Dienstag, 21. Februar 2023

«Neu, freymüthig, wahr». Die Revolution 1798 in der NZZ

Bereits in den Jahren 1792 bis 1797 stand rund um die Eidgenossenschaft herum halb Europa in kriegerischem Aufruhr. Mit Folgen für die Zivilbevölkerung. Ein britischer Admiral drohte beispielsweise unverhohlen, die (nach dem verheerenden Erdbeben von 1755 wiederaufgebaute) portugiesische Hauptstadt in einen Aschenhaufen zu verwandeln, wenn man seine Flotte nicht mit Lebensmitteln versorgen wolle (ZFZ, 9.2.1798, S. 4).

Auf der Seite der anderen Konfliktpartei nahmen französische Agenten im Westen wie im Süden der Schweiz das Heft in die Hand und schafften in territorialer Hinsicht neue Fakten. Und das bereits vor dem offiziellen Ende des 1. Koalitionskrieges mit dem Frieden von Campoformio am 17. Oktober 1797:

«Napoleon hatte trotz zum Teil anders lautender Forderungen der Veltliner entschieden, das Veltlin als vierten Bund mit den Drei Bünden zu vereinigen, doch lehnten diese, wenn auch mit knapper Mehrheit, einen solchen Anschluss ab: 24 Gerichtsgemeinden stimmten gegen, 21 für eine Aufnahme des Veltlins, 14 waren unsicher und vier enthielten sich der Stimme. Am 10. Oktober 1797 gliederte daher Napoleon das Veltlin und die beiden Grafschaften in die Cisalpinische Republik ein.» (Historisches Lexikon der Schweiz, Artikel Veltlin)

Revolutionspropaganda und die wahren Hintergründe

Die Franzosen redeten zwar viel von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Aber eigentlich waren ihre Absichten ganz andere. Die Alte Eidgenossenschaft sollte erobert werden, um drei Ziele zu erreichen: 

1. Strategische Sicherung der Westflanke und der Alpenübergänge; 

2. Plünderung der Staatskassen insbesondere von Bern und Zürich zwecks Rekapitalisierung ihres nach dem Assignaten-Abenteuer (Papiergeld-Währung) in den Bankrott gegangenen Staates; sowie 

3. Ergänzung der Rekrutierungsbasis durch das eidgenössische Wehrkraftpotential.

Dem bewährten Revolutionsexport-Plan folgend ging es Schlag auf Schlag: Am 15. Dezember 1797 besetzen französische Truppen den südlichen Teil des Fürstbistums Basel (heutiger Berner Jura), es folgt am 17. Januar 1798 ein Volksaufstand gegen die Stadt Basel in Liestal, dann einer am 24. Januar gegen die Berner in Lausanne, in Martigny gegen die Oberwalliser am 28. Januar. Gleichentags setzen französische Truppen in Divisionsstärke über den Genfersee und besetzen das bernische Waadtland (die Berner Truppen müssen sich ob der Übermacht zurückziehen). In Aarau flammt der Aufruhr am 31. Januar auf. Am selben Tag erlebt Luzern eine Verfassungsänderung, am 1. Februar rumort es im Toggenburg, am 5. Februar in Zürich, am 6. Februar in Schaffhausen. Und am 14. Februar in der Landschaft St. Gallen (ehem. Fürstabtei).

«Der Einmarsch der französischen Truppen (Franzoseneinfall) in die Waadt im Januar 1798 stärkte die spätestens seit dem Stäfnerhandel fassbare revolutionäre Stimmung in der ländlichen Oberschicht vor allem in den Gemeinden am See, im Knonaueramt und im Zürcher Oberland. In der Erklärung vom 5. Februar 1798 anerkannten der Kleine und Grosse Rat die Freiheit und Gleichheit zwischen Stadt und Landschaft.» (Martin Illi im Historischen Lexikon der Schweiz, Artikel Zürich (Kanton))

Es kommt etwas in Bewegung - aber zu welchem Preis?

