Freitag, 11. Mai 2007

Ein alter NZZ-Artikel unter der Lupe

Der nachfolgende Beitrag basiert auf einem kurzen Artikel in der NZZ vom 15. Oktober 1971. Er ist etwas lang geraten und zeigt, wie schwierig es ist, in einer Zeitung aufgrund von ein paar wenigen Informationen ein Thema abzuhandeln.

Fehlinterpretationen wie sie unten seziert werden, sind nicht primär mangelnder Sorgfalt des Journalisten geschuldet. Sie erwachsen häufig auch aus zuwenig präziser Formulierung eines Sachverhalts durch den Ortshistoriker. Auf dessen Arbeiten muss sich der Journalist infolge Zeitmangels ja notwendig stützen.

Wenn nun also eine Fülle von Kritikpunkten folgt, dann ist das auch eine Kritik pro domo.

Baujahr 1381: Fehlanzeige

Im Beitrag vom 7. Mai habe ich u.a. geschrieben, es sei nun klarer, woher der NZZ-Journalist Höber «seine story mit der 1381 im Oberdorf erbauten Kirche hatte». Er habe sie sich «wohl nach dem 1. August-Vortrag von Walter Zollinger so zurechtgelegt».

Es ist wahrscheinlich schon so, dass Höber nicht vor, sondern nach dem 1. August auf diese Idee gekommen ist. Auslöser für den Irrtum mit dem Baujahr 1381 muss aber nicht unbedingt Zollingers Vortrag gewesen sein. So eine Rede ist ja im Nu vorbei und Details entgehen einem da leicht – es sei denn man hätte ein Tonbandgerät (wer hat Zeit, das alles abzuhören?) oder könnte stenographieren wie der Teufel.

Inspiration Ausstellung im Ortsmuseum

Die Quelle dürfte dennoch eindeutig bei Zollinger oder mindestens in dessen Umfeld liegen, d.h. in diesem Fall bei der Ortsmuseums-Kommission. Im September 1971 fand im Ortsmuseum Weiach nämlich eine Ausstellung zum Thema «700 Jahre Weiach» statt – darauf wies der Referent am Schluss seines Vortrages hin.

Höber verfasste für den Zürichbieter einen Artikel mit demselben Titel «700 Jahre Weiach» und dem Untertitel «Eine interessante Sonderausstellung im Ortsmuseum». Der Artikel in der NZZ vom 15. Oktober 1971 ist «nur» die Zweitverwertung.

Schon im ausführlichen Artikel im Zürichbieter vom 18. September 1971 steht genau derselbe Satz wie später in der NZZ: «das Dorf hatte aber bereits früher ein Gotteshaus besessen, das im Jahr 1381 im Oberdorf erstellt wurde.», was ein Irrtum ist – wie am 7. Mai beschrieben.

«Erste Nennung» ist nur «älteste noch erhaltene schriftliche Fundstelle»

Nachfolgend der vollständige Text aus der NZZ mit zwischengeschalteten Kommentaren – wo dies zur Erläuterung und Kommentierung unumgänglich ist:

«hhö. Die Begebenheit, daß der Name des Unterländer Bauerndorfes Weiach vor 700 Jahren erstmals urkundlich erwähnt wurde, hat der Ortsmuseums-Kommission Gelegenheit gegeben, die heurige Wechselausstellung unter das Motto «700 Jahre Weiach» zu stellen. Die Schau vermittelte eine Vielfalt von geschichtlichen Dokumenten und Urkunden, die in übersichtlicher Weise präsentiert wurden. Einige Aufzeichnungen waren dem Entstehen des Ortsnamens gewidmet, der wahrscheinlich von der gallorömischen Bezeichnung «fundus wiakos» abgeleitet wurde, was nichts anderes als Hof des Wius' bedeutet.»

Die von vielen Ortshistorikern verwendete Formel «erstmals urkundlich erwähnt» ist leider ziemlich unpräzis. Denn bei jeder Erstnennung handelt es sich ja lediglich um die älteste noch vorhandene schriftliche Erwähnung eines Ortsnamens. Wenn dann runde Geburtstage gefeiert werden, kann rasch der falsche Eindruck entstehen, der Name (oder gar der Ort) sei 800, 1000 oder wieviele Jahre auch immer alt. In Realität liegt man mit solchen Altersschätzungen aber fast immer massiv zu tief. Das «erstmals» ist also mit grösster Vorsicht zu geniessen.

1271: Wer hat wem verkauft?

Ebensolche Vorsicht muss man walten lassen, wenn es um die Frage geht, ob es sich bei dieser Erstnennung überhaupt um eine Urkunde gehandelt hat.

