Freitag, 26. April 2024

Schulpflicht – vor 200 Jahren leistungsorientiert definiert

Können Sie sich noch an die Examen in Ihrer Volksschulzeit erinnern? Da kamen Schulpfleger und Eltern ins Schulzimmer und waren bei einem doch eher lockeren Unterricht dabei. Prüfungsstress hatte da allenfalls die Lehrkraft, die Schulkinder eher weniger. 

Ob das vor 200 Jahren noch etwas anders war? Damals war nämlich die Anzahl der obligatorischen Schuljahre nicht fix festgelegt. Das Examen fand jeweils anfangs April statt und war ein Anlass, bei dem darüber entschieden wurde, ob ein bestimmtes Kind aus der Pflicht zum Besuch der Alltagsschule entlassen werden kann.

§. 17. Examen.

«Es soll alle Jahre nach geendigter Winterschule von dem Pfarrer und den Vorgesetzten und Stillständern ein Schulexamen gehalten werden, sowohl mit den täglichen als Repetierschülern, wobey die Schulrödel ordentlich vorgelegt werden sollen. Ebenso soll auch bey Eröffnung der Schule von dem Pfarrer in Beyseyn der Vorgesetzten und Stillständer dem Schulmeister die Schul feyerlich übergeben, an den Lehrer und die Kinder eine herzlich-kräftige Ermahnung gehalten und den Vorgesetzten und Stillständern die Schulbesuche empfohlen werden.»

Bei den Schulrödeln handelte sich laut § 10 um nach Vorgaben geführte Listen mit Anwesenheits- und Leistungsvermerken für jedes einzelne Schulkind. Mit den Vorgesetzten sind die Gemeinderäte und mit den Stillständern die Kirchenpfleger gemeint.

Diese Paragraphen hat die Zürcher Kantonsregierung im Dezember 1803 mit dem Gesetz, enthaltend eine Schulordnung für die Landschaft des Kantons Zürich erlassen. Für die nächsten dreissig Jahre bildete dieses die Grundlage auch für den Schulunterricht in der Gemeinde Weyach. 

Tiefere Anforderungen nur für Mädchen möglich

In besagtem Erlass ist keine Rede davon, wieviele Schuljahre zu absolvieren sind. Entscheidend war, ob ein Schulkind die Prüfung durch den Herrn Pfarrer bestand. Wenn ja, musste es dann bis zur Konfirmation nur noch in die Repetierschule (ein Halbtag pro Woche; mit weniger als einem Viertel der Stundenanzahl der Alltagsschule):

§. 18. Entlassung der Schüler.

«Bey diesen öffentlichen Examen soll auch jedesmal gemeinschaftlich bestimmt werden, welche Kinder der täglichen Schule entlassen, und in die Repetierschule mögen aufgenommen werden, da den Eltern nicht überlassen seyn soll, ihre Kinder eigenmächtig aus der Schule zu nehmen. Auch mag in der Zwischenzeit diese Entlassung, aber nie anders geschehen, als auf das Zeugniß des Schulmeisters, und auf eine von dem Pfarrer selbst in Beyseyn wenigstens Eines Stillständers angestellte Probe. Mithin ist unser ernstlicher Wille, daß kein Schulkind unter irgend einem Vorwand der täglichen Schule entlassen werde, bis es fertig und verständlich lesen und ordentlich schreiben kann, und zum sittlich-religiösen Unterricht dienliche Stellen und Sprüche, mit Verstand auswendig gelernt, auch das Einmal-Eins mit einigen Anfängen des Kopfrechnens inne hat. Für die Töchter mag des Schreibens halber vom Pfarrer und Stillstand eine Ausnahme bewilligt, aber kein Knabe soll entlassen werden, ehe er schreiben gelernt hat.»

Für eine Frau, so kann man daraus schliessen, reichte damals die sittlich-religiöse Erziehung notfalls völlig aus, Schreiben musste sie nicht unbedingt können. Ein Mann hingegen, der nicht schreiben kann, das geht gar nicht.

Quelle 

Mittwoch, 24. April 2024

Jetzt klauen uns die Stadtzürcher unsere Hexen!

Oder: Ein Plädoyer wider zentralisierte Mahnmale. 

Mit Denkmälern ist das so eine Sache. Die sollen ja etwas ausdrücken, an etwas erinnern. An Vorbilder und deren Tugenden, die auch in Zukunft weitergeführt werden sollen. 

Oder eben gerade an das Gegenteil. An Schandtaten, die nie wieder passieren dürfen. Beispielsweise Justizmorde. Staatlich sanktionierte Beseitigung von Personen, die den Vorwurf der Hexerei gestanden haben und dafür hingerichtet wurden.

Um letzteres geht es einem feministisch inspirierten Verein: Pro Mahnmal.

Ein Patriarchatsproblem?

Alles schön und gut. Das Problem ist, dass sich hier Feministinnen eines Themas bemächtigen, sich unsere Hexen krallen und zu einem politischen Statement gegen das böse Patriarchat aufbauen. Primär wird damit die Frauenfeindlichkeit der Zürcher Ratsherren angeprangert.

Denn diese böse, machtgierige Herrscherclique – so das implizite Narrativ – habe die Hexenprozesse aus reiner Misogynie und zwecks Unterdrückung weiser Frauen organisiert oder zumindest Folter und Todesurteile aus reiner Niedertracht angeordnet.

Das mag im einzigen Stadtzürcher Fall, in dem die reiche Witwe Agatha Studlerin durch Ertränken in der Limmat vom Leben zum Tode befördert wurde, ja tatsächlich zutreffen. Für diesen Fall Studler gibt es an Agathas ehemaligem Wohnhaus «Zur Meerkatze» (Untere Zäune 1) eine Plakette, die diesen Justizmord thematisiert. Gut so.

Effekthascherische Zahlenakrobatik

Nun betreibt der Verein Pro Mahnmal aber weiterhin seine Agenda, bedrängt die linke Zürcher Stadtregierung, redet ihr ein Schuldbewusstsein ein (was nicht allzu schwierig ist) und will ein zentrales Mahnmal. Dafür steht die aktuell noch formal höchste Zürcherin ein: Sylvie Fee Matter, Kantonsratspräsidentin 2023/24.

