Dienstag, 7. August 2018

Identitätspolitik, vermittelt via Gottfried Keller

Im Gemeinderat von Weiach hatten Frauen bekanntlich noch bis vor wenigen Monaten nichts zu sagen (bis zum Amtsantritt der Gemeindeschreiberin, vgl. auch WeiachBlog Nr. 766). Das heisst aber nicht, dass sie in jüngerer Zeit nicht prominent zu Wort gekommen wären. Und sei es auch nur anlässlich von Feierstunden wie der Ansprache zum Nationalfeiertag.

Gerechnet ab 2007 (dem ersten Jahr, in dem WeiachBlog eine 1. August-Rede publiziert hat) steht das Geschlechterverhältnis seit der diesjährigen Rede auf 8:3. Namentlich sind es: Barbara Steinemann, SVP aus Watt-Regensdorf (heute Nationalrätin, damals noch Kantonsrätin), Béatrice Wertli (CVP-Generalsekretärin) und Nationalrätin Natalie Rickli aus Winterthur (vgl. die Links auf die Reden früherer Jahre ganz unten in diesem Beitrag).

Im zweiten Anlauf hat's geklappt

Eigentlich wäre die SVP-Nationalrätin bereits 2012 als Rednerin vorgesehen gewesen. Aus dem Auftritt in Weiach wurde dann allerdings nichts (vgl. WeiachBlog Nr. 1109: Die ausgefallene 1. August-Rede). In diesem Jahr hat es nun endlich geklappt.

Die Spitzenpolitikerin der Zürcher SVP, die in den Nationalratswahlen 2015 auf dem ersten Listenplatz ins Rennen ging, ist zwar in Weiach von Roger Köppel und Barbara Steinemann überholt worden. Sie hat aber mit 226 Stimmen auch in unserem Dorf eine sehr solide Basis - um nicht zu sagen «Fangemeinde» (vgl. WeiachBlog Nr. 1238). Ganz im Gegensatz zu Christoph Mörgeli, der von den Hiesigen vom zweiten Listenplatz auf Platz 23 heruntergestrichen wurde.

PR-Profi im Kampf gegen die Technik

Rickli wäre nicht Rickli, wenn sie nicht auch diesen Auftritt professionell abgewickelt hätte. Die 42-jährige ist ein Kommunikationsprofi, war lange Jahre Mitarbeiterin der einflussreichen Goldbach Medien. Sie weiss auch sich selber effektiv zu positionieren. Schliesslich sind ja bereits 2019 wieder Wahlen und ausserdem munkelt man, sie habe Ambitionen auf einen Regierungsratssitz. Da zahlt es sich immer aus, wenn man sich den Bürgerinnen und Bürgern zeigt. Gerade auch in einer SVP-Hochburg, wie Weiach sie ist.

Und Rickli kann mit Social Media umgehen. Ankündigungen auf Facebook und Twitter sowie eine dauernd aktuell gehaltene Website sind selbstverständlich. Direkte Ansprache der Zielgruppe inklusive:
Die Bedingungen auf dem Weiacher Schulhausplatz sind bekanntermassen ungünstig. Denn natürlich schweben auch am Abend des Bundesfeiertags die Jets auf der Anflugschneise 14 nach Zürich-Kloten ein. Unter freiem Himmel gegen den in unschöner Regelmässigkeit servierten Fluglärm zu kämpfen (exakt alle 90 Sekunden), noch dazu mit nicht allzu effektiver Soundtechnik unterstützt, das ist kein Zuckerschlecken.

Etliche Anwesende dürften nicht allzu viel vom Gesagten mitbekommen haben. Allzu schlimm ist das nicht. Nationalrätin Rickli ist ja nicht gerade für rhetorische Feuerwerke bekannt. Ihre Stärke sind auf hohem Niveau erarbeitete Beiträge, wie der nachstehende. Selber verfasst, auf Punkt und Komma überprüft, mit Belegstellen für die Zitate versehen und kurz nach der Rede veröffentlicht. Und der Nachwelt zur Lektüre bereitgestellt.

Der Wiachiana-Verlag (Herausgeber des WeiachBlog) dankt Nationalrätin Rickli für die Erlaubnis zum ungekürzten Abdruck.