In der Zürcher Zeitung (genannt Freitagszeitung oder im Volksmund: Bürkli-Zeitung) vom 9. Februar 1798 werden die oben skizzierten Ereignisse geradezu erleichtert kommentiert: 

«Glüklich, Gott Lob! und so, wie man es von der edlen Denkungsart der biedern Schweizer nicht nur verhoffen, sondern sicher erwarten durfte, haben mehrere lobl. Cantone, und zwar namentlch: Zürich, Bern, Luzern, Freyburg, Solothurn, Schafhausen, Basel, St. Gallen, ihre bisherige Verfassung, gemäß dem Geist der Zeit, und zum Wohl des allgemeinen Besten, theils wirklich abgeändert, theils stehen sie im Begriffe der Abänderung. Und diese erfolgte bisanhin, und wills Gott fernerhin so ruhig, so friedfertig und mit solch gegenseitiger brüderlicher Liebe und Eintracht, daß alle sich feierlich entschlssen haben: Freye Schweizer zu bleiben; Freiheit und Gleicheit in bürgerlichen Rechten einzuführen; keine fremde Einmischung zu gestatten; gegen jeden äussern Feind bis auf den lezten Blutstropfen sich zu vertheidigen; und für die Sicherheit der Personen, so wie des öffentlichen und Privat-Eigenthums Einer für Alle und Alle für Einen zu stehen.

Die Verfügungen, welche Zürich bereits getroffen hat, gereichen diesem Stand zur Ehre, und wir machen es uns zur Pflicht, dieselben offiziell zur allgemeinen Kenntniß zu bringen.» (ZFZ, 9.2.1798)

Danach folgen seitenweise die seit den späten Januartagen erlassenen Dekrete und Entscheide. Eine bis dahin beispiellose Offenheit. Denn bis anhin unterlagen die Zürcher Verleger einem rigorosen staatlichen Zensursystem. 

Mit der Verteidigung bis zum letzten Blutstropfen war es dann allerdings nicht weit her. Am 27. April besetzten die Franzosen ohne Kampfhandlungen die Stadt Zürich.

Von der Zensur befreit kann man nun offen berichten

Die neue Geschäftspolitik der (gleichnamigen!) Konkurrenz an der Schipfe sowie anderer Verleger brachte die NZZ, gerade knapp volljährig geworden, unter Zugzwang, wollte sie ihre Leser nicht verlieren.

Am heutigen Datum vor 225 Jahren fasste auch der Redaktor der damals am Mittwoch und Samstag erscheinenden Zürcher Zeitung Mut und wagte den Sprung in die neue Epoche. 

Die faktische Umkrempelung der Machtverhältnisse am 5. Februar 1798 hatte die Limmatstadt tatsächlich in ihren politischen Grundfesten erschüttert und den Staub des Ancien Régime vom Alten Zürich weggeblasen. So viel war nach zwei Wochen klar.

Was dazu führte, dass aus einem Blatt, das bis dahin ausschliesslich Nachrichten aus dem Ausland brachte, mit einem Male eines wurde, das nun auch über die tagesaktuellen Ereignisse unmittelbar vor der eigenen Haustüre berichtete.

Anders als bei der Freitagszeitung wird die Veränderung im Zeitungskopf manifest und augenfällig. Unten die Ausgaben N° 14, 15 und 16: 


Das Symbol für die Auslandnachrichten, der Postreiter mit den Neuigkeiten aus aller Welt, ist hier zum letzten Mal auf dem Titelblatt zu sehen. Bereits die nächste Ausgabe sah so aus:


Noch eine Ausgabe später wurde der neue Auftritt durch ein Motto ergänzt:


Was es mit diesem Motto (gleich unter dem Wort Zeitung eingerückt) auf sich hat, das erklärt der NZZ-Redaktor gleich darunter und noch auf der Titelseite, versehen mit der Überschrift «Vorerinnerung»:

«Jetz da auch der Stand Zürich Freyheit u. Gleichheit als Grundgesetze seiner künftigen Staatsverfassung anerkannt hat, und die Augen der Landeseinwohner sowohl als der Auswärtigen auf die neuesten Verfügungen gerichtet sind, welche die bereits zusammengetretene Versammlung der Volksdeputirten zum Besten des Landes zu treffen gedenke; jezt würde unserer Zeitung das Wichtigste fehlen, wenn wir der uns bisher vorgeschriebenen Regel, nichts von schweizerischen Ereignissen zu sagen, ferner getreu bleiben und unsern Lesern Nachrichten vorenthalten wollten, die sie in einer Zürcherzeitung, vor andern, mit Recht erwarten dürfen. Künftig werden wir also auch die Abschlüsse der Zürcherschen sowohl als der übrigen helvetischen Landstände in gedrängten Auszügen, so viel möglich, unsern Blättern einverleiben. Die Gesetze, nach denen wir bey Abfassung unserer Nachrichten vorzüglich zu verfahren gedenken, sind in obigem Motto enthalten. Wir werden immer suchen unsere Berichte aus ächten Quellen zu schöpfen und sie so neu, so freymüthig und so wahr, als wir können und wissen, vorzutragen. Unter dem Titel: Kurze Uebersicht der neuesten helvetischen Staatsumänderung, werden wir in gedrängter Kürze eine Geschichte der neuesten Revolutionen in der Schweiz liefern, und glauben dadurch unsere Leser für das Stillschweigen einigermaßen schadlos zu halten, das wir bisher aus mancherley Gründen über Vorfälle unsers Vaterlandes beobachten mußten. Wir erlauben uns auch in Zukunft, über die wichtigsten Materien, die in der hiesigen Volksversammlung eben abgehandelt werden, kurze räsonnirende Aufsätze einzurücken, um jedermann eine leichte Uebersicht der Grundsätze, um die bey Entscheidung der vorliegenden statistischen Fragen es hauptsächlich zu thun ist, vor Augen zu legen, um auch den gemeinen Mann in den Stand zu setzen, über dergleichen Materien nachzudenken, und seine Begriffe zu berichtigen. Der Verfasser solcher Aufsätze wird sich jedesmal unterzeichnen. Wir erinnern aber hier ein- für allemal, daß wir den Eigendünkel gar nicht haben, jemanden dadurch in seinem Urtheile vorzugreifen, sondern daß wir lediglich nur unsere Ueberzeugung als Meynung eines Einzelnen vortragen werden. Jedermann prüfe immerzu selbst, ob dem Verfasser nicht etwas Schiefes, Verschrobenes oder Halbwahres entwischet ist. Bey Nachrichten, deren Zuverläßigkeit wir nicht verbürgen können, werden wir unsere Gewährsmänner anführen. Wer Verlangen trägt, gewisse Nachrichten oder Aufsätze in diese Zeitung eingerückt zu sehen, muß seinen Namen unterzeichnen: denn der Redacteur hält es für seine Pflicht, jezt da die Wahrheit rein und ungeschminkt verkündigt werden darf, so viel möglich nur Wahrheiten zu erzählen. Er kann freylich nicht in allen Fällen dafürstehen, daß d. Berichte, die er aus andern Blättern zu entlehnen gezwungen seyn wird, immer ihre volle Richtigkeit haben. Er verspricht aber, alles Falsche, das etwa wider Vermuthen mit einfließen könnte, sobald möglich zu berichtigen, und in der Auswahl der Nachrichten selbst mit aller Sorgfalt und Vorsicht zu Werke zu gehen[.] Zugleich ersucht er aber auch seine Leser, Gerüchte, die sich durch ein: man sagt, es verlautet, oder dergleichen, als solche kenntlich machen, nicht für baare Wahrheiten zu nehmen[,] bis sie volle Bestättigung erhalten.  Zürich den 21. Febr. 1798. Der Redacteur.»  (NZZ, 24.2.1798)

Ein bemerkenswertes Bekenntnis zu den Idealen eines Journalismus, wie er sein sollte: Unbestechlich auf der Suche nach der Wahrheit. An dieser Leitlinie könnten sich auch heutige Verleger und Chefredaktoren noch ein Beispiel nehmen.

Quellen und Literatur

[Veröffentlicht am 22. Februar 2023 um 00:50 MEZ]

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