Donnerstag, 14. Mai 2020

Hohe Übersterblichkeit anfangs des 18. Jahrhunderts

Das Gebiet des Zürcher Stadtstaates war vor etwas mehr als 300 Jahren noch so etwas wie heute ein Entwicklungsland am Ende der Weltrangliste. Mit hoher Kindersterblichkeit und – besonders was die ärmeren Bevölkerungsschichten betrifft – häufig prekären Verhältnissen bei der Lebensmittelversorgung.

Ein Problem, das querbeet auftrat

Unterschied zu heute: Die Kindersterblichkeit war auch in sonst gutgestellten Familien des städtischen Bürgertums (wie den einflussreichen Escher zum Glas) ein grosses Problem. Nur ein Beispiel von vielen: Hans Conrad Escher (1651-1711), der Begründer des in der Geschichte der Zürcher Seidenindustrie massgebenden Zweiges der «Escher zum Wollenhof». Von seinen fünfzehn Kindern wurden ganze sechs älter als fünf Jahre! (vgl. die Stammtafel der Escher zum Glas, Nr. 72)

Anhand der sterblichen Überreste einer mit ca. 35 Jahren verstorbenen Frau, die im aufgegebenen alten Friedhof im Weiacher Oberdorf bei Ausgrabungen gefunden wurden, kann festgestellt werden, dass auch die überlebenden Kinder Schädigungen davongetragen haben: «Sind, wie hier, die Frontzähne befallen, müssen im Alter zwischen zwei und sieben Jahren Ernährungsmängel oder starke Krankheiten das Wachstum des Körpers beeinflusst haben.» (Vgl. Weiacher Geschichte(n) Nr. 120, Gesamtausgabe S. 515).

Tragekapazität des Bodens erreicht

Für die Gemeinde Weiach gilt, dass die Bevölkerungszahl spätestens im 17. Jahrhundert eine quasi natürliche Grenze erreicht hatte (vgl. Weiacher Geschichte(n) Nr. 8). Die Ertragskapazität des Bodens liess sich nicht beliebig vermehren, jedenfalls nicht mit der damaligen Form von Landwirtschaft. Andere Einkommensquellen gab es kaum. Man musste also von dem leben, was die Natur hergab.

Oder eben in der Fremde sein Glück suchen, wie dies nachweislich Ende des 17. Jahrhunderts (um 1690) ganze Weiacher Familienverbände in kurzer Zeit in die Tat umsetzten. Auch im ganzen 18. Jahrhundert war der Auswanderungsdruck hoch. Da konnten die Pfarrherren noch so sehr von der Kanzel obrigkeitliche Gegenpropaganda verbreiten (vgl. WeiachBlog Nr. 1503). Manch eine(r) hielt es da im Zweifel mit den Bremer Stadtmusikanten aus Grimms Märchen, die sich sagten: «Etwas Besseres als den Tod findest du überall».

466 Tote von 1700 bis 1718

In den von Walter Zollinger mehrfach verwendeten Aufzeichnungen von Pfr. Ernst Wipf (in Weiach von 1903 bis 1907) findet sich in einem Heftumschlag mit der Aufschrift «Aus den Konstanzer Regesten» (gemeint sind wohl die ab 1895 erschienenen Bände der Regesta Episcoporum Constantiensium, REC) auch anderes Material, das aus dem Weiacher Pfarrarchiv bzw. Kirchgemeindearchiv stammt.

So z.B. eine Aufstellung über die Anzahl Todesfälle von 1700 bis 1718. Aufaddiert wurden in diesen 19 Jahren insgesamt 466 Beerdigungen, davon 84 allein in den Jahren 1706 und 1707. Da hat es vor allem Kinder getroffen.

Auch wenn man diese beiden Jahre herausrechnet, ergibt sich immer noch eine hohe Sterblichkeit von über dem Dreifachen dessen, was man Mitte des 20. Jahrhunderts in Weiach gezählt hat. Und das bei einer von der Anzahl Köpfe her ziemlich vergleichbaren Bevölkerung.


Diagramm: Vergleich der Anzahl Todesfälle 1700-1718 (Weiacher Totenbuch) mit 1952-1966 (Jahreschroniken Zollinger).

In den 15 Jahren von 1952 bis 1966 sind lediglich 110 Personen gestorben, was einen Jahresschnitt von 7.33 ergibt. Verglichen mit 24.53 zum Beginn des 18. Jahrhunderts gab es damals eine Übersterblichkeit von 234 Prozent!

Quelle und Literatur
  • Keller-Escher, C.: Fünfhundert und sechzig Jahre aus der Geschichte der Familie Escher vom Glas. 1320-1885. Festgabe zur Feier des fünfhundertsten Jahrestages ihrer Einbürgerung zu Zürich. II. Theil: Genealogie der Familie Escher vom Glas. Nach urkundlichen Quellen mit Benutzung älterer Familienstammbücher, der genealogischen Arbeiten auf der Zürcherischen Stadtbibliothek und der städtischen Register zusammengestellt und bis auf die neueste Zeit fortgeführt. Zürich 1885. Vgl. e-rara.ch.
  • Aufzeichnungen Pfr. Wipf. Umschlag «Aus den Konstanzer Regesten». Loseblattsammlung, unpaginiertes Blatt. [Weiach, zw. 1903 u. 1907]. Archiv des Ortsmuseums Weiach, ohne Signatur.
  • Zollinger, W.: Jahreschroniken 1952-1967. Abschnitt Von Lebenden und Toten. Handschriftenabteilung Zentralbibliothek Zürich, Signatur: G-Ch Weiach 1952 ff.
  • Brandenberger, U.: 1000 Einwohner – Weiach durchbricht eine «Schallmauer». Weiacher Geschichte(n) Nr. 8 (erstmals erschienen in: MGW, Juli 2000).
  • Brandenberger, U.: Mangelernährung in der Kindheit. Was die Gräber auf dem alten Friedhof im Oberdorf erzählen. Weiacher Geschichte(n) Nr. 120 (erstmals erschienen in: MGW, November 2009).
  • Brandenberger, U.: Wider die verbotene Begierde, nach Preussisch-Pommern zu ziehen. WeiachBlog Nr. 1503 v. 4. Mai 2020.

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