Jetzt stehen sie also unmittelbar bevor, die unsäglichen Nachtflüge. Erneut wird das Zürcher Unterland bis spät in die Nacht mit Fluglärm eingedeckt. Und erneut wird der Süden des Flughafens verschont. Denn die Gnädigen Herren zu Zürich (auch bekannt als Regierungsrat) haben beschlossen, den gesamten Lärm einseitig uns aufzuhalsen.
Entscheid über unsere Köpfe hinweg
Über unsere Köpfe hinweg donnern nicht nur die Jets. Über unsere Köpfe hinweg wurde auch entschieden, dass diese Flüge überhaupt stattfinden. Das hat ganz generell System. Die Stimmbürger - formell eigentlich der Souverän dieses Landes - wurden nicht gefragt, ob sie diesen unsäglichen Kommerz-Event «UEFA EURO 08» überhaupt will. Wir haben ihn einfach zu akzeptieren und uns auch noch auf Kommando darüber zu freuen.
Dutzende von Millionen an Steuergeldern wurden ungefragt in Stadien investiert. Die Sicherheitsausgaben für Polizei und Militär bewegen sich ebenfalls im dreistelligen Millionenbereich - jedenfalls wenn man eine Vollkostenrechnung aufstellen würde, was wohlweislich kaum jemand tut. Und darüber hinaus haben wir Opportunitätskosten - unter anderem besagte Nachtflüge. Das Tüpfchen auf dem i ist: die UEFA-Granden erzielen auf unsere Kosten einen Supergewinn und zahlen praktisch keine Steuern. Ein Skandal neofeudalistischer Prägung ohnegleichen.
Lex Euro 08
Am 9. April hat es dem Bundesrat gefallen, eine Spezial-Nachtflugverordnung zu dekretieren. Quasi als Lex EURO 08 gibt es im Ausnahmen-Artikel 39d der Verordnung über die Infrastruktur der Luftfahrt (VIL, SR 748.131.1) seit 15. März 2008 einen Absatz 3, der wie folgt lautet:
«Soweit es aus Sicherheitsgründen, insbesondere zur Verhinderung von gewalttätigen Ausschreitungen, nötig ist, kann das Bundesamt für bedeutende Anlässe mit internationaler Beteiligung Ausnahmen von Artikel 39 Absätze 1 und 2 sowie von den Artikeln 39a und 39b gewähren. Das Bundesamt entscheidet auf Antrag der für die Sicherheit zuständigen Organe oder Behörden nach Anhörung der betroffenen Kantone und Flugplätze.»
Systematische Aushöhlung des Nachtflugverbots
Also eine Extrawurst nicht nur für die EURO 08. Auf diesen Absatz kann sich der Bundesrat nun immer dann berufen, wenn er das Nachtflug-Verbot in Art. 39a Abs. 1 lit. b VIL aushebeln will. Dort heisst es eigentlich klipp und klar, dass Starts bei den Landesflughäfen Genf und Zürich für gewerbsmässige Flüge zwischen 24 und 06 Uhr verboten sind.
Der Witz dabei ist, dass sich jeder Flugkapitän weigern darf (und wird!), frustgeladene oder euphorisierte - auf jeden Fall aber bis kurz vor dem Kollaps alkoholisierte Fans mitzunehmen. Die bleiben dann also doch in der Schweiz, womit der neue Absatz 3 jeden Sinn verliert.
Der Verdacht liegt nahe, dass lediglich eine vorgeschobene, vordergründig akzeptable Begründung gesucht wurde, um das Nachtflugverbot sukzessive in seiner Substanz auszuhöhlen.
Verordnungen von Bundesberns Gnaden
Extra für die Euro 08 erliess der Bundesrat eine Verordnung über diese Nachtflüge: «Diese Verordnung regelt die Zulässigkeit von Flügen zwischen 22.00 und 06.00 Uhr, die in direktem Zusammenhang mit der Fussball-Europameisterschaft 2008 (UEFA Euro 08) stehen und in der Zeit vom 7. Juni bis 30. Juni 2008 durchgeführt werden. »(Art. 1)
«Art. 3 Abflüge mit Besuchergruppen
1 Das BAZL kann auf Antrag des betreffenden Austragungskantons auf den Flughäfen Bern-Belp, Genf und Zürich Abflüge mit Besuchergruppen bewilligen. Die für diese Flüge benötigten Flugzeuge dürfen wenn nötig nach 22.00 Uhr zugeführt werden.
2 Es gewährt in der Regel pro Nacht und Flughafen höchstens 20 Abflüge.
3 Es gewährt in der Regel keine Flugbewegungen nach 02.00 Uhr.
4 Auf den Flughäfen Genf und Zürich dürfen nur Flugzeuge mit mehr als 95 Sitzplätzen und in Bern-Belp nur Flugzeuge mit mindestens 28 Sitzplätzen eingesetzt werden.»
Also Gummiparagraphen ohne Ende. Wenn doch nach 2 Uhr gelandet oder gestartet wird, dann wird eben alles mit dem Ausnahmezustand namens Euro 08 gerechtfertigt. Da sind so viele Hintertürchen offen, dass es eine Schande ist. Und dazu kommt dann noch, dass es vor allem grosse, schwere und entsprechend laute Maschinen sind, die wohl auch noch nach 2 Uhr Fussballfans ausfliegen werden. Wozu ist völlig schleierhaft. Denn dass die am Tag darauf alle arbeiten gehen ist wohl auszuschliessen, wenn sie frühestens im Morgengrauen zuhause ankommen.
