Wer nicht dran glauben will, der muss schon daran glauben wollen! Und sei es mit dem eigenen Portemonnaie. Gemeint ist die Impfung und die ihr zugeschriebene Wirkung.
Nein, die Rede ist nicht von Corona. Hier geht es um einen anderen Fall von medizinbehördlichem Nudging, der sich vor 200 Jahren abgespielt hat.
Damals ging es um eine «Kinderblattern» genannte Krankheit. Hohe Infektiosität und Letalität zeichnen sie aus. Aber: Sie kann nur durch den Menschen weitergegeben werden. Es handelt sich um die seit 1979 weltweit erfolgreich ausgerotteten Pocken (Erreger: Orthopox variolae).
Sanitäts-Collegium trifft alle nöthigen Policey-Maßnahmen
«Die Pocken zeigten sich im letzten Jahre [1823] nirgends im Kanton, hingegen wurden 4897. Kinder geimpft, und dazu an Unterstützungen 1704. Frk[en]. ausgegeben.» (Jahresbericht des Sanitäts-Collegii, 29. Juni 1824, S. 28; StAZH MM 1.88 RRB 1824/0608)
Im darauffolgenden Jahr sah das schon ganz anders aus:
«Von der Pockenkrankheit zeigten sich, aus dem Vorarlbergischen durch Ansteckung eingebracht, an einigen Orten in unserm Kanton Spuren, die aber, Dank der ausgebreiteten Vaccination, nirgends um sich griffen. Das Sanitäts-Collegium traf für diese Fälle selbst alle nöthigen Policey-Maßnahmen, bestrebte sich aber, durch die bey dem Publikum vermehrte Besorgniß erscheinender Gefahr unterstützt, mit gutem Erfolge dem erprobten Schutzmittel eine allgemeinere Anwendung zu verschaffen. Es wurden daher auch in diesem Jahre 5434. Impfungen vorgenommen, und hingegen der Starrsinn und Eigenwillen eines Vaters von zehn Kindern, welcher sich derselben widersetzte, zu abschreckender Warnung öffentlich bekannt gemacht.» (Jahresbericht des Sanitäts-Collegii. 17. Mai 1825, S. 67; StAZH MM 1.91 RRB 1825/0365)
Vor 200 Jahren forderte die Krankheit noch Opfer...
Die Zentralbibliothek Zürich twitterte dazu vor anderthalb Jahren: «Anfang des 19. Jahrhunderts waren die Pocken in Europa weit verbreitet und etwa 10 % der Infizierten starben. Als sie im Winter 1824 im Kanton Zürich ausbrachen, versuchte die Regierung, die Bevölkerung von der Pockenimpfung zu überzeugen.» (ZBZ, 18. Mai 2022, 14:00)
Diese Impfung gab es damals bereits seit rund 25 Jahren und etliche Staaten (u.a. das Königreich Dänemark) hatten bereits eine Impfpflicht eingeführt. Im nach der Helvetik und Mediationszeit 1815 wieder unabhängig gewordenen Zürcher Stadtstaat war das nicht der Fall. Bei uns versuchte die Regierung, die Untertanen per Flugblatt zu überzeugen:
... aber offensichtlich nicht genug für eine Impfung
Dazu schreibt die ZBZ: «Der hier vorgestellte Impfaufruf wurde im Winter 1825 als Flugblatt an die Bevölkerung verteilt. In der Pockenwelle 1825/26 erkrankten 125 Menschen, von denen 24 verstarben.» (ZBZ, 18. Mai 2022 14:01)
Zum Vergleich: Umgerechnet auf die heute im Kanton ansässigen 1.6 Mio. Einwohnern wären das rund 1000 Erkrankte, wovon 200 sterben würden.
1793 zählten die Kirchgemeinden des Stadtstaates Zürich rund 182'000 Einwohner (mit Stein am Rhein, Dörflingen (heute SH), Basadingen, Schlattingen (heute TG), sowie Sax, Sennwald und Salez im heutigen St. Galler Rheintal; den Freiämtler Gemeinden (heute AG) sowie Tegerfelden und Zurzach im ebenfalls aargauischen Studenland). [Quelle: MagPhysPolitZEuropKol 1793]
1850 waren es (bei verkleinertem Gebiet; nur Rheinau, Hüttikon, Dietikon, Schlieren und Urdorf kamen 1803 dazu) erst rund 251'000 Einwohner. [Quelle: e-HLS Artikel Zürich (Kanton)]
Kuhpocken machen Bauernfamilien immun
Bei solchen Infiziertenzahlen kann man sich in etwa vorstellen, wie eifrig die Zürcherinnen und Zürcher sich haben impfen lassen. Es gab ja noch etliche andere Seuchen, an denen man zu Tode kommen konnte. Viele vertrauten überdies auf ihre natürlich erworbene Immunität, zumal auf dem Land, wo man sich in der Regel durch die Kuhpocken für genügend geschützt hielt. Dasselbe Kuhpockenvirus, das seit 1799 für die Schutzimpfung genutzt wurde. Denn der Erreger der Kuhpocken, Orthopox vaccinia, ist ein enger Verwandter des Variola-Virus, das den schweren Verlauf beim Menschen verursacht. Wer von ihm (bspw. beim Melken der Kühe an deren Euterblattern) infiziert wurde, war in der Regel auch gegen die Menschenpocken-Viren immun.