Auf der Website des Vereins und in den Worten von Pfrn. Sibylle Forrer anlässlich der GV 2024 tönt das dann so:

«Im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit wurden tausende Menschen Opfer eines Hexenwahns. Sie wurden angeklagt, Verbrechen begangen zu haben, die man nicht begehen kann. Wer wegen Hexerei gefoltert und hingerichtet wurde, wurde unschuldig ermordet.
Der Verein pro mahnmal setzt sich dafür ein, dass mit einem Mahnmal für die etwa 80 Zürcher Opfer des Hexenwahns ein Zeichen gesetzt wird. Ein Mahnmal ist nicht nur ein Denkmal, mit dem der Opfer gedacht werden soll. Ein Mahnmal soll etwas im Gedächtnis halten, von dem man hofft, dass es nie wieder geschieht.»

Frage 1: Tausende? Allein im Einflussbereich von Bürgermeister und Rat der Stadt Zürich? Das ist völlig übertrieben. Wieso werden hier europäische Zahlen mit denen von Zürich (80 Opfer) zusammengemixt?

Frage 2: Das Mahnmal soll nur an die Todesopfer erinnern? Was ist mit denjenigen, die sich von der Folter nicht haben brechen lassen und daher von Rechts wegen nicht hingerichtet werden durften? Sind das etwa keine Opfer, nur weil sie mental zu stark waren oder ganz einfach Glück hatten?

Aktion Hexenklau

Pro Mahnmal will also die Errichtung eines zentralen Mahnmals mitten in der alten Stadt.

Das ist – mit Verlaub – in etwa dasselbe wie cultural appropriation durch die Herrscherklasse (aka «alte weisse Männer») ehemaliger Kolonialmächte! Hier wird sozusagen zum Hexenklau aufgefordert.

Denn, wie oben erwähnt: Es stammt gerade einmal ein einziges wegen Schadenzauberei/Hexerei hingerichtetes Opfer aus der Stadt. Alle anderen kommen von der Landschaft. 

Stellt die Zürcher Stadtregierung nun so ein Mahnmal wie einen Solitär auf, dann nimmt sie den Gemeinden der Zürcher Landschaft quasi ihre Hexen weg. Sie übernimmt Verantwortung für etwas, was in erster Linie Gemeinden angeht, aus denen heraus Hexenprozesse angestossen wurden.

Die Erinnerung gehört auf die Landschaft

Denn diese Landbewohner waren es in erster Linie, die die Herren Land- und Obervögte in vielen Fällen überhaupt erst dazu gezwungen haben, zwecks Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung die Verhaftung einer angeblichen Hexe anzuordnen – und damit auch das ganze damals übliche Instrumentarium der Strafverfolgung in Anschlag zu bringen. Vom Kerker, über psychische bis zur physischen Folter. Und im Extremfall zur Hinrichtung.

Ich erinnere an den Fall der angeblichen Weiacher Hexe Christa Baumgartner:

«Wiewol die Boumgarterin von Wygach vor jaren (alß sy ettwas bös arggwons halb gefanngen ward) keynerdings gichtig ald bekanntlich [geständig], sonnder ganntz reyn und unschuldig sin wolt, wirt sy doch (wie du wol weyßt) uß menngerlej ursachen yetz abermals sovyl verlümbdet, das zů besorgen, sy nit glaßluter, sonnder gar ful, schalckhafft unnd der boßheyt hafft und ergëben syge.» (StAZH B IV 16, fol. 300; Missiven, Brief an den fürstbischöflich-konstanzischen Obervogt zu Rötteln bei Kaiserstuhl, 12. Juni 1546 st.v.)

Diese Frau war auch nach ihrer zweiten Verhaftung nicht der Hexerei geständig und blieb deshalb am Leben. Die Schuld an ihrem Martyrium trägt die Weiacher Dorfgemeinschaft. Damit hat die Stadt nichts zu schaffen.

Über die Stadtmauern hinaus

Deshalb darf es nicht nur ein zentrales Denkmal geben. Das kann die Stadt Zürich errichten, wenn sie will. Passenderweise in der Nähe der Stelle auf den Kiesbänken der Sihl, wo die meisten Hexen verbrannt wurden.

Nein, dieses Mahnmal-Projekt sollte in etwa so umgesetzt werden wie bei den Holocaust-Stolpersteinen (vgl. für die Schweiz: stolpersteine.ch). Nur so wird endlich auch über den Tellerrand der Stadt hinaus gedacht!

Hexenerinnerungssteine gehören in diejenigen Gemeinden, aus denen die hingerichteten Hexen und Hexer stammen. Fünf nach Weiach und acht nach Wasterkingen, beispielsweise. Einer nach Zürich-Höngg und zwei nach Zürich-Altstetten (vgl. Sigg, Hexenprozesse mit Todesurteil, 2012).

Wenn man sich denn nur auf die Hingerichteten beschränken will. Das greift aber zu kurz. Momentan kann man die Gesamtzahl der Verfolgten nur grob schätzen. Deshalb lieber noch etwas länger forschen. Die Grundlagen hat das Staatsarchiv des Kantons Zürich ja nun geliefert (vgl. Quellenstudie Hexereiprozesse StAZH, Version 3.0).

Weiterführende Literatur zu den Weiacher Hexenprozessen

Dienstag, 23. April 2024

Den «Steinberg» von Ober-Raat aus aquarelliert

Seinen Namen kennen wohl die meisten Einwohner von Weiach nicht. Seine Werke haben hingegen viele schon gesehen: die kleinen Ortsplänchen von Weyach, denen eine naturalistische Darstellung des Wahrzeichens der Gemeinde – die unserer Kirche – beigeben ist. Eine dieser Radierungen hängt auch im Gemeindesaal unter der Turnhalle.