Das Bundesamt für Zivilluftfahrt doppelte gestützt darauf noch mit einem Separaterlass nach: der «Verfügung betreffend Nachtflüge mit Mannschaften der Fussball-Europameisterschaft 2008 (UEFA Euro 08) auf den Flughäfen Bern-Belp, Genf, Lugano-Agno und Zürich»:
«Das Bundesamt für Zivilluftfahrt (BAZL) stellt fest und zieht in Erwägung:
1. Gemäss Artikel 4 der Verordnung vom 9. April 2008 über die Nachtflüge während der Fussball-Europameisterschaft 2008 kann das BAZL Flüge mit teilnehmenden Mannschaften bewilligen.»
Dann folgen weitschweifige Erwägungen und schliesslich der Entscheid:
«Aus diesen Gründen wird verfügt:
1. Während der UEFA Euro 08 sind Flüge mit den an den jeweiligen Spielen teilnehmenden Mannschaften zwischen 22.00 und 06.00 Uhr auf den Flughäfen Bern-Belp, Genf, Lugano-Agno und Zürich wie folgt zugelassen:
a. in der Nacht nach den Gruppenspielen in Österreich und der Schweiz Abflüge bis 02.00 Uhr und Landungen bis 03.00 Uhr;
b. Landungen in der Nacht nach den Viertel- und Halbfinals und dem Final in Österreich und der Schweiz zeitlich unbeschränkt.
2. Für jede Mannschaft darf pro Nacht höchstens ein Flugzeug eingesetzt werden. »
Super. Die Fussballgötter dürfen also sogar die ganze Nacht fliegen. Hochobrigkeitlich bewilligt.
Protestnote der Zürcher Regierung
Mit welcher Taktik die Euro 08-Verantwortlichen vorgegangen sind, kann man einer Medienmitteilung entnehmen, mit welcher der Zürcher Regierungsrat vor etwa zwei Monaten bekanntgab, dass er gegenüber dem Bundesrat seinen Unmut geäussert habe:
«Mit der nun vom Bundesrat beschlossenen Sonderverordnung wurde sehr kurzfristig eine Rechtsgrundlage für weitere Ausnahmen vom Nachtflugverbot geschaffen. Zugleich wird dem Austragungskanton die Verantwortung für die Antragstellung an den Bund übertragen. Nach Auffassung der Regierung hätte den Bundesstellen und den Organisatoren der EURO 08 bereits seit längerer Zeit klar sein müssen, dass viele Matchbesucher keine Übernachtungsmöglichkeit in der Schweiz haben werden und deshalb in ihre Heimat zurück fliegen wollen. Noch im März 2008 antwortete Bundesrat Moritz Leuenberger auf eine Frage aus dem Nationalrat, dass sich die Zahl der nicht als Sicherheitsmassnahme begründeten Flüge innerhalb der Nachtsperrzeiten auf einen oder zwei pro Tag beschränken würden. Der Delegierte des Bundesrates für die EURO 08 spricht mittlerweile jedoch von rund 580 Nachtflügen.»
Zwischen eins bis zwei und den in der Verordnung vorgesehenen «in der Regel» höchstens 20 Abflügen pro Nacht (hoffentlich: Spielnächte nur in Zürich) ist dann doch ein ziemlicher Unterschied. So etwas darf man getrost Salamitaktik nennen. Entweder können diese Herren nicht vorausschauend planen oder sie haben uns bewusst brandschwarz angelogen.
Der Regierungsrat ist jedenfalls nicht bereit, die Gummiparagraphen aus Bern zu akzeptieren:
«Die Kantone Bern, Basel und Genf haben bereits Gesuche eingereicht. Der Regierungsrat des Kantons Zürich beugt sich im Sinne der Sache dem Entscheid des Bundesrates und wird das erzwungene Gesuch ebenfalls einreichen.
Er fordert dabei die Berücksichtigung folgender Bedingungen:
- es dürfen keine Leerflüge bewilligt werden
- es sind maximal 20 Abflüge und keine Anflüge zu gestatten
- nach 2 Uhr nachts dürfen keine Flugbewegungen mehr stattfinden. »
Schlaflos im Unterland: Abflüge die ganze Nacht?
Heute Montag, 9. Juni und am kommenden Freitag, 13. Juni werden die Spiele in Zürich um 18:00 angepfiffen. Nachtflüge nach 2 Uhr dürften also eigentlich nicht bewilligt werden, da Fans bis dahin längstens am Flughafen eingetroffen, abgefertigt und die Jets abflugbereit sein müssten.
Wirklich bedenklich sieht es aber am Dienstag, 17. Juni aus. Denn da werden die Spiele in Zürich und Bern erst um 20:45 angepfiffen. Da es dabei auch noch zwingend einen Sieger geben muss wird es im schlimmsten Fall bis zu einem Penaltyschiessen kommen. Und das bedeutet, dass bis weit nach 2 Uhr nachts noch Flugzeuge die Fans ausschaffen werden.
Wir werden sehen, wie sich der Gummiparagraph «in der Regel keine Flugbewegungen nach 02.00 Uhr» in der Nacht vom 17./18. Juni auswirken wird.
Quellen
- Schweizerischer Bundesrat: Verordnung über die Nachtflüge während der Fussball-Europameisterschaft 2008 vom 9. April 2008 (AS 2008 1723)
- Regierungsrat des Kantons Zürich: Regierungsrat reagiert mit Unverständnis auf Verordnung des Bundes über Nachtflüge während der EURO 08. (Medienmitteilung des Regierungsrates vom 10.4.2008)
- Bundesamt für Zivilluftfahrt: Verfügung betreffend Nachtflüge mit Mannschaften der Fussball-Europameisterschaft 2008 (UEFA Euro 08) auf den Flughäfen Bern-Belp, Genf, Lugano-Agno und Zürich. (BBl 2008 3203)
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