Freitag, 22. Mai 2020

Vom Umgang mit Respektspersonen

«Der Pfarr Herr, wie er auf die Canzel und der Straße gehet». So beginnt die Beschreibung unter diesem Bild aus einer Kupferstich-Sammlung von Johann Andreas Pfeffel, die er 1750 in Augsburg unter dem Titel «Schweitzerisches Trachten-Cabinet» herausgegeben hat. Sie folgt gleich nach der Darstellung eines Ratsherrn aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts.


Beide, Ratsherr wie Pfarrherr, tragen eine weisse Halskrause, dazu einen hohen schwarzen Hut, sowie einen schwarzen Mantel über einem Gehrock. Die Botschaft ist unmissverständlich: das ist eine Respektsperson. 

Im 19. Jahrhundert haben die offiziellen Amtstrachten nicht mehr ganz so pompös ausgesehen wie noch ein Jahrhundert früher. Gewisse Elemente dürften sich aber gehalten haben, wie man an der Beschreibung von hohen Seidenhüten sieht, welche die Vorgesetzten der Gemeinde noch um 1860 getragen haben müssen (vgl. WeiachBlog Nr. 1498, Abschnitt: Amtsträger sassen im Chorgestühl).

Der Unterschied zum Normalsterblichen war unverkennbar und für das gemeine Volk ist die Amtstracht ein Hinweis darauf, wie diese Person zu behandeln sei. Nämlich mit grossem Respekt.Was selbstverständlich auch den Kindern von klein auf beigebracht wurde.

Der Fauxpas zeigt, was sich schickte

Aus der Autobiographie von Louise Griesser Patteson (1853-1922) konnte WeiachBlog seit Mitte April schon etliche Müsterchen zitieren, die direkten Bezug auf das Dorfleben Mitte des 19. Jahrhunderts haben. So auch in den nachstehenden Fällen, an denen man exemplarisch ablesen kann, welche Erwartungshaltung bezüglich Anstandsregeln vorherrschte:

«One rainy day I was playing alone. I had made several trips to the brickyard for clay, and my shoes were muddy, the strings untied and trailing. While I had my hands in the “dough,” along came the Herr Pfarrer down the road toward our house.»

Beim Genannten dürfte es sich um Pfr. Johann Ludwig Schweizer (1855-1865 in Weiach) gehandelt haben, der aus dem Pfarrhaus (Büelstrasse 17) auf die Strasse trat und sich nach Nordwesten begab. Das Elternhaus von Louise Patteson dürfte die heutige Liegenschaft Büelstrasse 10/12 gewesen sein.

«Now in a Swiss village Herr Pfarrer is the most august personage. Whenever a child meets him, a respectful curtsy and proffer of the right hand is in order. I wiped my muddy hands on my apron and extended my right with the usual greeting, “God greet you, Herr Pfarrer”. As I did so I happened to think of my disreputable-looking shoes, and, forgetting all about the dignity and loftiness of Herr Pfarrer, I held up a foot and asked him to tie the string. I think the Reverend gentleman must have been touched by the innocence and spontaneity of my request, for he did smilingly stoop without a moment’s hesitation and tie both of my shoes. I can to this day see the dark streaks which those muddy strings left across the backs of his white hands. When he had finished he took out his immaculate handkerchief and wiped them off.»

Man stelle sich das vor: der Herr Pfarrer wurde also (wie heutzutage nur noch Würdenträger allerhöchsten Ranges) mit einem Knicks und den Worten «Gott grüezi, Herr Pfarrer» begrüsst. Das (nach dem Abwischen der als weiss beschriebenen Pfarrerhände) nicht mehr so makellose Nastuch hat offensichtlich einen tiefen Eindruck hinterlassen. Der Vorgang war ja auch bemerkenswert: der Würdenträger bückte sich, um einem kleinen Mädchen die Schuhe zu binden.

Man kann es mit dem Grüssen auch übertreiben

Wer einmal Militärdienst gemacht hat, der kennt das: Vorgesetzte wollen gegrüsst sein. Und so kommt es dann, dass man als höherer Offizier (besonders auf Waffenplätzen mit Rekruten) dauernd den Arm heben und die Hand zum Gruss an die Mütze halten muss. Mit der Zeit belastet das den rechten Ellbogen und nervt dann doch etwas. Bei allem Respekt und Verständnis für die erwiesene Reverenz.

Ähnliches widerfuhr Pfarrer Schweizer vor Louise Pattesons Elternhaus (Büelstrasse 10), von wo diese Hobelspäne zum Brennholzlager (wohl in Büelstrasse 12) tragen musste, während er sich mit ihrem Vater unterhielt:

«On another occasion I was busy carrying shavings from our carpenter’s work-bench into the wood-shed. Herr Pfarrer had stopped to talk with my father, and I had to pass them every trip, both going and coming. It had been so forcefully impressed upon me that Herr Pfarrer must be greeted in the proper way whenever you pass him, that I stopped every time to curtsy and to proffer my hand, until finally Father told me I was excused.»

I am sure I should not remember these incidents were it not for the fact they were common gossip. I had to hear about them from time to time until we left for America.»

Gerade der letzte Abschnitt zeigt, warum sich die Autorin noch an diese beiden Vorfälle erinnert. Und in welcher Form die Erinnerung in ihr Gedächtnis gelangte. Nämlich auch und gerade über den Umweg der Neckereien Dritter, die sich über ihre kindlichen Anstands-Fehltritte belustigten. Die musste sie sich bis zur Abreise in die USA im Oktober 1867 immer wieder anhören.

Quellen
  • Pfeffel, J. A.: Schweitzerisches Trachten-Cabinet oder allerhand Kleidungen, wie man solche in dem löblichen Schweitzer-Canton Zürich zutragen pflegt [E-Helvetica Schweizerische Nationalbibliothek. nbdig-26228, PDF, 26.17 MB] – S. 3.
  • S. Louise Patteson: When I Was a Girl In Switzerland. Lothrop, Lee & Shepard Co., Boston 1921 [Elektronische Fassung auf archive.org; PDF, 11 MB] – S. 28-30.
  • Brandenberger, U.: Kirchensitzordnung nach Geschlecht, Amt, Zivilstand und Alter. WeiachBlog Nr. 1498 v. 26. April 2020.
[Veröffentlicht am 23. Mai 2020 um 16:08 MESZ]

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