«Achte jedes Mannes Vaterland, aber das deinige liebe!»- Ansprache zur Bundesfeier 2018 in Turbenthal, Höri und Weiach ZH

Mittwoch, 1. August 2018

Heute feiern wir Geburtstag. Den 727. Geburtstag unserer schweizerischen Eidgenossenschaft. Ein Geburtstag, den wir nicht nur mit Freude, sondern auch mit Dankbarkeit begehen dürfen. Denn es geht uns gut. Wir dürfen froh sein, in diesem freien Land zu leben. Wir haben eine wunderschöne Heimat.

Was ist Heimat?

Gemäss Duden ist Heimat nicht nur das Land oder der Ort, in dem «man geboren und aufgewachsen ist oder sich durch ständigen Aufenthalt zu Hause fühlt», sondern auch ein «gefühlsbetonter Ausdruck enger Verbundenheit gegenüber einer bestimmten Gegend». Gefühle sind ein ganz wichtiger Faktor, wenn es um Heimat geht. Dort hält man sich nicht nur gerne auf, sondern man hat den Ort oder das Land, wo man sich daheim fühlt, auch gerne.

Diese positiven Gefühle lassen sich mit einem Wort umschreiben: «Liebe». Liebe zum Vaterland. Heimatliebe. Und Sachen, die man gern hat, denen trägt man Sorge. Und wir müssen Sorge tragen zur Schweiz.

Zürich – der schönste Kanton der Schweiz

Was ist für mich Heimat? Wo fühle ich mich daheim? Dies habe ich mir bei den Vorbereitungen zur heutigen Ansprache überlegt. Natürlich fühle ich mich als Schweizerin, aber auch als Zürcherin und als Winterthurerin!

Darum will ich heute nicht nur zum Geburtstag der Eidgenossenschaft sprechen, sondern dies insbesondere auch als stolze Zürcherin tun und unseren Kanton auch etwas ins Zentrum stellen. Wir haben nämlich das Glück, im schönsten und vielfältigsten Kanton der Schweiz zu leben.

• Wer schon auf dem Bachtel, dem Hörnli oder dem Schnebelhorn war, weiss: Zürich hat wunderbare Bergwanderungen zu bieten. Im Zürcher Oberland beginnen die Voralpen – ein landschaftlich wunderbares Gebiet. Am Skilift in Steg habe ich übrigens gelernt, Ski zu fahren.

• Auch das Zürcher Unterland hat viel zu bieten. Mit Schmunzeln las ich auf einer Website: «Das Zürcher Unterland, zwischen Winterthur, Zürich und Baden gelegen: Nicht die bekannteste Gegend der Schweiz, aber eine mit guten Geschichten und viel Natur». [Anm-1: Vgl. www.freizeit.ch, Region Zürcher Unterland.] Nicht bekannt heisst übersetzt: ein Geheimtipp. Vom Rhein bis zum schönen Städtchen Regensberg gibt es in dieser Region landschaftlich viel zu erleben.

• Aber auch das Zürcher Weinland oder die Landschaften rund um den Zürichsee sind wunderschön.

• Und natürlich die Städte Zürich und Winterthur. Zürich ist als Finanz- und Wirtschaftsstandort elementar. Und Winterthur kann mit seiner Kultur und der Natur punkten. Wussten Sie, dass Winterthur die waldreichste Stadt der Schweiz ist? Rund 40% des Gemeindegebietes sind mit Wald bedeckt.

Es gäbe noch viel zu sagen über die Schönheit und Attraktivität unseres Kantons. Doch der Kanton Zürich ist nicht nur schön – unser Kanton ist der Motor der Schweiz.

Zürich erwirtschaftet rund einen Fünftel des nationalen Bruttoinlandsprodukts: Jeder fünfte Franken wird in der Region Zürich erarbeitet. Mit 529 Millionen Franken – also über eine halbe Milliarde Franken – zahlt Zürich frankenmässig am meisten in den nationalen Finanzausgleich ein.

Wir haben also etliche Gründe, stolz auf unseren Kanton zu sein.