Die früheste erhaltene Erwähnung eines Wiâch, bei der man davon ausgehen kann, dass es sich um das heutige Weiach handelt, ist in einem Einnahmen­verzeichnis der Fraumünsterabtei in Zürich zu finden. Zwischen vielen weiteren Einträ­gen ist in dem von 1265 bis 1287 erstellten Perga­ment­dokument eine Eigen­tumsübertragung und die zum Grundstück gehörende Zinsverpflichtung notiert:

«Iohannes dictus Brotpeko de Cheiserstůl I den. de bonis suis in Wiâch, que comparavit a Ia. dicto Gêbi.» (StAZH C II 2, Nr. 79 e; veröffentlicht in: Urkundenbuch der Stadt und Landschaft Zürich, Band IV – S. 165; Nr. 1459)

Zu Deutsch: «Johan­nes, ge­nannt Brotbeck von Cheiserstuol, [zahlt] 1 Denar für seine Güter in Wiach, die er von Jacobus genannt Gebi erworben hat».

Dieser Ein­trag ist zwar undatiert, steht aber zwischen zwei auf Februar 1271 datierten. Ein Rudolf Gebi kommt ausser­dem am 7. März 1271 vor, ein «Iacobus dictus Gêbi» im Anniversar (Jahrzeitbuch) der Propstei zum 8. Okto­ber.

[Hinweis vom 20. April 2017: Bei vorstehendem Abschnitt handelt es sich um eine Paraphrase der Fussnote 6 zum oben zitierten Eintrag aus Bd. IV, S. 165. Die Fussnote 6 lautet im Original: «Dieser Eintrag ist zwar undatiert, steht aber zwischen den beiden vom Februar 1271 datierten. Ein Rudolf Gebi kommt am 7. März 1271 vor, unten nr. 1461, ein «Iacobus dictus Gêbi» im Anniversar der Propstei zum 8. October.»]

Zollinger hat den Satz irr­tüm­lich so verstanden, dass Johannes der Bäcker an Gêbi ver­kauft habe. Die Transaktion verlief aller­dings genau umgekehrt, was sich einerseits aus der Bedeutung der Wortkombination «comparavit a» (hat gekauft von) ergibt und andererseits daraus, dass Johannes dem Kloster wohl kaum für etwas Verkauftes regelmässig hätte Zins zahlen müssen – das ist die Pflicht desjenigen der das Land tatsächlich in Besitz hat.

In der Folge hat natürlich auch Höber im Zürichbieter und später in der NZZ die Sache verfälscht wiedergegeben: Die Urkunde (d.h. das Original des Kaufvertrags) gibt es ziemlich sicher nicht mehr (nur noch den Eintrag im Zinsverzeichnis der Abtei) und der Verkauf war eigentlich ein Kauf. Entsprechend muss man den ersten Satz im folgenden Verlauf des NZZ-Artikels verstehen:

Beweise für das Vormittelalter?

«Der Name Weiach wurde erstmals im Jahre 1271 in einer Urkunde erwähnt. Es handelte sich um einen Güterverkauf eines Kaiserstuhlers. Verschiedene Fachleute sind sich jedoch einig, daß das Dörfchen Weiach schon im Vormittelalter bestanden hatte. Ein wichtiger Zeuge der Vergangenheit ist der Fund eines Steinbeils, das im Landesmuseum ausgestellt ist.»

Spannend wäre es zu erfahren, aus welchen Indizien die erwähnten Fachleute auf ein Bestehen schon im «Vormittelalter» schliessen (gemeint ist wohl das Frühmittelalter). Die früheste archäologisch nachgewiesene Siedlungsspur am heutigen Standort des Dorfkerns datiert nämlich – wie der oben erwähnte Eintrag in einem Einnahmenverzeichnis der Fraumünsterabtei – auf das 13. Jahrhundert. (vgl. Weiacher Geschichten Nr. 38 und Nr. 51).

Frühere Siedlungsspuren liegen – soweit bekannt – alle draussen in der Schotterebene gegen den Rhein, also ausserhalb des heutigen Siedlungsgebiets. Das steinzeitliche Beil wurde im Hard gefunden und kann einem der Bauern gehört haben, die in Winkelwiesen siedelten (Ausgrabungen der Kantonsarchäologie Zürich von 2001). Diese Flur lag damals am Rand des kleinen Sumpfgebiets, das vor der Tieferlegung von den beiden Dorfbächen gebildet wurde. (vgl. Weiacher Geschichten Nr. 51).

Ein Hörnli genannt Wörndel

«Anhand der Dokumentationen erfuhr man von der helvetischen Fluchtburg auf dem bewaldeten Hörnli, die schon vor etwa 200 bis 100 v. Chr. als Refugium diente. Sie ist noch heute als solche zu erkennen; sie befindet sich an einer schwer zugänglichen Stelle. Auf Weiacher Boden sind auch Ueberreste eines spätrömischen Wachtturms zu finden, der aus der Zeit 364 bis 375 n. Chr. stammen dürfte.»

