Am vergangenen Wochenende hatte das Weiacher Ortsmuseum für die traditionelle grosse Herbstausstellung seine Türen und Tore geöffnet (vgl. WeiachBlog Nr. 2292).
Teil der Ausstellung bildete auf dem Tennboden im Ökonomieteil eine Schautafel über die Landwirtschaft, die als Hauptabnehmerin eng mit etlichen der vorgestellten Gewerbebetriebe verbunden war. Die angehefteten sechs Textseiten wurden vor über 20 Jahren von alt Gemeindepräsident Ernst Baumgartner-Brennwald (1920-2008; whft. gew. Oberdorfstr. 26) verfasst.
(Foto: Ortsmuseumskommission, Facebook)
Nachstehend die Aufzeichnungen auf dem sechsten Blatt, das sich auf die dramatischen Ereignisse im Herbst 1944 bezieht. Wie bei vielen Erinnerungen, die nach Jahrzehnten aus dem Gedächtnis zu Papier gebracht werden, spielt dieses auch Ernst dann doch ein paar chronologische Streiche, wie nachstehend dargelegt wird.
«Am 9. September 1943 [recte: 9. Oktober 1944] war ich an der Delegiertenversammlung der Jungen Kirche in Basel. Plötzlich donnerten Jagdflugzeuge über die Stadt und Wasseralarm wurde ausgelöst, denn das Kemser-Kraftwerk war bombardiert worden.»
Der alliierte Fliegerangriff auf das Stauwehr Kembs-Märkt ereignete sich am frühen Abend des 7. Oktober 1944. Vgl. die Ausführungen im letzten Abschnitt dieses Artikels.
Ernst (24) war Augenzeuge des Fliegerangriffs auf den fahrenden Zug
Dann schildert Baumgartner-Brennwald den von etlichen Weiacher Augenzeugen (u.a. Mina Moser) überlieferten Angriff auf einen Richtung Eglisau fahrenden Zug nördlich des Weiacher Dorfkerns am 9. September 1944 (vgl. Literaturliste unten):
«Am 9. Oktober [recte: September] war unsere Fami[l]ie nahe der Bahnlinie mit «kartoffeln» beschäftigt. Sturzflugartig kamen kurz nach 12 Uhr amerikanische Jagdflugzeuge mit Maschinengewehr-Geknatter herunter. Im ersten Moment glaubten wir, es gelte uns. Aber da sahen wir den Güterzug kommen und aus dessen Dampflokomotive zischend der Dampf entwich. In der Annahme[,] dass dort Personal verletzt worden sind, eilte ich dem Zug entgegen. Plötzlich ertönten wieder Maschinengewehrgeknatter. Die Jagdflugzeuge hatten eine Schleife gezogen und kamen über das «Güllefass» (Gebiet Fasnachtfluh) herab, und beschossen den Zug seitwärts. Ich hatte mich erschrocken in eine Kartoffelfurche gelegt, und sprang erst weiter[,] als ich sicher war[,] dass die Angreifer fort waren. Bei der Lokomotive lag an der Böschung der Heizer mit blutendem Oberarm. Der Lokführer schickte mich mit weiteren Herbeigeeilten in den Gepäckwagen. Dort lag der Zugführer mit einer handgrossen offenen Bauchwunde. Er konnte uns die Weisung geben[,] dass an der Decke eine Tragbahre hänge. Mittlerweile waren aus dem Dorf Sanitätsoldaten zur Hilfe eingetroffen. Die Verletzten konnten nach langer Zeit als geheilt erklärt werden.»