Diese Identifikation mit dem Lokalen ist typisch schweizerisch. Denn die Schweiz gehört zu den ganz wenigen Staaten, die von unten nach oben aufgebaut sind. Grösser ist nicht immer besser und effizienter. Im Kleinen kann oft einfacher, unkomplizierter und auch günstiger eine Lösung für ein Problem gefunden werden. In der Gemeinde kennt man sich, spricht miteinander. Und über Fragen und Probleme, die sich hier stellen, wollen Sie auch hier selber entscheiden können.

Das ist in Bern schon ganz anders. Dort werde ich das Gefühl nicht los, dass die Verwaltung, aber auch gewisse Politiker da und dort den Kontakt zur Bevölkerung etwas verloren haben.

Aber der Zauber der Schweiz liegt im Kleinen und Einfachen. Wir haben keine Zentralverwaltung, und auch die Hauptstadt ist nicht so wichtig. Die Schweiz findet in den Gemeinden, in den Vereinen, bei und mit den Bürgern statt. Wir sind die Schweiz – und nicht irgendein Präsident oder ein König.

Oder wie es der grosse Zürcher Schriftsteller Gottfried Keller, einmal gesagt hat: «Alles Grosse und Edle ist einfacher Art.»

[Anm-2: Zitat von Gottfried Keller aus dem Bettagsmandat 1863, das er als Zürcher Staatsschreiber verfasste. Er schrieb weiter: «Möge diese klare Einfachheit bei aller materiellen Entwicklung unserer Zustände fort und fort die Grundlage unseres religiösen Lebens, unserer Wissenschaft und Erziehung bleiben (…).» Die sog. Bettagsmandate wurden am eidg. Dank-, Buss- und Bettag in den Gottesdiensten verlesen; die Behörden nahmen darin Bezug auf die aktuelle politische Situation. Das Verfassen der Bettagsmandate gehörte zu den Amtspflichten des Zürcher Staatsschreibers.]

Gottfried Keller

Wer genau war Gottfried Keller? Vor fast 200 Jahren – am 19. Juli 1819 – wurde er in Zürich geboren. Nach einer Lehre als Landschaftsmaler verbrachte er zwei Studienjahre in München. 1842 kehrte er mit 23 Jahren mittellos nach Zürich zurück. Er widmete sich mit voller Hingabe der Schriftstellerei, aber er engagierte sich auch politisch – damals kämpften viele junge Schweizer ja für die Errichtung des Bundesstaates. Dies gelang dann mit der Bundesverfassung von 1848 auch.

Die Zürcher Regierung gewährte Gottfried Keller dann ein Reisestipendium. So konnte er in Heidelberg Geschichte und Staatswissenschaften studieren und sich in Berlin zum Theaterschriftsteller ausbilden lassen. Er schrieb in dieser Zeit bekannte Romane wie «Der grüne Heinrich» oder «Die Leute von Seldwyla». Immer noch sehr arm kehrte er 1855 nach Zürich zurück. Erst als er 1861 im Alter von 42 Jahren zum Ersten Staatsschreiber des Kantons Zürich berufen wurde, erhielt er einen rechten Lohn.

Vor seiner Berufung zum Staatsschreiber hat Gottfried Keller eine Erzählung mit dem Titel «Das Fähnlein der sieben Aufrechten» veröffentlicht.

Die Geschichte ist einfach erzählt: Sie spielt im Jahre 1849, wo in Aarau das «Eidgenössische Freischiessen» stattfand – ein Schützenfest. Die «Aufrechten» sind ein Freundesbund von sieben Zürcher Handwerkern und Gastwirten. Wortführer sind der reiche Zimmermeister Frymann und der arme Schneider Hediger. Mit einem eigenen Fähnlein reisen sie nach Aarau, um am Schützenfest teilzunehmen. «Freundschaft in der Freiheit» prangt als Inschrift auf ihrem Fähnlein.

Als sie einige Grussworte an die tausendköpfige Versammlung in Aarau richten sollten, geraten sie in Bedrängnis. Karl, der Sohn von Schneider Hediger, rettet die Situation mit einer tollen Rede. Die Geschichte endet mit der Verlobung von Karl und Hermine, der Tochter von Zimmermeister Frymann.