Der Urheber dieser Darstellungen ist Heinrich Keller (1778-1862), der als Kartograph, Panoramenzeichner und Verleger tätig war. So wie Jahrzehnte später unseren Dorfkünstler Hans Rutschmann-Griesser hat man auch ihn immer wieder in der Landschaft angetroffen. Zeichnend und aquarellierend. Man muss ja schliesslich eine eigene Vorstellung davon haben, was man dann zuhause radiert oder gar in Kupfer sticht, zumal wenn man das Resultat danach kommerziell anbieten will. Und dafür muss man vorher viele Skizzenbücher füllen.

Aus einem dieser Alben stammt die nachstehende Darstellung, auf einer Seite mit vier weiteren eingeklebten Zeichnungen, Entstehungszeit unbekannt. Erkennen Sie das Sujet?


Blick nach Nordwesten

Wer selber anhand der markanten Felsenformation noch nicht drauf kommt: hier ist unser «Stein» abgebildet, nur halt aus einer Perspektive, die sich vom Dorfkern aus nicht bietet. Auf der Vignette ist zu lesen: «Steinberg». Und darunter: «gezeichnet bey'm obersten Haus zů Ober Rath».

Diese obersten Häuser (465 m ü. M.) stehen heute alle westlich der 1845/46 als Kunststrasse neu errichteten Regionalverbindungsstrasse, die in Weiach «Stadlerstrasse» und in Raat «Kaiserstuhlerstrasse» genannt wird.

Blickt man von diesen Gebäuden in Oberraat aus nach Nordwesten (vgl. Situation: https://maps.zh.ch/s/sh2j4mxn), dann sieht man das, was Keller mit Tinte und aquarelliert zu Papier gebracht hat.

Das Plateau des Steinbergs liegt auf rund 545 m ü.M. Beim Ausläufer linkerhand handelt es sich um die Fasnachtflue (504 m ü.M.) mit der prähistorischen Wall-Graben-Anlage des Ebnet.

Die alte Landstrasse verlief übrigens südwestlich der heutigen in natürlich (d.h. nicht auf dem Reissbrett) entstandenen Schwüngen über die heutige Bannacherstrasse, die Baawis, weiter auf Weiacher Gebiet mit der Eichwis und oberhalb des heutigen Felsenhofs, dem Schärerschrüz und den Höfen im Hinter- und Vorderberg, die Bergstrasse hinunter in den Weiacher Dorfkern.

Quelle und Literatur

Sonntag, 21. April 2024

Gärten auf der Zürcher Landschaft im 19. Jahrhundert

Gottlieb Binder, der Verfasser der ersten zwischen harte Buchdeckel gebundenen Geschichte unserer Nachbargemeinde Stadel, hat 1930 in der Bülach-Dielsdorfer Wochen-Zeitung (dem heutigen Zürcher Unterländer) einen mehrteiligen Beitrag über die Landwirtschaft in der Gemeinde Weiach abdrucken lassen.

Die Informationen dazu hat der aus dem Unterland stammende, in Kilchberg am Zürichsee als Lehrer tätige Binder, aus einer 1852 publizierten Broschüre, die von Seminarlehrer Kohler aus den 1851 eingegangenen Wettbewerbsbeiträgen für landwirtschaftliche Ortsbeschreibungen zusammengestellt wurde.

Kohler stützte sich auf die Verhältnisse in den Gemeinden Weisslingen, Zürich-Höngg, Thalwil, Oberrieden, Uitikon, Wangen-Brüttisellen und Weiach. Allenfalls hat er auch noch weitere Informationen aus eigener Anschauung beigetragen. 

Paraphrasiert aus Kohlers Broschüre

Die untenstehende Passage in der Fassung von Binder 1930 stammt, teils gekürzt und teils umformuliert, eindeutig aus Kohlers Vorlage. Dem Inhalt an sich tut das aber keinen Abbruch. Und so sei hier, trotz oder gerade wegen des aktuellen Zweitwinter-Einbruchs im Original von 1930 festgehalten, wie es zu Beginn und in der Mitte des 19. Jahrhunderts um die Gärten im Züribiet bestellt war [Verlinkung durch WeiachBlog]:

«Der alte schöne Grundsatz, es müsse bei jedem Hause auf dem Lande auch ein Garten sein, ist in unseren Gemeinden überall und von altersher ausgeführt worden, und es findet sich wohl selten ein Haus ohne Garten. Noch vor einem halben Jahrhundert, also um 1800 herum, waren unsere Gärten meistens sehr einfach angelegt und selten eingehagt; auch in der Bepflanzung war wenig Abwechslung zu sehen: Mangold (Kraut), Spinat (Binätsch), Käfen, Kohl und "Bölle" waren die gewöhnlichen Gartenprodukte. Andere Gemüse, wie Buschbohnen (Höckerli), Stickelbohnen, aber auch Käfen, Zwiebeln und Kabis wurden, wie heute (1850) noch in den Reben, besonders in den neueingelegten gepflanzt. Blumen waren spärlich vorhanden, am meisten die hundertblättrigen Rosen, einige Nelkenarten, Reseden, Levkoien (Straßburger), Lack (Maiennägeli). Als Topfpflanzen wurden gezogen Myrten, Geranien, gefüllte Nelken. Nirgends fanden sich in den Gärten Zwergobstbäume mit feinem Obst, dagegen da und dort aus den Steinen gezogene Aprikosen (Barillen) und Pfirsiche. Auf den Sonnseiten der Häuser aber wurden Reben am Geländer oder in Bogen gezogen.