Dass der Leuenchopf oder Wörndel «Hörnli» heisse, habe ich hier zum ersten Mal überhaupt gelesen. Ein Irrtum Höbers ist nicht ausgeschlossen – es gibt ja auch den gleichnamigen, viel höheren Berg im Zürcher Oberland. Was die Datierung der erwähnten Wallanlagen betrifft, so ist die Zuordnung zu den Helvetiern nicht zweifelsfrei möglich (vgl. Weiacher Geschichte(n) Nr. 76 und Nr. 77. Nicht erwähnt wird von Höber die westlicher gelegene Wallanlage im Ebnet.

Bei den Wachttürmen dasselbe Bild. Nur die besser erhaltene Anlage im Hard ist erwähnt. Deren Fundamente wurden Ende der 1960er-Jahre konserviert und können auch heute noch besichtigt werden. Weniger bekannt ist der zweite Wachtturm auf Gemeindegebiet. Er liegt nahe Leebern, östlich oberhalb des Grabens, durch den die vereinigten Dorfbäche den Rhein erreichen.

Französische Revolution ist nicht gleich Zusammenbruch des Ancien Regime

«Vor 1313 lag die Gerichtsbarkeit des Ortes in den Händen des Hauses Habsburg-Laufenburg; dann kamen die Grafen von Kyburg zum Zuge, und bereits ab 1424 zeichnete die Stadt Zürich als Gerichtsstand verantwortlich. Ab dem Jahr 1442 war das Dorf bis zur Französischen Revolution der neugegründeten Obervogtei Neuampt zugeteilt.»

Auch hier ist wieder eine Begriffsunschärfe festzustellen. Die Französische Revolution von 1789 war zwar letztlich der Auslöser der Umwälzungen hierzulande. Sie ist aber nicht identisch mit dem Zusammenbruch des Ancien Régime in der Schweiz im Frühjahr 1798.

Die übrigen Zeitangaben zur Gerichtsbarkeit können nach meinem derzeitigen Wissensstand stimmen. Aber nur die Zeitangaben. Denn von der hohen Gerichtsbarkeit direkt auf das heutige Wort «Gerichtsstand» zu kommen, ist mehr als nur unsauber. Es ist geradezu irreführend. Denn Gericht gehalten wurde nicht in Zürich, sondern in der Regel in Weiach selber. Nur bei schweren Verbrechen sowie in Appellationsverfahren konnten Gerichte in der Stadt Zürich zum Zug kommen. Und auch dann gab es immer noch ein Kompetenzgerangel mit dem Fürstbistum Konstanz, das als Niedergerichtsherr ebenfalls Rechte beanspruchte. Verhaftungen wurden meist durch Bediente des fürstbischöflichen Obervogts zu Kaiserstuhl vorgenommen und anschliessend ermittelt, ob das Vergehen in die Kompetenz Zürichs oder des Fürstbischofs falle.

Französische Wirren = Zweiter Koalitionskrieg

«Während der französischen Wirren hatten die Einheimischen schwer unter den fremden Truppen zu leiden; auch die Flure und Waldungen erlitten größere Schäden. Bis zum Jahr 1814 war das Dorf dem Distrikt Bülach zugeteilt, ab 1814 dem Oberamt und etwas später dem Bezirk Regensberg.»

Mit den französischen Wirren ist natürlich der Zweite Koalitionskrieg gemeint, der von den Kontrahenten auch auf Schweizer Gebiet ausgetragen wurde. Die übrigen Angaben sind soweit korrekt. Erwähnenswert ist noch, dass der Bezirk Regensberg im Jahre 1871 als Folge der Verlegung des Hauptorts ins Tal nach Dielsdorf auf den heutigen Namen (Bezirk Dielsdorf) umbenannt wurde.

So früh kann es die Reformation nicht gegeben haben

«Kirchlich gehörte Weiach bis zum Jahre 1370 zum katholischen Dekanat Hohentengen. Im Jahr 1520 faßte die Reformation Fuß, und 71 Jahre später erhob man das Dorf zur eigenen Pfarrei. Der Bau der heutigen Kirche fällt in das Jahr 1706; das Dorf hatte aber bereits früher ein Gotteshaus besessen, das 1381 im Oberdorf erstellt wurde. Wertvolle Urkunden von Pfarrer Johann Rudolf Erny (1659) geben über die alte Kirche im Oberdorf reichlich Aufschluß.»

Dass Weiach seit alters her kirchlich zur Marienkirche in Hohentengen gehört hat, ist unbestritten. Das Dekanat wurde jeweils nach dem Sitz des Dekans benannt und hiess daher ab und zu auch anders, z.B. Dekanat Neunkirch.