Das «Fähnlein der sieben Aufrechten» zeichnet ein anschauliches Bild der Zustände im noch jungen schweizerischen Bundesstaat. Es ist eine Erzählung, in welcher Keller seine Zufriedenheit mit den vaterländischen Zuständen ausdrückte – eine Erzählung aber auch, welche viele wertvolle politische Überlegungen enthält, die noch heute aktuell sind.

Selbstverantwortung und Freiheit

Was mich mit Gottfried Keller verbindet, ist der Wille zur Selbstverantwortung. Ich lasse mir nicht gerne sagen, was ich zu tun habe – ich entscheide gerne selber. Dieser Wille, das Schicksal selber in die Hand zu nehmen, ist heute etwas verloren gegangen – vielleicht eine Folge des Wohlstands?

Dabei war genau dies ja der Ursprung unseres Landes – und unserer Freiheit. Der Drang zur Selbstbestimmung war vor 700 Jahren die Motivation zur Gründung der Eidgenossenschaft. Der Wille, das Schicksal in eigene Hände zu nehmen, prägte die alte Schweiz. Dieser Wille wurde auch in der Literatur immer wieder treffend beschrieben.

«Die Axt im Haus erspart den Zimmermann», heisst es im «Wilhelm Tell» von Friedrich von Schiller. Damit wollte Wilhelm Tell sagen: Wer seine eigene Kraft einzusetzen weiss, ist nicht auf die Hilfe anderer angewiesen. Das ist Unabhängigkeit.

Auch bei Gottfried Keller spielt der Wille zur Unabhängigkeit eine grosse Rolle. Im «Fähnlein der sieben Aufrechten» sagt der arme Schneider Hediger:

«Keine Regierung und keine Bataillone vermögen Recht und Freiheit zu schützen, wo der Bürger nicht imstande ist, selber vor die Haustüre zu treten und nachzusehen, was es gibt.»

[Anm-3: Zitat aus dem «Fähnlein der sieben Aufrechten» (statt vieler: Gottfried Keller, Züricher Novellen, Goldmann Verlag, München 1983, S. 194).]

Wer nicht in der Lage ist, sich selber zu helfen, ist verloren – so die Aussage von Hediger. Oder umgekehrt: «Hilf Dir selbst, so hilft Dir Gott», wie es der junge Karl in seiner Ansprache in Aarau für das Fähnlein der sieben Aufrechten formulierte. Dieser Wille, selber Verantwortung zu übernehmen, prägte auch die Politik. Mit dem noch jungen Bundesstaat wuchsen die politischen Mitbestimmungsrechte. Die Einführung der Volksinitiative im Jahre 1848, des fakultativen Referendums 1874 und der Initiative auf Teilrevision der Verfassung 1891 prägten die damalige Zeit.

Heute erlaubt unser Staatssystem eine vielfältige Mitsprache der Bevölkerung. Wir stimmen regelmässig ab und beteiligen uns an Wahlen – auf kommunaler, kantonaler und eidgenössischer Ebene. Und diese Mitspracherechte, diese Beteiligung schweisst uns zusammen. Wir müssen miteinander reden, miteinander Lösungen finden. Und gerade auf lokaler Ebene gibt das einen guten Zusammenhalt, auch über Parteigrenzen hinweg.

Liebe zur Freiheit

Dessen war sich auch Gottfried Keller schon bewusst. In seiner Münchner Zeit 1841 beschrieb er sein Heimatland wie folgt:

«Der Nationalcharakter der Schweizer besteht nicht in den ältesten Ahnen, noch in der Lage des Landes noch sonst in irgend etwas Materiellem, sondern er besteht in ihrer Liebe zur Freiheit, zur Unabhängigkeit, er besteht in ihrer ausserordentlichen Anhänglichkeit an das kleine, aber schöne und teure Vaterland...»

[Anm-4: Gottfried Keller, aus dem Aufsatz «Vermischte Gedanken über die Schweiz», verfasst um 1841 in München als Antwort auf eine Kontroverse um die Schweizer Nationalität, erschienen im «Wochenblatt der Schweizergesellschaft, März 1841».]

Er wehrte sich gegen den damaligen deutschen Zeitgeist. Es gab Leute, die behaupteten, die deutsche Schweiz gehöre eigentlich zu Deutschland und die Suisse Romande zu Frankreich. Das war gemäss Keller eine vorsätzliche Nichtbeachtung unseres Nationalcharakters.