Um 1850 war schon vieles anders geworden. Sowie die Verbesserungen in der Landwirtschaft Fortschritte erzielten, trat auch in den Gärten mehr Sinn für das Schöne und Liebliche zu Tage. Fast alle, selbst die kleinen Gärten, sind schönre und lieblicher geworden. Von den größeren wurden manche geschmackvoll angelegt und bieten nun dem Auge die mannigfachste Abwechslung im Hinblick auf Gemüse, Blumen, Obst- und Zierbäume. Besonders reich bedacht sind die Blumen. Die mannigfaltigsten Rosenarten in niederer Form, in Halb- und Hochstämmchen, die so schönen und unübertrefflichen Dahlien, Nelken, Straßburger, und eine Menge Sommerflor zieren unsere kleinen und großen Gärten. Primeln und Hiazinthen, Tulpen u.a. eröffnen im Frühjahr den Reigen. In einigen Gärten findet man auch schöne Gruppen und Anlagen von Gesträuchen und Zierpflanzen. Die meisten Gärten sind mit hölzernem, meist grün gestrichenem Lattenwerk eingefaßt. Es gibt daneben aber abseits von den Straßen und Dorfgassen auch Gärten, die ganz offen sind. Die meisten sind in schöne, von Buchs eingefaßte Beete eingeteilt, die verschieden geformt sind.»

Es fällt auf, dass Kohler keine Angabe zur Farbe des Lattenzauns macht (vgl. S. 66), Binder hingegen sehr wohl. Für ihn ist Lattwerk auf der Zürcher Landschaft «meist grün» gestrichen.

Keine Weiacher Alleinstellungsmerkmale

Festzuhalten ist: Entgegen den Aussagen Binders in der Einleitung zu seinem Beitrag sind die Angaben zum Aussehen der Hausgärten und zu den Pflanzen, die dort angebaut wurden, nicht Weiach-spezifisch. 

Kohler kann nichts dazu aus der Weiacher Ortsbeschreibung von 1850 u. 51 entnommen haben, die man bei der grossen Restauration der 1960er-Jahre in der Turmkugel unserer Kirche gefunden hat. Diese Schrift enthält nämlich höchstens kursorische Angaben zu den Hausgärten und den dort wachsenden Pflanzen. 

Für die Verfasser der Ortsbeschreibung, die Protagonisten des Weiacher Landwirtschaftlichen Gemeindsvereins, fielen ihre Hausgärten offensichtlich nicht unter den Begriff Landwirtschaft.

Quellen und Literatur

  • Ortsbeschreibung Weiach von 1850 u. 51. Handschrift, fadengeheftet. Signatur: OM Weiach KTD 7.
  • Kohler, Johann Michael: Landwirthschaftliche Beschreibung der Gemeinden Dettenriedt, Höngg, Thalweil-Oberrieden, Uitikon, Wangen, Weyach, bearbeitet nach den von genannten Orten eingegangenen Ortsbeschreibungen von J. M. Kohler, Seminarlehrer, und als Beitrag zur Kenntniß des Landbaues im Kanton Zürich, herausgegeben von dem Vorstande des landwirthsch. Vereines im Kanton Zürich. Druck von H. Mahler, Zürich 1852. https://doi.org/10.3931/e-rara-30931 Vgl. insbesondere S. 65-66.
  • Binder, Gottlieb: Die landwirtschaftlichen Verhältnisse der Gemeinde Weiach um 1850. In: Bülach-Dielsdorfer Wochen-Zeitung, 1930, Nr. 86-89 (5 Teile). Hier: Dienstag, 28. Oktober 1930, Nr. 87. Unterhaltungsblatt [Teil] 3 [auf 2. Blatt].
  • Ortsbeschreibung Weiach Anno 1850/51. Abschrift des Originals durch Walter Zollinger, fertiggestellt 17. März 1969. Handschrift, Ringheft.

Donnerstag, 18. April 2024

Gemeindeförster für 4 Tage bei Wasser und Brot inhaftiert

Der Online-Katalog des Staatsarchivs des Kantons Zürich verzeichnet nicht nur die generellen Sachgebiete zu einem bestimmten Dossier. Manchmal gibt er auch Hinweise auf Trouvaillen der eher unerwarteten Art, wie sie der Titel dieses Beitrags zum Ausdruck bringt. 

So beispielsweise beim Konvolut «Korrespondenz 1828 - 1888 - Gemeindewaldung Weiach» mit der Signatur StAZH Z 31.1300. Unter der Rubrik «Inhalt und Form» liest man doch tatsächlich:

«Enthält zahlreiche Briefe; u. a. Mitteilung vom 7. Februar 1828 an den Forstmeister, dass der Gemeinderatsweibel den für vier Tage in Regensdorf bei Wasser und Brot inhaftierten Gemeindeförster Rudolf Meyerhofer vertreten werde,  [...]».

Handelt es sich wirklich um Regensdorf...?

Was sich unser damaliger Förster hat zuschulden kommen lassen, geht allenfalls aus diesem Schreiben von 1828 hervor. 

Mit einigem Erstaunen vermerkt der hier in die Tasten hauende Ortshistoriker aber, dass da auch nach Augenreiben immer noch RegensDORF steht. Nicht RegensBERG. 

Nun ist es tatsächlich so, dass in der per Eingemeindung 1896 massiv gewachsenen Stadt Zürich dringend Platz geschaffen werden musste. Daher verlegte man das Zuchthaus auf eine grüne Wiese im Furttal und riss die jahrhundertelang als Gefängnis und Arbeitshaus genutzten Gebäude des ehemaligen Dominikanerinnen-Klosters Oetenbach ab.

So kam es, dass Regensdorf ab dem Jahr 1901 für viele Zürcher zum Synonym für schwedische Gardinen geworden ist. Kein Wunder, denn sie hiess ja auch explizit Strafanstalt Regensdorf. Da ist die heutige Bezeichnung Justizvollzugsanstalt Pöschwies schon neutraler. 

...oder doch eher um Regensberg?

Wie oben erwähnt geht es hier aber um einen Straffall von 1828. Damals gehörte Weyach zwar bereits zu demjenigen Verwaltungsgebilde, das später zum Bezirk Regensberg (ab 1871: Bezirk Dielsdorf) werden sollte. Das war aber noch ein sogenanntes Oberamt. Und der Oberamtmann fühlte sich schon fast wieder wie weiland ein Landvogt auf Schloss Regensberg. So sahen es jedenfalls etliche Untertanen. Was Wunder, schliesslich war dort oben auch das Bezirksgericht ansässig. Entsprechend gab es da auch Arrestzellen.

