Donnerstag, 3. Oktober 2024

Ein Vaterunser kommt selten allein

Waren Sie schon einmal im siebten Himmel? Man sieht der volkstümlichen Formulierung an, dass zum Zeitpunkt, als dieses schon fast geflügelte Wort zur Bezeichnung nicht steigerbaren Glücksgefühls geprägt wurde, durchaus noch die Vorstellung herrschte, es gebe in den himmlischen Sphären mehrere Abteilungen. Mit unterschiedlichen Komfortstufen sozusagen. Sieben an der Zahl.

Rund sieben Jahre ist es her, seit ich anlässlich des Reformationssonntags eine Fassung des Vaterunsers publiziert habe, wie sie 1836 vom damaligen Weiacher Pfarrer im Manuskript zum Gottesdienst anlässlich der Einweihung des Alten Schulhauses niedergeschrieben wurde (vgl. WeiachBlog Nr. 1354). Und er verwendet explizit den Plural: Himmeln. 

Himmel oder Himmeln? In der Bibel steht beides.

Verwundern sollte uns das überhaupt nicht. Diesen Plural findet man nämlich auch in den gebräuchlichsten Fassungen der Bibel in griechischer und lateinischer Sprache (Septuaginta und Vulgata). 

Hier (zu Vergleichszwecken) die hiesige Fassung vom 24. November 1836, selbstverständlich in deutscher Sprache:

«Unser Vater der du bist in den Himmeln!
Geheiligt werde dein Namme.
Zukomme dein Reich.
Dein Wille geschehe auf Erde, wie im Himmel.
Gieb uns heut unser tägliches Brod,
Und vergieb uns unsere Schulden, wie auch
wir vergeben unsern Schuldnern,
Und führe uns nicht in Versuchung, sondern
erlöse uns von dem Bösen!

Denn dein ist das Reich und die Kraft und
die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.

Der Herr segne Euch und behüte euch!
Der Herr lasse sein Angesicht über euch leuchten
und seye euch gnädig!
Der Herr erhebe sein Angesicht über euch und
gebe euch den zeitlichen und ewigen Frieden! Amen.
»

Vulgata. Die hochoffiziell-katholische Lesart

In der ab 1592 für Jahrhunderte in der römisch-katholischen Kirche geltenden offiziellen Fassung, genannt Vulgata Clementina, wird Lateinisch ebenso selbstverständlich verwendet. So sagt Jesus während der Bergpredigt:

«Sic ergo vos orabitis» (So also werdet ihr beten; Matthäus 6,9) und das darauf folgende Gebet lautet: 

«Pater noster qui es in caelis.
Sanctificetur nomen tuum.
Adveniat regnum tuum.
Fiat voluntas tua sicut in caelo et in terra.
Panem nostrum supersubstantialem da nobis hodie
et dimitte nobis debita nostra sicut et
nos dimittimus debitoribus nostris.
Et ne nos inducas in tentationem
sed libera nos a malo. Amen.
»  (Matthäus 6,9-13) 

Statt «supersubstantialem» (in etwa «überlebensnotwendig») steht in anderen Versionen der Vulgata an dieser Stelle der Begriff «cotidianum» bzw. «quotidianum» (also «tägliches Brot», was den Reformierten wesentlich geläufiger sein dürfte).

Von den Himmeln bzw. dem Himmel ist im bekanntesten Gebet der Christenheit gleich zweifach die Rede. In der Ansprache des Höchsten (vgl. Zeile 1, Plural) sowie dort, wo der Wunsch geäussert wird, der Wille dieses Höchsten möge im Himmel (Singular) wie auf Erden geschehen (vgl. Zeile 4).

Mehrklassen- und Einheitsvorstellung sind also in einem der zentralsten Texte des Neuen Testaments friedlich vereint.