Dies brachte ihn zum Schluss, dass derjenige, welcher nicht klar für die Unabhängigkeit und Freiheit der Schweiz eintritt, kein richtiger Schweizer ist. [Anm-5]

[Anm-5: Gottfried Keller schrieb: «Und umgekehrt, wenn ein Schweizer mit Frankreich oder Deutschland zu sehr sympathisiert, wenn er sich behaglich und glücklich findet als Untertan irgendeines fremden Souveräns, wenn er fremde Gewohnheiten aus Neigung annimmt und heimatliche Sitten verachtet, so ist er kein Schweizer mehr; (…).» Auch dieses Zitat entstammt seinem Aufsatz «Vermischte Gedanken über die Schweiz», verfasst um 1841 in München als Antwort auf eine Kontroverse um die Schweizer Nationalität, erschienen im «Wochenblatt der Schweizergesellschaft, März 1841».]

Die Unabhängigkeit war für Keller ein ganz wichtiger Faktor: selber bestimmen, selber entscheiden, selber Verantwortung übernehmen – nur dies führt nach seiner Auffassung zu Glück und Erfolg.

Fragen, die sich auch heute wieder stellen: Wie oft passt sich die Schweiz dem Ausland an, übernimmt Gesetze und Bestimmungen, schliesst Abkommen ab und leistet Zahlungen, zu welchen wir gar nicht verpflichtet wären. Wie oft machen wir in Bern Gesetzesrevisionen, in welchen wir fast ausschliesslich europäisches Recht nachvollziehen – und teilweise wörtlich abschreiben!

Ob Gottfried Keller damit einverstanden gewesen wäre?

Mitbestimmen heisst Verantwortung übernehmen

Doch mit seiner Aussage, der Bürger müsse imstande sein, «selber vor die Haustüre zu treten und nachzusehen, was es gibt» [Anm-6: Vgl. oben (Anmerkung 3)], beschreibt Gottfried Keller auch das Milizprinzip. Dieser Grundsatz, dass die Bürger viele Aufgaben selber übernehmen und so selbstständig zum Rechten schauen, prägt unser Land seit Jahrhunderten.

Das Milizprinzip ist ein wichtiger Pfeiler unseres Staatssystems – das wird gerne unterschätzt. Das Milizprinzip bedeutet ein grosses Engagement, das so viele von uns in der Feuerwehr, im Militär, in der Politik oder in unzähligen Vereinen täglich leisten. In der Schweiz werden so jeden Tag unzählige Arbeitsstunden geleistet, viele davon ohne Entschädigung.

All diese Tätigkeiten, die in privater Verantwortung wahrgenommen werden, muss der Staat nicht leisten. Dies ist nicht nur günstiger, sondern erlaubt es auch, seine vielfältigen beruflichen Erfahrungen in die verschiedenen Organisationen einzubringen.

Direkte Demokratie schützt Minderheiten

Die direkte Demokratie und der Föderalismus erlauben nicht nur die beschriebene effiziente, schlanke Staatsorganisation, sondern auch das Zusammenleben der verschiedenen Landessprachen und Kulturen.

Oder anders gesagt: Unser Staatssystem schützt Minderheiten wie kein anderes. Wo leben so viele Sprachen und Kulturen friedlich beisammen wie in unserem Land?

Auch wenn Gottfried Keller energisch für die Unabhängigkeit und Selbstbestimmung der Schweiz eintrat, war er tolerant gegenüber fremden Nationen und Kulturen – aus dieser Vaterlandsliebe heraus. Keller war offen gegenüber Ausländern, welche die schweizerische Staatsbürgerschaft erwerben wollten. Gerade weil er sich eben bewusst war, welche Vorteile unser System für den Bürger hatte

«Wenn ein Ausländer die schweizerische Staatsordnung liebt, wenn er sich glücklicher fühlt bei uns als in einem monarchischen Staate, wenn er in unsere Sitten und Gebräuche freudig eingeht und überhaupt sich einbürgert, so ist er ein so guter Schweizer, als einer, dessen Väter schon bei Sempach gekämpft haben.»

