Freitag, 8. Mai 2020

Auch dank der Armee am Kriegsende verschont geblieben

Heute, am 8. Mai, ist der 75. Jahrestag des offiziellen Endes der Kampfhandlungen des Zweiten Weltkriegs in Europa. Walter Zollinger schreibt dazu in seiner 1972 erschienenen ortsgeschichtlichen Monografie (4.53 MB):

«Wie unendlich froh war man allseits, als anfangs Mai 1945 die alliierten Truppen (Franzosen) von Waldshut herkommend, im benachbarten Hohentengen einrückten! Alles atmete auf, als jenseits des Rheins auf dem Schloss Röteln, am Kirchturm und am Amtshaus von Hohentengen, aber auch an manchem Privathaus weisse Fahnen oder gar Leintücher auftauchten! Bedeutete dies doch für unsere Bevölkerung diesseits des Grenzflusses das baldige Ende der schweren Grenzbesetzungsjahre. Mit Glockengeläute verkündete man in allen Gemeinden ringsum den ersehnten vermeintlichen Frieden. Auf diesen warten wir allerdings heute noch; kam es doch am historischen bedeutsamen Treffen der beiden Kriegsparteien in Reims bzw. Berlin nur zu einer Unterzeichnung der bedingungslosen Kapitulation des geschlagenen Deutschlands, also höchstens zu einem Waffenstillstandsvertrag.» (S. 72)

Dazu seien hier ein paar Anmerkungen gemacht.

Bei den erwähnten Truppen handelte es sich wohl um Kolonialverbände der 1. Französischen Armee, die «Rhin et Danube» genannt wurde und unter dem Oberkommando des Generals Jean de Lattre de Tassigny stand. Zur ordre de bataille dieses Grossen Verbandes vgl. rhin-et-danube.fr

Nach der einschlägigen Literatur zu schliessen, die in einem Wikipedia-Artikel zum Kriegsende im Südschwarzwald ausführlich besprochen wird, haben die ersten Einheiten Waldshut und schliesslich auch Hohentengen sowie Erzingen (an der Grenze zum Schaffhauser Klettgau) am 25. April 1945 erreicht. Die Mitteilung, dass die Franzosen Waldshut passiert haben, dürfte das Signal für das Hissen der erwähnten weissen Tücher gewesen sein.

Nero-Befehle umsetzen oder nicht?

Noch am 31. März 1945, als sich die Franzosen bei Speyer mit einem Brückenkopf rechtsrheinisch festsetzten, hat der für das Land Baden und das Elsass zuständige NSDAP-Gauleiter Robert Wagner (ein enger Mitstreiter Hitlers) allen «verbrecherischen Elementen» mit Standgerichten gedroht, wenn sie bei «Annäherung des Feindes weisse Fahnen zeigen würden». Er verlangte zudem, dem Prinzip der verbrannten Erde folgend, alle Infrastruktureinrichtungen zu zerstören, um den Vormarsch der Alliierten zu behindern. [Hintergrund war der Nerobefehl Hitlers vom 19. März 1945]

Andere bisher glühende Anhänger des nationalsozialistischen Regimes haben dem aktiv entgegengewirkt, so beispielsweise SS-General Georg Keppler. Ihm wurden nach der Etablierung von Brückenköpfen durch die Alliierten im Raum Strassburg am 14. April 1945 die zwischen Offenburg und Basel befindlichen Einheiten der sich auflösenden 19. deutschen Armee unterstellt. Keppler machte sich als erfahrener Heerführer über den sehr limitierten Kampfwert dieses sogenannten XVIII. SS-Armeekorps keine Illusionen. Das bestand nämlich im Wesentlichen aus Rest-Divisionen der Wehrmacht, sowie Einheiten von Volkssturm, Zollgrenzschutz und Festungstruppen. Gegen die Panzerdivisionen der 1. französischen Armee hatten die keine Chance.

Den Nero-Befehlen aus Berlin widersetzte Keppler sich konsequent, zog am 16. April die Verteidigung von Freiburg im Breisgau ab und versuchte seine Einheiten quer über den Schwarzwald nach Osten zurückzuziehen. Und offenbar gelang es ihm kraft seiner SS-Stellung auch, die lokalen Parteigrössen von vielen Dummheiten (wie sie Gauleiter Wagner verlangte) abzuhalten.

Weil die Schweizer Regierung aber offenbar nicht mit einem SS-General verhandeln wollte (wie sein der Wehrmacht angehörender Stabschef später berichtete) und die Franzosen bereits am 21. April von Norden her bis zum nördlichsten Zipfel Schweizerboden bei Bargen vorgedrungen waren, überliess Keppler am 26. April bei Blumberg seinen unterstellten Kommandanten die Entscheidung zur Kapitulation, wobei einige offenbar erfolgreich unterhandelten und mit ihrem Stab oder gar dem ganzen Verband in die Schweiz übertreten konnten. Keppler wagte mit einigen tausend Freiwilligen den Durchbruch ins Allgäu und setzte sich mit seiner Führungsstaffel nach Oberbayern ab.