Es ist daher ziemlich sicher, dass Rudolf Meyerhofer seine Strafe im Städtchen auf dem Lägernsporn absitzen musste, oder wie man damals sagte «auf dem Buk». Ein für viele höchst negativ konnotierter Ort, an den man entsprechend ungern erinnert wurde. Was in den 1860ern im Kampf um die Verlegung des Bezirkshauptorts ins Tal nach Dielsdorf von den Befürwortern dieser Änderung auch gnadenlos instrumentalisiert worden ist.

Rückmeldung Staatsarchiv (Nachtrag vom 22. April 2024)

Martin Leonhard, stellvertretender Abteilungsleiter Individuelle Kundendienste im Staatsarchiv, teilt heute per e-mail mit:

«Tatsächlich wurde der Brief in Z 31.1300 bei der Verzeichnung falsch gelesen. Wie Sie in der beiliegenden Arbeitskopie sehen, informierte der damalige Weiacher Gemeindeammann Johannes Baumgartner den «Herrn Forstmeister» am 07.02.1828 darüber, dass am Vortag der Weiacher Förster Rudolf Meyerhofer wegen Verleumdung und «sehr grober Aufführung gegen mich» vom Amtsgericht Regensberg zu vier Tagen Haft bei «Wasser und Brod» verurteilt worden sei. Wo dieser seine Strafe verbüssen musste – naheliegend wäre Regensberg –, erwähnt Baumgartner aber nicht.»

Signatur des Briefes: StAZH Z 31.1300, Nr. 1

Mittwoch, 17. April 2024

Pfarrherr betrauert Pesttod seiner Tochter in poetischer Form

Johannes Frey (1538-1607; WPZ21 Nr. 29) war einer der vielen Pfarrer, die im 16. Jahrhundert die nicht sehr beliebte Pfarrstelle von Wyach aufs Auge gedrückt bekamen. 

Da gab es nämlich kein Pfarrhaus. Bis zur Einrichtung eines minimalen Pfrundgutes samt Ankauf eines sehr bescheidenen Häuschens im Jahre 1591 musste der für Weiach zuständige Pfarrer zu Fuss von Zürich aus dorthin und wieder zurück. Denn diese Stelle war hundsmiserabel besoldet und es gab nur in Zürich halbwegs standesgemässe zusätzliche Verdienstmöglichkeiten (z.B. als Hilfslehrer).

Inschriftlich verewigt...

Für Frey war Wyach nicht wirklich ein Problem. Es war seine erste richtige Pfarrstelle. Bereits 1560 ordiniert, war dieser Karriereschritt 1562 auch an der Zeit. Weiach war dann das Sprungbrett zu besseren Verdienstmöglichkeiten – wie bei vielen anderen Jungpfarrern. Noch im selben Jahr erhielt er die Stelle eines Diakons in Kappel am Albis. Und am 15. März 1566 wählten ihn die Meilemer zu ihrem Pfarrer.


Als Pastor Ioannes Liberianus ist er sogar an der Stirnseite des Podests zum Turmeingang inschriftlich verewigt, wie man bei Jakob Stelzer in seiner Geschichte der Gemeinde Meilen (S. 129) lesen kann.

... und als guter Verseschmied

Im Historisch-biographischen Lexikon der Schweiz wird Frey als «guter Poet» bezeichnet (HBLS III S. 247 Nr. 19). Und damit war er laut Stelzer nicht der einzige seiner Zunft unter den Meilener Pfarrern. Die Goldküstengemeinde war sozusagen ein Pfarrschriftsteller-Anziehungspunkt:

«Die Pfarrer von 1547 bis 1693 waren mit Ausnahme von nur drei (1585 bis 1625) als Epigramm- und Liederdichter oder Schriftsteller bekannt.»

Es blieb ihm nicht erspart, dass er Frau und Kind zu Grabe tragen lassen musste (Stelzer S. 130/132):

«Johannes Frei, insignis poeta, schrieb im August des Pestjahres 1582 ins Totenbuch:

Filia Lyberi virgo Susanna ministri
In domino obdormit, spiritus astra petit,
Aeterna in coelis cum Christo hic gaudia captat
Rursus corpus suscitet ille suum
Tunc animus et corpus iuncta salute fruentur
Coelesti in patria perpetuoque simul.

Jungfrau Susanna Frey des Pfarrers / ehliche / Tochter
In dem Herrn entschlief und sternenwärts schwang sich ihr Geist
Ewger Wonnen genießend im Himmel mit dem Erlöser,
Der aus dem Grabe dereinst wird auferwecken den Leib;
Seele und Leib alsdann, sie werden gemeinsamen Heiles
Ewiglich sich erfreun im himmlischen Vaterlande.

Er dichtete auch deren Grabschrift und ein Lied auf seine an der Pest verstorbene Gattin.»

Wie alt seine Tochter zum Zeitpunkt ihres Todes war, ist mir nicht bekannt. Sie dürfte jedoch kaum erwachsen gewesen sein, oder sogar noch ein Kind. Denn vor 1562 konnte Frey von einer Familiengründung aus wirtschaftlichen Gründen vernünftigerweise nur träumen.

Quelle

  • Stelzer, J.: Geschichte der Gemeinde Meilen. 1. Band: Von den Anfängen bis 1830. Verlag der Mittwochgesellschaft Meilen, 1934 – S. 129, 130 & 132 [https://doi.org/10.20384/zop-4721].

Dienstag, 16. April 2024

Auf Betteltour in Würenlos gestorben

Wie wir am Samstag gesehen haben (vgl. WeiachBlog Nr. 2080) hat die Gemeinde Weiach anfangs der 1690er-Jahre ihren Dorfarmen mangels genügender Mittel in der Gemeindekasse und zugleich ausbleibender Unterstützung durch das Almosenamt der Stadt Zürich die Bettelfreigabe erteilt. An drei Tagen in der Woche durften namentlich bestimmte Arme vor den Häusern «heuschen». Ganz offiziell.