Ungeimpfte zahlen für ihren eigenen Lockdown
Was im Winter 1824 begonnen hatte, das war im Frühling 1826 noch nicht vorbei. Im Kanton Luzern griffen die Behörden in Beromünster und Aesch jedenfalls knallhart durch, wie man der damals nur zweimal wöchentlich (am Mittwoch und am Samstag auf je vier Seiten) erscheinenden NZZ entnehmen konnte:
«Die Häuser worin Pockenkranke sind, sollen in Bann gelegt, das will sagen, mit Wache versehen werden, die jede Gemeinschaft mit deren Bewohnern hindere; dazu können Landjäger oder in deren Ermanglung andere tüchtige Leute gebraucht werden. Die daherigen Kosten fallen ausschließlich auf jene Hausväter, in deren Wohnungen die Pocken herrschen.» (Neue Zürcher-Zeitung, Nro. 24, Sonnabend den 25. März 1826, S. 93; Titelseite)
Die Luzerner Obrigkeit liess also die Häuser von Pockenkranken polizeilich bewachen und überband die Kosten dafür dem Haushaltsvorstand! Ob das im Kanton Zürich auch so gehandhabt wurde, habe ich bislang nicht herausgefunden. Aber auch in Weyach wurde eine «strenge Eingränzung» verfügt, wie man der darauffolgenden NZZ-Ausgabe entnehmen kann.
Weyach 1826: Durchschlagender Impferfolg
Die Zürcher Obrigkeit hat es nicht unterlassen, einen wohl so nicht erwarteten Impfkampagnen-Erfolg im März 1826 über die Zeitungen verbreiten zu lassen:
«Zur Fortsetzung der von Zeit zu Zeit mitgetheilten warnenden Pockenberichte, entheben wir einem bezirksärztlichen Bericht vom 25. März, die nachfolgenden Angaben aus dem ansehnlichen Pfarrdorfe Weyach, im Zürcherschen Oberamt Regensberg. Von drey Blatternkranken, die durch Einbringung der Seuche angesteckt wurden und die nie geimpft waren, starben zwey erwachsene Personen; fünf ungeimpfte Kinder im nämlichen Haus wurden nun zwar alsbald geimpft, aber die Ansteckung der natürlichen Blattern war vorausgegangen und sie wurden von diesen befallen. Durch zweckmäßige Verfügungen und schnell veranstaltete Schutzpockenimpfungen ist die weitere Verbreitung der Krankheit verhütet worden. Weder Eltern noch Geschwister durften die Verstorbenen zum Grabe geleiten und stark blatternnarbige Männer haben ihre Särge getragen. Die strenge Eingränzung der Häuser, in denen die Pockenkranken wohnten und der schnelle Tod zweyer Erwachsener Personen durch die Pocken, haben viele ungläubige Haushaltungen in gläubige verwandelt; alles nahm nun eilige Zuflucht zum Impfen, und nicht nur Minderjährige wurden dem Impfarzt gebracht, sondern es meldeten sich auch halb und ganz Erwachsene, selbst verehlichte Personen, so daß in kurzer Zeit 77 Angehörige dieser Gemeinde geimpft worden sind.» (Neue Zürcher-Zeitung, Nro. 25, Mittwoch den 29. März 1826, S. 98)
Die NZZ war stramm auf Regierungslinie
In der Disziplin des regierungstreuen Verlautbarungsjournalismus musste die 1780 gegründete NZZ schon immer gut sein. Bei einer Zeitung, die im Hinrichtungsjahr des Schwirbelkopfes Pfr. Johann Heinrich Waser gegründet wurde, gehört das sozusagen zur Grundausstattung der Blattlinie. Als Überlebensprogramm war das auch in der Restaurationszeit des Biedermann die angesagte Strategie.
Interessant ist die Beschreibung der stark blatternnarbigen Sargträger. Das waren also Personen, die bereits an Pocken erkrankt waren und diese überlebt hatten, wie man ihren vernarbten Gesichtern, etc. angesehen hat. Hier setzte man also auf natürliche Immunität.