Kriegsverbrechen französischer Kolonialtruppen

Für die Schweiz kam der Zusammenbruch des deutschen Widerstandes im Gebiet des heutigen Bundeslandes Baden-Württemberg nicht überraschend. Am 4. April hatten die Franzosen Karlsruhe erobert, am 16./17. April gelang ihnen nach heftigen Kämpfen mit der 19. deutschen Armee die Einnahme von Freudenstadt. Danach verwüstete eine plündernde und vergewaltigende Soldateska den Ort. Erst nach zwei Tagen sei es den französischen Offizieren gelungen, die Truppen wieder zur Räson zu bringen. Von diesen Kriegsverbrechen wird in der französischen Geschichtsschreibung der 1. Armee bezeichnenderweise nicht berichtet.

Am 21. April marschierten die Franzosen in Stuttgart ein (was die Amerikaner ziemlich ärgerte), bereits am 24. April standen ihre Kampfverbände vor Ulm. Und am 28. April hatte der Vorstoss von «Rhin et Danube»-Einheiten den Bodensee bei Friedrichshafen, Lindau und Bregenz erreicht. Am 29. April war der Krieg in Südwestdeutschland faktisch beendet.

Vorstoss dem Rhein entlang

In unserer Nachbarschaft stiessen die französischen Kolonialtruppen (Marokkaner und/oder Algerier), die noch am 23. April im Raum Lörrach standen, rasch vor. Bereits am 25. April erfuhr man in Erzingen (an der Grenze zum Schweizer Klettgau), dass diese Verbände Waldshut passiert hätten. Kurz darauf dürften die ersten Aufklärungseinheiten den Ort erreicht haben. Am 28. April wurde Erzingen dann regulär besetzt.

Dass es diese Operation dem Rhein entlang überhaupt gegeben hat, das war Schweizer Verbindungsoffizieren zu verdanken: General de Lattre de Tassigny schreibt, er habe ursprünglich keinen Vorstoss entlang des Hochrheins geplant, doch «(gaben) im Verlauf der freundschaftlichen Besuche, welche die Offiziere der Schweizer Armee meinem Befehlsstand regelmäßig abstatteten, [..] diese ihrem Wunsch Ausdruck, daß unsere Truppen so bald wie möglich zum Rhein, zwischen Basel und Schaffhausen erscheinen möchten, um der Unantastbarkeit ihrer Grenze eine größere Garantie zu gewähren.» De Tassigny befahl dementsprechend am 21. April das Vorrücken entlang dem Rhein über Waldshut bis zur Schweizer Grenze bei Blumberg. [Quelle: Riedel]

Man konnte ja nicht wissen, was dieser SS-General noch alles vorhatte. Und mit diesem Zangenangriff wurde das (vermeintliche) SS-Armeekorps eingekesselt.

Im operativen Vorfeld der Schweiz blieb es mehrheitlich ruhig. Einzig hart an der Grenze zum Kanton Schaffhausen, im Raum des Wutachtals und von Fützen und Blumberg fanden heftige Kämpfe statt, die auf deutschem Gebiet grössere Zerstörungen anrichteten.

Die Zivilbevölkerung muss gehen?

Auch in Hohentengen und im Jestetter Zipfel rückten die Franzosen kampflos ein. Letzteren musste die Zivilbevölkerung jedoch nach einigen Tagen verlassen, da dem französischen Oberkommando der Grenzverlauf zu unübersichtlich war und man in den dortigen Wäldern noch versprengte deutsche Soldaten vermutete. Auf die ebenfalls ergangene Anordnung, entlang der gesamten Schweizer Grenze einen Korridor von fünf Kilometern komplett zu räumen, kamen die Franzosen nach Fürsprache durch den Apostolischen Nuntius in Paris, Giuseppe Roncalli (dem späteren Papst Johannes XXIII.), wieder ab.

Dissuasive Wirkung der Schweizer Armee

Und die Schweizer Armee? Was war deren Beitrag?

Was immer wieder passiert, wenn man auf eigenem Territorium keine militärische Gegenkonzentration mit genügender Abschreckungswirkung aufbauen kann, das zeigt die Geschichte zur Genüge. Nach dem Zusammenbruch des Ancien Régime wurde die Schweiz 1799/1800 sowie 1814 zum Kampfplatz fremder Armeen oder zu ihrer Durchmarschachse.

Auch im Zweiten Weltkrieg war es für beide Kriegsparteien, die Alliierten wie die Achsenmächte, wichtig zu wissen, dass die Schweiz keinem von beiden einen Flankenangriff ermöglichen würde, es sei denn man sei gewillt ihn mit sehr hohem Blutzoll zu erkaufen.

Eine sichere Flanke ist einiges wert. Nur so ist es zu verstehen, dass die im Oktober 1944 aufgestellte 24. deutsche Armee im Wesentlichen eine reine Kadertruppe war und blieb und ihren Auftrag «einen möglichen Vormarsch der Alliierten über die neutrale Schweiz zu verhindern» gar ausführen konnte. Aber auch nicht musste. Den Planern im Oberkommando der Wehrmacht war die Dissuasion der Neutralität glaubhaft genug.

Hätte die Schweizer Armee die Grenze nicht besetzt und damit SS-General Keppler sich ohne Probleme auf Schweizer Territorium zurückziehen können, wer weiss welche Kollateralschäden die Schweizer Zivilbevölkerung hätte erleiden müssen. Es ist deshalb etwas sehr billig, den Stellenwert der Armee im Rahmen der Gesamtverteidigung kleinzureden. Natürlich war und ist sie nur ein sicherheitspolitischer Baustein von vielen. Aber ein unverzichtbarer.

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