Heutige Zürcher Bibel kennt nur Einheitshimmel

Getreu der heutigen Vorstellung eines nichtkompartimentalisierten Himmels lautet die Fassung von Matthäus 6,9-13 nach der Zürcher Bibel (TVZ 2007): «9 So sollt ihr beten: Unser Vater im Himmel. Dein Name werde geheiligt. 10 Dein Reich komme. Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden. 11 Das Brot, das wir nötig haben, gib uns heute! 12 Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben haben jenen, die an uns schuldig geworden sind. 13 Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen.»

Mit diesem Bösen, von dem man erlöst werden soll und dem Amen, das bekanntlich in der Kirche ganz sicher ist, hat es – wie man oben gesehen hat – nicht sein Bewenden. Das Vaterunser kommt nicht allein. Es wird in der Liturgie regelmässig mit zwei Zusätzen versehen: einer Doxologie und einem Segen.

Doxologie, das Rühmen der Herrlichkeit Gottes

Der Begriff Doxologie leitet sich vom altgriechischen δόξα dóxa «Herrlichkeit» bzw. «Ehre» ab. Gemeint ist damit ein das Gebet abschliessendes feierliches Rühmen der Herrlichkeit Gottes.

Eines der Vorbilder für die Formel «Denn dein ist das Reich...» ist die Bibelstelle 1. Chronik 29,10-13 (Fassung der Zürcher Bibel, TVZ 2007):

«10 Und David lobte den HERRN vor den Augen der ganzen Versammlung, und David sprach: Gelobt seist du, HERR, Gott Israels, unseres Vaters, von Ewigkeit zu Ewigkeit! 11 Dein, HERR, ist die Grösse und die Macht und die Herrlichkeit und der Ruhm und die Hoheit. Denn alles im Himmel und auf Erden ist dein. Dein, HERR, ist das Reich, und du bist der, der erhaben ist über alles als Haupt. 12 Und Reichtum und Ehre kommen von dir, und du bist Herrscher über alles. Und in deiner Hand sind Stärke und Macht, und in deiner Hand liegt es, alles gross und stark zu machen. 13 Und nun, unser Gott, wir danken dir und preisen deinen herrlichen Namen.»

In der Wikipedia wird behauptet, die Doxologie der Protestanten sei aus der Didache entnommen, der sog. Zwölfapostel-Lehre (Διδαχὴ τῶν δώδεκα ἀποστόλων Didachḕ tõn dṓdeka apostólōn). Diese urchristliche Gemeindeordnung wurde jedoch erst 1873 wiederentdeckt. Die Doxologie muss also auf anderen Wegen in die Weiacher Tradition hineingekommen sein.

Aaronitischer Segen macht den Abschluss

Nach dem ersten Amen kommt in der Weiacher Fassung noch ein weiteres mit einem Amen abgeschlossenes Element hinzu: der sog. Aaronitische Segen (auch: Priestersegen, weil er vom Pfarrer über die Gemeinde gebracht wird). Dieser Text leitet sich aus 4. Mose 6,24-26 ab. Er soll von Martin Luther 1525 in den protestantischen Gottesdienst eingeführt und von Zwingli übernommen worden sein.

Fassung nach der Zürcher Bibel (TVZ 2007): «24 Der HERR segne dich und behüte dich. 25 Der HERR lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig. 26 Der HERR erhebe sein Angesicht zu dir und gebe dir Frieden.»

Nach dem, was ich aus Jugendzeiten noch im Gehör habe, lautete eine frühere Fassung des Verses 26 in der bei der Evangelisch-reformierten Landeskirche des Kantons Zürich üblichen Form: «erhebe sein Angesicht auf Dich und gebe Dir seinen Frieden

So ändern sich die Zeiten und Formeln. Die Botschaft aber bleibt.

Quelle und Literatur

  • Auszug aus: Weiherede Altes Schulhaus Weiach, gehalten am 24. November 1836 durch Pfr. Johann Heinrich Burkhard. Nach der Transkription von W. Zollinger, 1969. Vorabdruck aus Wiachiana Fontes Bd. 2.
  • Brandenberger, U.: Unser Vater, der du bist in den Himmeln! WeiachBlog Nr. 1354, 5. November 2017.

[Veröffentlicht am 18. Oktober 2024 um 16:42 MESZ]

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