Solche aus Weyach stammenden Bettler zogen natürlich auch sonst im Land umher und versuchten sich auf diese Weise irgendwie über Wasser zu halten. Was nicht immer gelang:

«Heinrich Trüllinger von Wejach natus Ao 59. 3. Apr. gieng mit seiner Schwester bettlen, starb zu Würenlos, ward verbeümt und kein Kosten gfond, wyl Hr. Pfr. Brennwald sich der Armut der Kilch und Gmeind halber geklagt.»

Wenn jemand verbäumt wird

Das Verbum verbaume(n) bezeichnet laut dem Schweizerdeutschen Wörterbuch Idiotikon (Id. 4,1251) den Vorgang der Einsargung. Baumer wird ein Schreiner genannt, der Särge herstellt. 

Ein Sarg wird beerdigt und was danach folgt, wissen wir alle. Interessant ist deshalb die zweite Bedeutung dieses Wortes verbaume(n): «vermodern, morsch werden, ersticken, von Holz und andern pflanzlichen Stoffen; durch Alter verdorben werden, von Waren» (Id. 4,1253)

Endstation Otelfingen

Der obige Eintrag, datiert auf den 16. Februar 1694, ist im Sterberegister der Zürcher Grenzgemeinde Otelfingen im Furttal zu finden. Warum das so ist, erläutert ein Beitrag in der Zeitschrift Der Schweizer Familienforscher aus dem Jahr 1961:

«Das Sterberegister der reformierten Pfarrgemeinde Otelfingen (Staatsarchiv Zürich E III 87, 2) besitzt die Besonderheit, daß in ihm in Baden verstorbene Reformierte aufgeführt werden. Der Pfarrer von Otelfingen betreute nämlich auch die zu Würenlos in der damaligen Grafschaft Baden, jetzt Kt. Aargau, wohnhaften Reformierten. In Baden selber, das damals ganz katholisch war, durfte kein reformierter Gottesdienst gehalten werden auch nicht privat und nicht einmal für den Landvogt und die Tagsatzungsherren, obschon diese doch die Obrigkeit repräsentierten (vgl. Barth. Frikker, Geschichte der Stadt und der Bäder zu Baden, Aarau, Sauerländer 1880, Seite 300 ff.). Starb ein Reformierter in der Bäderstadt, so mußte seine Leiche in die nächstgelegene reformierte Gemeinde, und das war eben Otelfingen im Kanton Zürich, verbracht und dort bestattet werden. So wurden diese Todesfälle im Pfarrbuch Otelfingen eingetragen gewöhnlich mit dem Vermerk «von Baden aus bestattet», [...].»

Kostenübertragung abgewendet

Heinrich Trüllinger wurde also in Otelfingen beerdigt. Und zwar auf Kosten der Otelfinger! Wie aus dem Eintrag auch hervorgeht, gelang es dem Weiacher Pfarrer Brennwald (seit 1693 im Amt) nämlich erfolgreich, durch Hinweis auf die desolate Finanzlage der Kirchgemeinde Weiach, eine Kostenüberbindung abzuwenden. Sehr praktisch. So wurde nicht einmal Platz auf dem Friedhof im Oberdorf benötigt (den heutigen im Büel gibt es erst seit 1706).

Quelle
  • Schulthess, K.: Reformierte Ortsfremde im Sterberegister von Otelfingen 1650–1785. In:  Der Schweizer Familienforscher = Le généalogiste suisse. Band (Jahr): 28 (1961), Heft 3-5 – Hier: Nr. 109  Trüllinger. 16. Febr. 1694.

Sonntag, 14. April 2024

Diebische Untreue ergibt Pranger und Verbannung, Anno 1693

Zeiten der Not wie die der Hungerkrise 1692/93 (vgl. den vorangehenden Beitrag WeiachBlog Nr. 2080) sind Prüfsteine für die Dorfgemeinschaft, die Familien und Individuen. Und manchem ist in solchen Situationen nicht nur das Hemd näher als der Rock, es liegt ihm auch der Griff in fremde Taschen näher.

Da muss die hohe Obrigkeit natürlich beweisen, dass sie die Lage im Griff hat. Bewerkstelligt wurde dies mit den damaligen Mitteln und nach dem Motto: Bestrafe die Täter in aller Öffentlichkeit und erziele optimalen Abschreckungseffekt bei allen anderen. Für die Delinquenten fing die Abschreckung schon bei der Strafuntersuchung an:


Verhaften, einkerkern, befragen, mit Folter drohen

Und zwar genau in dieser Reihenfolge. Der oben abgebildete Textausschnitt stammt aus dem Unterschreiber-Ratsmanuale des Baptistalrats für das Jahr 1693 (StAZH B II 643, 27.09.1693 (st.v.), S. 120-121). «Mittwochs den 27. 7bris» fassten Bürgermeister und Kleiner Rat der Stadt Zürich u.a. folgenden Beschluss: 

«Der wegen vilfaltig-diebischen angriffen in dem Wellenberg verhaffte, Conrad Meyer von Weyach, soll mit nebent bezeichneter Tortur ersucht und umb seine fehrnere diebstähl befräget, auch seine Muter mit der Marter geschrekt, weiters examinirt und künfftigen Samstag beyder vergicht an Mghh gebracht werden.»

Welche Foltermethoden mit dem am linken Rand notierten Zahlenpaar «1/2» gemeint ist, habe ich bislang trotz ziemlich breiter Suche nicht eruieren können. Es dürfte sich aber um einen Code handeln, bei dem jedem Nachgänger (d.h. den Untersuchungsrichtern, die selber Ratsmitglieder waren) klar war, was darunter zu verstehen ist.

Die Mutter des im Gefängnisturm mitten in der Limmat inhaftierten Conrad Meyer sollte laut Ratsbeschluss ebenfalls befragt werden. Auch die Androhung von körperlichen Zwangsmassnahmen wird explizit erlaubt, falls dies zur Erhöhung der Aussagebereitschaft als erforderlich angesehen wird.

Bereits drei Tage später wird das Urteil gefällt und sofort vollstreckt

Wie beauftragt wurden die beiden Tatverdächtigen in die Zange genommen und in der Ratssitzung vom 30. September dem Gremium rapportiert. Noch in derselben Sitzung dann das Urteil gefällt (StAZH B II 643, 30.09.1693 (st.v.), S. 124-125):

«Hans Conradt Meyer von Weyach, soll wegen begangner diebischer untreüwe uber außgestandene gefangenschafft und peinliches Examen, dießen nachmitag ein stund lang an den prangen gestellt, auf dann [1] jahr des Landts verwiesen; [...] sine Muther, welche ihme hierin Byhülf geleistet, nebend den prangen geführt, auch sambt Elsbetha Meyer[,] ihrer Tochter, welche hierumb wüßens gehabt, nechstgestellt werden.»

Hans Conrad Meyer wurde also der Folter unterzogen. Noch am selben Samstag ist er (wohl mitten in der Stadt Zürich) eine Stunde lang in aller Öffentlichkeit an den Pranger gestellt (d.h. an einer Säule festgekettet) worden, wobei seine Mutter wegen Beihilfe zur Veruntreuung und seine Schwester wegen Mitwisserschaft daneben stehen mussten.

Landesverweis auf Jahr und Tag

Gleich anschliessend wurde der einjährige Landesverweis aus dem Zürcher Herrschaftsgebiet wirksam. Interessant ist, dass hier kein Wort von einer hohen Busse oder dergleichen steht.

Was den Meyern genau vorgeworfen wurde, geht aus diesen kurzen Einträgen nicht hervor. Das findet sich vielleicht in den Kundschaften und Nachgängen des Jahres 1693, d.h. den Protokollen der Untersuchungsrichter, sofern noch vorhanden (vgl. das Dossier StAZH A 27.118).

Samstag, 13. April 2024

Hungersnot und leere Gemeindekasse: Strassenbettel erlaubt!

Das letzte Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts war im Kanton Zürich ein Schreckensdezennium. Der Historiker Walter Letsch hat sich auf die Demographie unseres Kantons in der Frühen Neuzeit zwischen Reformation und dem Zusammenbruch des Ancien Régime spezialisiert. Er spricht in seinem Beitrag «Die unbekannte Hungersnot von 1692/93» (vgl. Zürcher Taschenbuch 2022, S. 73-96) von einer der grössten Katastrophen, die die Zürcher Bevölkerung je erleiden musste. Der Autor schätzt, dass von 127'000 Einwohnern nicht weniger als 14 Prozent verhungert sind.

Sozialhilfeempfänger haben nichts mehr zu melden

Über diese Zeit hat auch Dr. h.c. Heinrich Morf publiziert. Das Neujahrsblatt 1874 der Hülfsgesellschaft Winterthur brachte seinen Aufsatz «Aus der Geschichte des zürcherischen Armenwesens».

Aus diesem Werk hat die Neue Zürcher Zeitung (Nummer 609, 31. Dezember 1972) für einen Beitrag über die Neujahrsblätter der Zürcher Landschaft die folgenden Informationen entnommen:

«Im Gegensatz zu den Armen der Stadt, die ihr Brot am Samstag im Refektorium des Augustinerklosters bezogen, empfingen es jene der Landschaft am Sonntag nach der Morgenpredigt vor versammelter Gemeinde. Vorgängig wurde jeweils daran erinnert, daß die Empfänger des Almosens von der Gemeindeversammlung ausgeschlossen seien.»

Kollekte in der Kirche wenig ertragreich

Kein Wunder also, dass niemand von Sozialhilfe abhängig sein wollte, bei dieser Art der doppelten öffentlichen Stigmatisierung. Wer ein Brot aus der Armenkasse nahm, der hatte politisch nichts mehr zu melden. Er war sozusagen ehrlos und musste – ohne mitreden zu können – trotzdem die Beschlüsse der Gemeinde mittragen.

«Da das Almosenamt befürchtete, trotz guten Einkünften seinen Aufgaben nicht gerecht werden zu können, wurden die Gemeinden 1620 aufgefordert, inskünftig nach der Sommer- und Herbsternte Steuern in Form von Naturalien für die Armen einzuziehen. Das Ergebnis war gering; denn lange nicht alle Gemeinden kamen dieser Aufforderung nach. Von 1622 an mußte daher zur Aeufnung eines Armengutes an jedem Sonntag oder wenigstens an jedem Fest- und Bettag in der Kirche das «Säcklein» aufgehoben werden. Diesem «Säckligeld» blieb jedoch der Erfolg ebenso versagt wie dem jahrzehntelangen Kampf gegen Bettelei.»

Ökonomische Enquête 1692

Bürgermeister und Rat liessen es halt dann achselzuckend einfach schleifen, was in besseren Zeiten noch halbwegs tragbar war, jedenfalls aus Sicht der Obrigkeit. In dieser Grosskatastrophe 1692/93 aber, da konnte man nicht mehr wegsehen und wurde gezwungen, auf Ursachensuche zu gehen:

«Um den Grund des Uebels erfassen zu können, veranlaßte der Rat 1692 eine genaue Abklärung der ökonomischen Verhältnisse in allen Gemeinden des Kantons. Die Pfarrer hatten in sämtlichen Haushaltungen ihrer Gemeinde ein genaues Verzeichnis der Familienmitglieder aufzunehmen sowie abzuklären, welche «Handarbeiten» diese verrichten konnten, und ob beziehungsweise in welcher Form Almosen empfangen würden. [...] Gesamthaft betrachtet, ergibt sich aus dem ganzen Kanton ein recht düsteres Bild. In vielen Gemeinden war mindestens die Hälfte der Bevölkerung auf Brotspenden der Kirche angewiesen; daneben wurden immer wieder «blutarme Haushaltungen» erwähnt, die sich weigerten, Almosen zu empfangen, damit die Hausväter nicht von der Gemeindeversammlung ausgeschlossen wurden.»  (Vgl. zu Weiach: Auszug der Ökonomischen Kommission: StAZH B IX 50)

Bettelnde Kinder: Weiach und Stadel förderten das

«Kinder aus solchen Familien zogen bettelnd umher, was zwar verboten war. Es gab aber Gemeinden wie Stadel und Weiach, die, weil die Erträge des Almosenamtes nicht weit reichten, den Armen erlaubten, drei Tage in der Woche vor den Häusern zu «heuschen». 

