Freitag, 29. Mai 2020

Sind die Chüechli gfrässe gsi...

Eine der umfangreichsten Serien, die auf WeiachBlog bisher erschienen sind, ist diejenige über die 1921 erschienene Autobiographie When I was a girl in Switzerland von Louise Griesser Patteson (vgl. WeiachBlog Nr. 1487 für eine Einleitung). Heute erscheint der 19. Artikel, der sich mit einem grenzüberschreitenden Thema befasst. Und dies gleich in zweierlei Hinsicht, wie man sehen wird.

«In those days also the Rhine was spanned by an ancient covered bridge which had a rumbling echo.» (S. 11)

Gemeint ist die 1823 von Baumeister Blasius Balteschwiler aus Laufenburg errichtete gedeckte Kaiserstuhler Holzbrücke über den Rhein, die 1876 durch ein Hochwasser zerstört wurde. Eine heute noch existierende gedeckte Rheinquerung Balteschwilers ist die Brücke von Rheinau.

Die im Buch Pattesons abgebildete Stahlbrücke von Kaiserstuhl zum Schloss Rötteln (vgl. unten) zeigt die als Ersatz von 1885 bis 1891 gebaute Stahlbrücke. Diese erwies sich bereits nach wenigen Jahrzehnten als nicht genügend tragfähig für schwere Lastwagen und wurde 1985 durch die heutige Stahlverbundbalkenbrücke ersetzt. 

Grenzüberschreitende Neckereien

Doch zurück zur alten gedeckten Brücke mit ihrem Echo, wozu Patteson anmerkt:

«It used to be great sport for us children to shout from one end of the bridge to the other as loudly as we could, and then listen to our own words. [...] Sometimes we went to the Rhine bridge, and just as sure as the children on the opposite side saw us they would shout over to us, “Oh, you Swiss cheese-bags!” Then we would shout back, “Oh, you Badener wind-bags!”» (S. 11-12)

Gemeint sind natürlich «Badenser Windbeutel», da damals (und bis 1871) der nördliche Brückenkopf Hoheitsgebiet des Grossherzogtums Baden war.

«During a visit to Switzerland I was sorry to miss that old bridge. In its place was a modern one. A statue of the martyred saint, John of Nepomuk, which used to be a wonderment to us children because it was so huge, had been removed from the far end to near the middle, so as to indicate the boundary line between the two countries.» (S. 12)

Da die Nepomukstatue 1752 vom Kaiserstuhler Bildhauer Franz Ludwig Wind geschaffen wurde, ist anzunehmen, dass sie ursprünglich auf dem Schweizer Ufer stand.

Weiacher Reben auch auf Kaiserstuhler Gebiet ennet dem Rhein

Im Kapitel XV von Pattesons Buch zeigt sich, dass es auch handfeste wirtschaftliche Weiacher Interessen an dieser Brücke gab. Es war nämlich so, dass nicht nur Kaiserstuhler Bürger sondern auch Weiacher auf dem ehemals zum Stadtbann gehörenden grossen sogenannten Efaden auf der Nordseite des Rheins Landparzellen besassen (umfassend alle Weinberge zwischen Hohentengen und der Ruine Weisswasserstelz; vgl. Argovia 104 (1992), S. 102-103). Unter anderen auch der Vater von Louise:

«Another of my steady jobs was to carry the noonday meal to our workers in distant parcels of land. Swiss farmers live in villages and have their lands outlying, a parcel here, another there. One of our vineyards was across the Rhine in Baden, about two miles distant. Our maid always went with the “hands” that worked there. As soon as I came from school at noon I had to start off with the dinner in a huge basket, which I wheeled in the baby cab to the Rhine bridge in Kaiserstuhl. There our maid met me, took the basket on her head and carried it to the vineyard. The accompanying picture shows the new Rhine bridge and the ancient castle mentioned in a previous chapter, and a stretch of the vine-clad Rhine bank in the background.» (S. 157-158)

Anzumerken ist, dass natürlich nicht in allen Gegenden der Schweiz eine räumliche Organisation der Landwirtschaft wie die beschriebene vorherrscht(e). Korrekt wäre die Angabe gewesen, dass dies in Teilen des Kantons Zürich der Fall sei, namentlich im Nordwesten, wo sich ihr Heimatdorf Weiach befindet. Zurückzuführen ist dies auf die Dreifelderwirtschaft, die mit Flurzwang durchsetzte, dass möglichst wenig Land durch Erschliessungsinfrastruktur verloren geht und sich die Wohn- und Ökonomie-Gebäude in einem Dorfkern konzentrieren. Nimmt man hingegen das Tössbergland im Zürcher Oberland, das Appenzellerland oder das Emmental in den Blick, dann sind in diesen stark gekammerten Gebieten traditionellerweise Streusiedlungen vorherrschend.


Grossherzogliche Grenzwächter mit Essen bestochen

«On the Badener side were gens d’armes, or tax-collectors, who inspected anything coming across. Mother always put some pie or cake in for them; otherwise they would disturb the dinner.

I had to travel that distance of a mile and back and eat my dinner and get back to school within an hour. Sometimes this continued for weeks at a stretch, because the care of his vineyard was a matter of great pride to Father. Those vineyards stretch in long, narrow panels down the embankment, and no sooner is one kind of pruning finished than it is time to begin again and go through with another kind.» (S. 158-159)

Es scheint fast so, als ob dieser Zweig der Familie Griesser in Weiach selber keinen Weinberg sein Eigen nannte. Oder war es doch die ennetrheinisch bessere Südlage, welche auch Wein höherer Qualität ergab als an den Weiacher Hängen?

Wie dem auch sei, kommen wir zur zweiten Grenzüberschreitung im Zusammenhang mit dem Weinberg auf der Hohentengener Seite:

Zu verlockende Chüechli

«One day Mother did not have the dinner all packed when I got home from school. I saw her put in a big tureen heaping full of fried cakes, and several on top for the gens d’armes. Imagine me, a youngster just from school, having had nothing to eat since an early breakfast, with the odor of those piping hot fried cakes being wafted to me as I pushed that cab ahead. After I had the village of Weiach behind my back I tasted one from under the napkin (I was careful not to take the gens d’armes’). It tasted so good I took another, and another, and so on, I suppose. That evening the maid asked Mother why she had sent so few fried cakes, not even enough to go once around. Of course, suspicion turned to me. To make a long story short, I was severely, and as I afterward concluded, unjustly, punished.» (S. 159)

Nun: Strafe muss sein, denn sie wusste ja, dass sie etwas Verbotenes tut. Das zeigt schon der Umstand, dass der erste Griff unter die Tücher erst nach Passieren des Bedmen erfolgte. Nach diesen Häusern gab es damals nämlich bis nach Kaiserstuhl keinerlei Gebäude mehr (vgl. die Wildkarte aus den 1850er-Jahren).

Aber immerhin: die für die Gendarmen des Grossherzogs reservierten Chüechli hat die kleine Luisa nicht anzurühren gewagt. Respektspersonen halt.

Quelle
  • Patteson, S. L.: When I Was a Girl In Switzerland. Lothrop, Lee & Shepard Co., Boston 1921 [Elektronische Fassung auf archive.org; PDF, 11 MB] – S. 11-12 u. 157-159.

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