Was ich nicht ganz begreife ist, aus welchen Gründen das Gebiet von Weiach (als Teil der Pfarrei Hohentengen) schon um 1370 das Dekanat gewechselt haben soll. Normalerweise waren solche Dekanatsgrenzen über Jahrhunderte hinweg denkbar stabil. Ohne Notwendigkeit wurde da seitens der Bistümer nichts geändert.

Bisher habe ich jedenfalls keinen Quellen-Beleg gefunden, der einen (auch nur teilweisen) Wechsel zum Dekanat Regensberg plausibel machen würde. Sicher erklärbar wird er erst durch die Ablösung im Zuge der Reformation.

Ebenfalls etwas quer in der Landschaft liegt die Datierung der Reformation auf 1520. So früh hat nicht einmal Zwingli selber an eine Umgestaltung der Kirche in der Art gedacht, wie sie dann ab 1522 umgesetzt wurde. Die Datierung auf 1520 ist wohl auf einen Eintrag im Zürcher Pfarrerbuch 1519-1952 (S. 100ff) zurückzuführen, wo die Ernennung eines Pfarrers auf diesen frühen Zeitpunkt erwähnt wird:

«Ländi (Lendin), Niklaus, von Lunkhofen, Aarg. (+1552). Schon vor der Reformation Kaplan der St. Mauritiusgruft am Grossmünster, 1520-1522 Pfr. in Weiach, […]»

Was die Stellung von Ländi in Weiach betrifft, kann man nur spekulieren. Mehr als eine Kaplansstelle dürfte das nicht gewesen sein, denn finanziert wurde dieser «Pfarrer» ziemlich sicher aus den Pfrundgütern, die noch zur Marienkirche in Hohentengen gehörten. Da dürfte es ein Abhängigkeitsverhältnis vom Inhaber der Pfarrei gegeben haben. Ebenfalls unklar ist, ob Ländi wirklich in Weiach wohnhaft war. Bequemer (und deshalb wesentlich wahrscheinlicher) wäre als Wohnort das Städtchen Kaiserstuhl, von wo man zu Fuss in nur 15-20 Minuten in Weiach ist.

Interessant: Anzahl Landwirte um 1971

«Im Jahre 1855 waren in Weiach 752 Einwohner beheimatet; heute sind es knapp 700. Zählte man 1926 noch 96 Bauern, die 350 Stück Großvieh als ihr Eigentum betrachteten, so gibt es in Weiach heute nur noch 43 Landwirte, die zusammen 490 Stück Vieh besitzen.»

Lustig ist die Formulierung «als ihr Eigentum betrachteten». Wenn man den Verschuldungsgrad vieler Kleinbetriebe berücksichtigt, dann entspricht diese Darstellung den Tatsachen. Viele besassen ihre Kühe zwar. Ihr Eigentum waren sie allerdings nicht.

Dann gibt es da eine Diskrepanz zur später (an Ostern 1972) veröffentlichten Monographie (Chronik Weiach 1271-1971; Verfasser: Walter Zollinger). Dort steht:

«Um 1926 zählte Weiach 96 Viehbesitzer mit rund 550 Stück Grossvieh; bei der Zählung von 1966 waren es nur noch deren 43, allerdings mit immer noch 490 Stück Vieh; das heisst also, dass über die Hälfte der Kleinbetriebe aufgegeben und zum Teil in die verbliebenen Mittelbetriebe integriert worden sind.»

Zum Vergleich: Um die Jahrtausendwende zählte man lediglich 15 Viehbesitzer mit 127 Stück Grossvieh. Der durchschnittliche Bestand wächst also kontinuierlich, die früher selbstverständliche kleinbäuerliche Subsistenzwirtschaft verschwindet und die übriggebliebenen Bauern mutieren zu Agrounternehmern.

Rutschmanns Bleistiftzeichnungen

«Der Ausstellung angegliedert war eine große Kollektion Bleistiftzeichnungen des Weiachers Hans Rutschmann, der die stillen Ecken und Enden des Dorfes mit meisterhafter Hand festgehalten hat. In einem Nebenzimmer war eine Photoausstellung untergebracht.»

Hans Rutschmann ist der Gemeinde bis heute erhalten geblieben – und er zeichnet bis heute gut und gerne (vgl. WeiachBlog vom 8. Mai 2007: Das erste Titelblatt – 25 Jahre Weiacher Kunstdrucke).

Eine ausführlichere Darstellung findet man im früheren Beitrag Höbers im Zürichbieter (vgl. Quellenangaben unten)

Quellen und weiterführende Literatur
[Veröffentlicht am 16.5.2007]

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