Insgesamt dürften im Jahre 1692 von der 128 000 Einwohner zählenden Landbevölkerung 21 300 Personen unterstützt worden sein. Dabei reichten die Gaben niemals aus, um allen eine richtige Ernährung und ausreichende Kleidung zu gewährleisten. Oft verfügte eine Familie nur über ein einziges Paar Schuhe und Strümpfe. In Fehljahren aßen viele während Wochen nichts anderes als «Gesott von Krüsch und Habermähl», das mit soviel Mutterkorn vermischt genossen wurde, daß etliche «toll und tumlend im Hirne» wurden.»

Mit 16.6 Prozent wies das Zürcher Herrschaftsgebiet also eine sehr hohe Sozialhilfequote auf. Und trotzdem reichte es hinten und vorne nicht. Kein Wunder, dass in diesem Hungerjahr etliche Weiacherinnen und Weiacher definitiv den Entschluss gefasst haben, auszuwandern.

Freitag, 12. April 2024

Eine Frau aus dem falschen Nachbarort kam teuer zu stehen

Sie haben sich in eine Frau aus dem Nachbardorf verliebt, wollen heiraten und sie soll zu Ihnen ziehen? Glückwunsch, dass Ihnen das heute passiert.

Zu Zeiten der alten Landvögte mussten Heiratswillige selbst innerhalb des Zürcher Herrschaftsbereichs sehr genau hinschauen. Denn wer die Frau aus dem falschen Dorf holte, der zahlte eine happige Strafsteuer. Es gab nämlich eine Art vogteiabhängige Heiratsstrafe. Grund: Die Land- und Obervögte wollten damit das abfliessende Steuersubstrat abgegolten haben.

Schon Zweidlen war für Weyacher vogteitechnisch Ausland

Der Glattfelder Pfarrer Arnold Naef beschrieb das Phänomen 1863 in seiner Monographie über seine Kirchgemeinde wie folgt:

«Wie beim Einziehen in die Gemeinde eine Einzugssteuer, so mußte auch eine Abzugssteuer entrichtet werden, wenn Einer oder Eine mit Vermögen aus der Gemeinde wegzog. Ein Brief von 1662 bestimmte: Wenn Einer in eine andere Gemeinde wegzieht oder wenn hiesiges Gut an einen andern Ort ererbt wird, so soll vom wegziehenden Gut 5 fl. vom Hundert der Gemeinde zur Ersetzung der Steuer bezahlt werden. Aus einer Urkunde von 1607 geht hervor, daß auch für Zweidlen diese Abzugssteuer Geltung hatte: Zwei Zolleren nämlich von Weiach und ein Winkler von Hochfelden, welche Kellerinnen von Zweidlen geheirathet hatten, wollten für das Vermögen derselben den Abzug nicht bezahlen, behielten aber nicht Recht, weil Zweidlen in die Herrschaft Eglisau gehöre, in welcher in allen Gemeinden dieser Brauch bestehe.» (Naef, S. 30)

Die beiden Zoller aus Weiach und der Winkler aus Hochfelden waren an Orten ansässig, die zur Obervogtei Neuamt gehörten. Heirat über die Vogteigrenze = Zur Kasse bitte!

Falls Sie sich gewundert haben, warum man früher noch eher die Tendenz hatte, direkt über den Miststock zu heiraten. Das hatte wohl auch handfeste finanzielle Gründe.

In der Gemeinde Glattfelden war's noch komplizierter...

Das Dorf Glattfelden selber gehörte niedergerichtlich zur Landvogtei Eglisau, weil dieses Recht einst den Freiherren von Tengen gehört hatte, die Hochgerichtsbarkeit stand aber den Kyburgern zu, danach per Erbübergang den Habsburgern (und ab 1424 den Zürchern). Erst 1678 kamen auf Verlangen der Glattfeldner auch die Hochgerichte von der Landvogtei Kyburg zur Landvogtei Eglisau.

Zweidlen hingegen gehörte auch mit der Hochgerichtsbarkeit von jeher den Herren von Tengen und damit ab 1496 vollumfänglich zur Landvogtei Eglisau und damit zum Zürcher Hoheitsgebiet. 

Damit wurde eine Heirat zwischen Zweidlen und Glattfelden dann doch einiges billiger.

Noch einmal anders war die Situation des Weilers Schachen (südlich der Glatt). Er gehörte ursprünglich ebenfalls zur Grafschaft Kyburg, wurde aber 1442 abgetrennt und war fortan Teil der damals eigens gegründeten Obervogtei Neuamt, bis diese mit dem Ancien Régime unterging. Vgl. für diese Dreiteilung die Grenzmarkierungen auf der Gygerkarte von 1667.

Ein Vorzugstarif für Frauen?

Wie wir von Pfr. Naef wissen, lag der Steuersatz bei 5 % des abgezogenen Vermögens. Das geht auch aus den Rechnungen der Neuamtsobervögte hervor, so hier der ältesten erhaltenen Jahresabrechnung für 1683/84:

Was fällt auf? Die Zahlen:

24 lib. [d.h. Pfund Pfenning] «zalt Verena Meyerhoferin von Weyach, so dissmalen zur ehe hat Hanssen Käller zu Glatfelden in der herrschafft Eglisauw, wegen dahin gezogener ungefahr 700 lib. verfangen gut, zu zahlungen ohne zinss gestelt.» 

Also nach Strübis Rächnigsbüechli eine Steuer zu einem Vorzugstarif von 3.4 Prozent! Und erst noch verzugszinsfrei. Ob das damit zu tun hatte, dass hier die Frau zahlen musste? Jedenfalls wurde für diese drei abzugssteuerpflichtigen Männer in besagter Rechnungsperiode der Normaltarif von 5 Prozent veranlagt. Auch wenn es nur um eine Erbschaftsangelegenheit ging, wie bei Hans Huber aus Dielsdorf.

Quellen und Literatur