[Anm-7: Dies ist ein weiteres Zitat aus Gottfried Kellers Aufsatz «Vermischte Gedanken über die Schweiz», verfasst um 1841 in München als Antwort auf eine Kontroverse um die Schweizer Nationalität, erschienen im «Wochenblatt der Schweizergesellschaft, März 1841»]

Eine gute Integration setzte aber Keller schon voraus. Um Schweizer werden zu können, muss man sich als Schweizer fühlen – das wollte Keller uns mit diesem Satz sagen.

Weil Heimat eben mit Gefühlen verbunden ist – wie ich es am Anfang schon erwähnt habe. Nicht umsonst lautet der Wahlspruch der sieben Freunde im «Fähnlein der sieben Aufrechten» [Anm-8: Aus der Rede des jungen Karl Hediger am Schützenfest in Aarau, in: Gottfried Keller, Das Fähnlein der sieben Aufrechten (vgl. Anmerkung 3), S. 237]: «Achte jedes Mannes Vaterland, aber das deinige liebe».

Die Schweiz – das müssen wir uns immer wieder vor Augen halten – ist nicht das Konstrukt eines Staatswissenschaftlers. Unsere Verfassung haben nicht hochtrabende Philosophen geschrieben, die irgendwelchen idealistischen Projekten nachhingen. Unsere Bundesverfassung ist ein pragmatisches Regelwerk, welches ein friedliches, glückliches Zusammenleben der verschiedenen Sprachen, Kulturen und Landesgegenden ermöglichen will.

Bescheiden bleiben

Für den weiteren Erfolg unseres Landes wird es entscheidend sein, dass wir so pragmatisch und bescheiden bleiben, wie es unsere damalige Verfassung war. Gottfried Keller machte sich viele Gedanken über die Zukunft. Vielleicht, weil er befürchtete, irgendwann könnten die Grundlagen unseres Wohlstands in Vergessenheit geraten?

Besinnen wir uns gerade heute am 1. August wieder auf die Grundlagen des schweizerischen Erfolgsrezepts: Bescheidenheit, Fleiss und den Willen zur Selbstbestimmung.

Ich schliesse mit den Schlussworten von Karl Hediger, wie er sie – gemäss Gottfried Keller – am eidgenössischen Schützenfest in Aarau formuliert hat [Anm-9: Aus der Rede des jungen Karl Hediger am Schützenfest in Aarau, in: Gottfried Keller, Das Fähnlein der sieben Aufrechten (vgl. Anmerkung 3), S. 237 f.]: «Es lebe die Freundschaft im Vaterlande! Es lebe die Freundschaft in der Freiheit!».

Quelle

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Kommentar zur Rede von Nationalrätin Rickli


Auf Ricklis Facebook-Seite wurde der Weiacher Auftritt kommentiert (von einem User der in real life Martin Willi heissen dürfte) - der Verweis auf den Fluglärm weist auf seine tatsächliche Anwesenheit hin:



Dem kann man sich anschliessen. Das war eine Rede aus einem Guss, durchkomponiert, staatsmännisch, heimatverbunden. Und wie eingangs erwähnt von der Rednerin selber mit Anmerkungen versehen. Dazu noch mit der dreifachen Verwendung der Rede geschuldet wenigen regionalen Zutaten garniert (bezogen auf Weiach und Höri der Verweis auf das Zürcher Unterland als Geheimtipp). Kurz: eine Qualität, die man nur selten erhält.

Die Kernaussagen sind klar und deutlich. Sie transportieren die Identitätspolitik ihrer Partei mittels eines international bekannten Schriftstellers, der übrigens in den Jahren vor seinem Amt als Staatsschreiber auch aktiv in der Politik mitgemischt hat, ähnlich wie die Protagonisten in seinem Fähnlein der sieben Aufrechten (vgl. auch den Wikipedia-Artikel).

Zu den Ansprachen früherer Jahre
Nachtrag vom 27. März 2019

Rickli hat es geschafft. Gewählt als Regierungsrätin, vgl. den Artikel Der Rickli-Poker (NZZ, 25. März 2019).

[Veröffentlicht am 10. Juni 2019 um 15:00 MESZ]

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