Das behördliche Narrativ setzt primär bei den Ungeimpften an: Drei erkrankten an den Pocken und zwei starben. Die hohe Todesrate von 2/3 habe – so wird insinuiert – ihre Wirkung nicht verfehlt. Wenn hier die Verehelichten speziell genannt werden, dann deshalb, weil diese im Schnitt schon länger erwachsen waren, da man für die Heiratserlaubnis genügend Vermögen vorweisen musste.
Elf Prozent aller Weycher neu geimpft
Die Behörden wollten das offensichtlich als Erfolg verkauft wissen. Nicht erwähnt wird, wieviele Weiacherinnen und Weiacher schon gegen Pocken geimpft waren.
Die damaligen Einwohnerzahlen für Weyach: 1824 – 671; 1827 – 700. Das waren also um die 11 Prozent, die sich in Weiach allein durch dieses Ereignis für eine Impfung entschieden haben.
Viel oder wenig? Jedenfalls einmal ein Anlass für die Amtsärzte, die Propagandatrommel fürs Impfen zu rühren. Und die militärische Metapher ist hier durchaus angebracht. Denn im Bereich der Pocken sahen sich diejenigen Mediziner, die ans «Vaccinieren» glaubten, auf einem Feldzug. Was heute ja nicht ganz anders ist.
Propagandafeldzug, Anno 1804
Bereits 20 Jahre früher, also nur 5 Jahre (!) nach der Entwicklung der Pockenschutzimpfung, propagierte die Gesellschaft der Wundärzte auf dem Schwarzen Garten – eine Zürcher Ärztevereinigung – diese Neuerung, indem sie in Neujahrsblättern ein Lob aussprach auf «den klugen Hausvater und die vorurteilsfreie Hausmutter», die sich «mit der beruhigenden Überzeugung, das Beste gewählt zu haben» für eine Schutzpockenimpfung entschieden hätten.
In genanntem Neujahrsblatt war denn auch eine Stadtbürgerfamilie mit ihren Kindern abgebildet, die gerade geimpft worden waren und dafür ihr Blatterngeschenk (das Mädchen ein Bäbi, der Knabe ein Steckenpferd) erhalten. Dieses Geschenk schickten die Verwandten, wenn die Kinder einer Familie die Blattern überstanden hatten. Nun, so die Ärztevereinigung, könne man seinen Kindern das alles ersparen: «Sie sind nicht schwach und kränkelnd, diese Kleinen; sie leiden an keinen üblen Folgen der Krankheit; ihre Gesichter sind nicht verunstaltet; ihre Augen haben keinen Schaden gelitten; sie können sogleich Freude haben an ihren Geschenken.» (zit. n. Blog Hauptbibliothek Universität Zürich, vgl. Literatur)
Für Risiken und Nebenwirkungen...?
Die Verkaufsargumente sind also ganz ähnlich den heutigen, Incentives inklusive. Trotzdem waren viele – besonders auf dem Land – höchst skeptisch. Denn allzu oft erlebten (und erleben) sie im täglichen Leben wie ihre Ärzte und Tierärzte im Nebel stochernd nach den Ursachen suchten, sie nicht wirklich fanden und dann allzu gerne ein Allheilmittel verschrieben haben. Von möglichen Impfschäden sprach von diesen Fortschrittsgläubigen dann natürlich auch kaum einer.
Quellen und weiterführende Literatur
- [MagPhysPolitZEuropKol]: Magazin zur nähern Kenntniß des physischen und politischen Zustandes von Europa und dessen auswärtigen Kolonieen. 3,1/4. 1793/94 ## Bd. 3,2 No. 2, 1793.
- Neue Zürcher Zeitung. Nro. 24, 25. März 1826, S. 93; Nro. 25, 29. März 1826, S. 98.
- Suter, M. et al.: Zürich (Kanton). In: Historisches Lexikon der Schweiz (e-HLS), Version vom 24. August 2017.
- N. N.: Die Anfänge der Pockenimpfung in Zürich. In: Blog der Hauptbibliothek der Universität Zürich, 14. Juni 2021
- Tribelhorn, M.; Gerny, D.: Die Urangst vor der Impfung: «Früher fürchteten sich die Leute vor Menschen mit Kuhköpfen». In: Neue Zürcher Zeitung, 29. Oktober 2021.
- Vivienne Kuster, V.; Häfliger, M., Loser, Ph.: Haben wir eine tiefe Impfquote, weil es uns zu gut geht? «Apropos» – der tägliche Podcast. In: Tages-Anzeiger Online, 8. November 2021.
- Zentralbibliothek Zürich (Hrsg.): CitizenScience Projekt Schul(zeit)reisen digital. Mehr erfahren: https://t.zbzuerich.ch/impfkampagne. Eine frühe Impfkampagne Arbeitsblatt (mit vollständiger Transkription der behördlichen Impfaufrufe) & Lehrpersonenunterlage (mit weiterführenden Links).

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