Werfen wir einen Blick in die zu Zeiten des deutschen Kaisers Wilhelm II. in Leipzig erscheinende Monatsschrift Familiengeschichtliche Blätter, Ausgabe Oktober 1911. Unter der Rubrik mit dem schon fast poetischen Titel «Gelegenheitsfindlinge» hat auch der WeiachBlog einen ebensolchen Fund gemacht. So liest er sich im Volltext:
Göbel.
1689 März 5. wurde zu Weiach, Kt. Zürich getauft: Anna Regina, Tochter des Johann David Goebel aus der Schlesing (sic), Oculist, Bruch- und Steinschneider, und der Frau Anna Barbara Muommin, von Eringshausen aus der Wetterau unter dem Grafen v. Ehrenstein. Jedenfalls war die Tochter im Gasthaus zu Weiach geboren, da die Wirtsfrau als Patin erscheint. — Taufbuch Weiach.
Zürich. Dr. Hegi.
Ist das nicht ein hübsches Geschichtchen? Fangen wir bei den Erläuterungen von hinten her an.
Bezüge zum Staatsarchiv des Kantons Zürich
Der Autor, Friedrich Hegi (1878-1930), Doktor der Geschichte, war zum Zeitpunkt des Hinweises an die Redaktion der Familiengeschichtlichen Blätter als II. Staatsarchivar beim Kanton Zürich angestellt. Und er hatte nicht nur wissenschaftliche Kontakte ins Deutsche Reich. Sein zwei Jahre älterer Bruder, Gustav Hegi, war 1910 Professor für Systematische Botanik an der Universität München geworden.
Mit dem Taufbuch Weiach kann nur der älteste Band der Weiacher Kirchenbücher gemeint sein, geführt vom jeweiligen Pfarrherr (im Jahr 1689: Pfr. Hans Rudolf Seeholzer).
Dieses Tauf-, Ehe- und Totenregister 1609-1753 (StAZH E III 136.1), ist der einzige Band, der nachweislich schon vor 1935 ans Zürcher Staatsarchiv extradiert wurde (aber bis heute im Verzeichnis auftaucht: PGA Weiach IV.A.01). Mutmasslich ist diese Ablieferung im Herbst 1920 erfolgt (vgl. ZTB 1941, S. 31).
Die Annahme liegt daher nahe, dass die mittels regierungsrätlichem Kreissschreiben an die Zivilstandsbeamten im Mai 1910 angeordnete Übergabe der ältesten Kirchenbücher ans Archiv der Politischen Gemeinde (vgl. ZTB 1941, S. 30) von Dr. Hegi zu einem Augenschein in Weiach genutzt wurde. So konnte er überprüfen, ob für den Band konservatorische Massnahmen angezeigt wären und bei dieser Gelegenheit auch einen Blick ins Gemeindearchiv werfen.
Geboren im ehaften Wirtshaus?
Die Ehefrau des Wirts ist im Taufbuch als Gotte von Anna Regina aufgeführt. Hegi schliesst aus diesem Umstand, dass eigentlich nur eine Geburt in der einzigen ehaften Taverne vor Ort denkbar sei (damals an der heutigen Oberdorfstrasse 7). Das lässt sich aus der Gesetzeslage ableiten, die den Untertanen im Grundsatz strikt verboten hat, Fremde zu beherbergen und dieses Recht nur dem Inhaber des staatlich konzessionierten Wirtshauses zugestand.
Ob der Taufbuch-Eintrag diese Interpretation des Geburtsortes stützt, wird man auch ohne Besuch im Staatsarchiv in absehbarer Zeit per Fernabfrage herausfinden können. Dann nämlich, wenn auch die Weiacher Kirchenbücher volldigitalisiert vorliegen (aktuell nur bis und mit Stammheim).
Dass es sich bei den Eltern Johann David Goebel und Anna Barbara Muommin um Auswärtige gehandelt hat, zeigt sich nicht nur an den Herkunftsangaben.
Die Mutter stammte aus der Wetterau. Das ist ein schon von den Römern besetztes Gebiet westlich von Frankfurt am Main. Ehringhausen ist heute Teil der Gemeinde Gemünden im mittelhessischen Vogelsbergkreis. Dorthin gelangt man, wenn man von Basel aus der Bundesautobahn 5 bis fast an ihr Ende folgt. Wo der Herkunftsort des Vaters (Schlesing) geographisch anzusiedeln ist, wissen wir nicht. Schon Hegi ging von einem Verschreiber des Pfarrers aus.
Der Kindsvater betrieb ein medizinisches Wandergewerbe
Besonders interessant ist die Berufsbezeichnung des Mannes, die ihn als Vertreter der sog. niederen Heilkunst identifiziert. Die drei Angaben betreffen allesamt Bereiche, in denen sich die an Hochschulen ausgebildeten, gelehrten Doctores der Medizin nicht unbedingt vertieft einlassen wollten.
Ausgebildet wurden beispielsweise die Bruchschneider und Steinschneider oft von einem Bader (der Schröpfkuren anbot) oder einem Wundarzt. Die waren neben den Hebammen sozusagen im Alleingang für die Gesundheitsversorgung auf dem Land zuständig.
Und da der Inhaber der ehaften Taverne zu Weiach laut Konzession ein Badhaus führen durfte, ist es naheliegend, dass dort auch spezialisierte Heilpraktiker abstiegen, wie eben der Oculist, Bruch- und Steinschneider Goebel.
Unter einem Oculisten ist ein ougenarzt zu verstehen, ein Begriff, den es schon im 15. Jahrhundert gab. Diese Profession wurde oft von reisenden Medizinern praktiziert (vgl. u.a. den Abschnitt über die Neuzeit im Beitrag Augenheilkunde).
Ausführlichere Erklärungen zu den beiden nahe verwandten Professionen der Bruchschneider, die sich auf die Behandlung von äusseren Eingeweidebrüchen, sog. Hernien, spezialisiert hatten, sowie der Steinschneider, die für das Entfernen von Harnsteinen in Blase und Harnröhre ausgebildet waren, sind im Mittelalter-Lexikon von Dr. med. vet. Peter C. A. Schels (1936-2015) zu finden, vgl. Literatur unten.
Quelle und Literatur
- Familiengeschichtliche Blätter. Monatsschrift zur Förderung der Familiengeschichtsforschung. Hrsg. v. d. Dassel-Stiftung bei der Zentralstelle für deutsche Personen- und Familiengeschichte, Leipzig. IX. Jahrg. Oktober 1911, Nummer 10 – S. 167.
- Hauser, E.: Die Sammlung der zürcherischen Pfarrbücher im Staatsarchiv. In: Zürcher Taschenbuch (ZTB) auf das Jahr 1941, Zürich 1940 – S. 27-36.
- Schels, P. C. A.: Bruchschneider. Artikel in Mittelalter-Lexikon.de, s.d.
- Schels, P. C. A.: Steinschneider. Artikel in Mittelalter-Lexikon.de, s.d.
- Urmi, E.: Hegi, Gustav, in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 05.11.2009.
- Hürlimann, K.: Hegi, Friedrich, in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 08.08.2024.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen