerfälligkeit immer eine bestimmte Zeit, ehe sie auch nur von einer Sache Kenntnis zu nehmen bereit ist und nur einer tausendfachen Wiederholung einfachster Begriffe wird sie endlich ihr Gedächtnis schenken.

Jede Abwechslung darf nie den Inhalt des durch die Propaganda zu bringenden verändern, sondern muß stets zum Schlusse das gleiche besagen. So muß das Schlagwort wohl von verschiedenen Seiten aus beleuchtet werden, allein das Ende jeder Betrachtung hat immer von neuem beim Schlagwort selber zu liegen. Nur so kann und wird die Propaganda dann einheitlich und geschlossen wirken.

Diese große Linie allein, die nie verlassen werden darf, läßt dann bei immer gleichbleibender konsequenter Betonung den endgültigen Erfolg heranreifen. Dann aber wird man mit Staunen feststellen können, zu welch ungeheuren, kaum verständlichen Ergebnissen solch eine Beharrlichkeit führt.» (S. 195)

Alleinschuld?

Jahrzehntelang sind den Schulkindern Wahrheiten eingetrichtert worden, die man nicht hinterfragen darf. Zum Beispiel die, Hitler-Deutschland habe am 1. September 1939 einen als unprovoziert geframten «Überfall auf Polen» veranstaltet. Man erkennt die einseitig gespurte Begriffsbildung. 

Kurzerhand übertüncht wird mit diesem Begriff, dass in den Jahren davor massgebende Kreise in Polen den Machthabern in Deutschland punkto Gesinnung und Methoden keineswegs nachstanden und sie in der kurzen Zwischenkriegszeit auf ihrem damaligen, wieder einmal neu zusammengestückelten Staatsgebiet andere Volksgruppen (Ukrainer, Weissrussen, Tschechen, Deutsche, Juden und etliche andere; immerhin ein Drittel der Einwohner) brutal drangsaliert haben (vgl. u.a. Schultze-Rhonhof). 

Ausgeblendet wird überdies, dass die Sowjetunion 16 Tage nach den Deutschen von der anderen Seite her ebenfalls in Polen einmarschiert ist. Und dass die daraus resultierende Vierte Polnische Teilung auf vorhergehenden geheimgehaltenen Absprachen basierte.

Alles völlig egal. Deutschland wird die Alleinschuld an zwei Weltkriegen trotzdem aufgebürdet. Die Geschichte hinter diesen Abläufen könnte und müsste auch und gerade in Geschichtsstunden viel differenzierter beschrieben und diskutiert werden. Stattdessen wird das Thema zu einer kulturellen Tabuzone erklärt, die Deutsche nicht ungestraft betreten dürfen. So löst man keine Probleme. Man züchtet sie im Stillen.

Im höllischen Fernsehzimmer wird applaudiert

Seit einem Jahr wird nun in den Massenmedien (auch in der Schweiz) Tag für Tag der Begriff «russischer Angriffskrieg [auf die Ukraine]» verwendet. Die gesamte Vorgeschichte und der eigene Anteil im unmittelbaren Vorfeld werden komplett ausgeblendet. Das muss auch so sein im Krieg. Denn die Russen sind ja jetzt (wieder) «die andern». Nicht «wir». Also ist man im Westen wie immer – und als Deutscher endlich wieder einmal – auf der «richtigen» Seite. 

Und auf der anderen Seite, im «Reich des Bösen» (dem Propagandabegriff Ronald Reagans für die Sowjetunion) funktioniert das mit der Propaganda ebenfalls wie am Schnürchen. Basierend auf denselben Prinzipien. Nur halt seitenverkehrt. Auch Putins Leute verkaufen ihren Untertanen die Story, sie seien auf der «richtigen» Seite.

Zum Einsatz kommen auf die jeweiligen Volksseelen angepasste Werkzeuge und Botschaften. Reaktivierung und Bewirtschaftung von transgenerationalen Traumata hüben wie drüben.

Die dafür matchentscheidenden Werkzeuge des Totalitarismus haben das Radiozeitalter problemlos überlebt. Auch das Fernsehzeitalter im Kalten Krieg. Heute werden das Internet, Social Media und Computergames weaponized, d.h. zu Kriegswaffen umgeformt. Und weiss Gott, was sonst noch alles.

So führen Bellizisten unsere Welt in den Untergang. Sie verachten Diplomaten und Staatsrechtslehrer zutiefst. Sie wollen keine Verhandlungen, sondern brauchen die Rhetorik von der Vernichtung des Gegners für ihre Agenda. Insofern ist Annalena Baerbocks «Versprecher» von der 360-Grad-Wende, die sie von Wladimir Putin fordert, eben kein Versehen. Dahinter steckt Absicht. Man braucht sein über Jahre aufgebautes Feindbild noch um die wahren Kriegsziele verwirklichen zu können.

Das Great Game auf dem globalen Schachbrett tritt propagandabefeuert auch in Europa wieder einmal in eine glutheisse Phase. Ein Krieg auf allen Operationslinien, inklusive der Energieversorgung und der Ernährungssicherheit. Es geht schliesslich um die Weltherrschaft.

Goebbels und sein sowjetisches Pendant applaudieren aus dem Jenseits, Hitler und Stalin begutachten die Szenerie mit Kennerblick. Und tun sich dabei an höllischem Popcorn gütlich.

Gewöhnlich gut unterrichtete Kreise der Unterwelt wollen wissen, dass sich auch Pol Pot und Mao sowie etliche der bereits von der Erdenbühne abgetretenen Führer des sogenannten «Wertewestens» regelmässig im Fernsehzimmer bei Adolf und Josef einfinden. Denn Adolf der Braune ist ein Experte. Von ihm stammen die Zitate im zweiten und dritten Abschnitt dieses Kommentars.

Quelle und Literatur

  • Auszüge aus der Erstausgabe 1925/27 von Adolf Hitlers Mein Kampf, zit. n. Institut für Zeitgeschichte München-Berlin (Hrsg.): Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition. Band I, Kapitel 6. München 2022 – S. 189, 192 u. 195. -- [Diese Ausgabe gibt den Stil Hitlers am direktesten wieder. Die späteren Drucke, insbesondere die sog. Volksausgaben ab 1930 sind – so die Herausgeber der historisch-kritischen Ausgabe – bereits stilistisch stark überarbeitet.]
  • Polens Minderheiten 1920-1939. Auszug aus: Schultze-Rhonhof, G.: 1939 – Der Krieg der viele Väter hatte. 11. Auflage, LAU-Verlag, Reinbek 2019.
  • Karte Aufteilung Polens 1939 [Poland occupied by Nazi Germany (the Third Reich) and the USSR (21/10/1939-22/06/1941). Map version in black and white. Autor: Lonio17, reformatted as B&W by Poeticbent]

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