Aus dieser detaillierten Beschreibung, der wir hohe Authentizität beimessen dürfen (immerhin war Ernst Baumgartner als Soldat darauf trainiert, Gefechtssituationen zu erfassen), geht u.a. hervor, wie die Jagdpiloten vorgegangen sind. Vom Rafzerfeld her kommend – wo sie bei Rafz bereits einen anderen Güterzug attackiert hatten – stachen sie auch auf diesen Zug hinunter, feuerten eine Salve ab, zogen ihre Maschinen dann wieder hoch und gelangten in einer weiten Linkskurve über den Sanzenberg, Haggenberg und Stein in die rechte Flanke der jäh gestoppten Komposition. Das zeigt der Hinweis mit dem Flurnamen Güllefass deutlich. Als «s Güllefass» wird laut dem blauen Büechli von Zollinger (im Volksmund nach dem Rückentitel sog. «Chronik» 1972/84) die «Felspartie zwischen Wörndel und Fasnachtflue» bezeichnet, was exakt zur Endposition des angegriffenen Zuges vor der Höh passt.
Im Zürcher Hauptbahnhof umgeleitet
Den nächsten Fliegerangriff in unmittelbarer Nähe von Weiach erlebte Ernst zwar in Uniform, jedoch nicht als Augenzeuge. Er war gerade auf der Heimfahrt aus dem Dienst:
«Am 9. November 1944 wurde ich nach einem Ablösungsdienst mit dem Bat. 64 entlassen. Im HB Zürich stürmte ein Bahnangestellter in den abfahrbereiten Zug und rief: «Militär nach Weiach rasch aussteigen». Unserer Sechs gelang dies mit Sack und Pack und der Zug fuhr ab. Niemand konnte uns mit der Weisung[,] dass wir via Baden–Koblen[z]–Zurzach–Weiach ohne Erk[l]ärung heimfahren sollen. Erst in Koblenz wurde uns bekannt[,] dass amerikanische Bomber wahrscheinlich das Kraftwerk Rheinsfelden angreifen wollten und dabei die Eisenbahnbrücke sehr stark beschädigten und umliegende Gebäude zerstörten.»
Der erwähnte Bahnangestellte hatte also lediglich den Auftrag erhalten, Fahrgäste nach Weiach über den Aargau umzuleiten. Man darf annehmen, dass dieser Aufruf im Zug relativ kurz nach dem Angriff auf das Kraftwerk (zwischen 11:35 und 11:45 an diesem Donnerstag, 9.11.1944) erfolgt ist (vgl. WeiachBlog Nr. 1617).
Der Dienst beim Füsilierbataillon 64 zusammen mit fünf weiteren jungen Weiachern ist eine Folge der damals noch kantonal organisierten Infanterieverbände. Das «Bat. 64» war traditionell seit der Truppenreorganisation 1875 der Auszugsverband, in dem die Weiacher Füsiliere nach der RS in der Regel eingeteilt wurden.
Ernsts abschliessendes Fazit: «Drei Monate hintereinander, immer am 9. des Monates, solche Erlebnisse zu erfahren, hat mir eine richtige Angst auf den 9. eingeflösst.»
Hans Rutschmann, zur Herkunft der zitierten Notizen (S. 6 unten).
Bombardments direkt vor den Toren der Stadt Basel
Es ist durchaus möglich, dass am 9. Oktober 1944 Jagdflugzeuge über die Stadt Basel donnerten (wie Baumgartner-Brennwald schreibt). Der geschilderte Angriff auf die Stauanlagen im Rhein unmittelbar nördlich der Stadt erfolgte allerdings wenige Stunden zuvor und die Angst, es könnten rheinaufwärts oberhalb Basel weitere Stauwehre angegriffen werden, stand im Raum, weshalb auch der Wasseralarm plausibel ist. Am Abend des 7. Oktober 1944 hatten die Basler nämlich eine eindrückliche Demonstration der Wucht der damaligen Luftkriegsführung erlebt.
Schlenker (s. Literatur) berichtet, die Explosion von Munition in einem von der deutschen Flak abgeschossenen Lancaster-Bomber (abgestürzt im Raum Efringen-Kirchen) habe eine derart heftige Druckwelle entwickelt, dass in der Stadt Basel (mehr als 5 Kilometer entfernt!) mehrere Schaufensterscheiben und weitere Fenster barsten. Luftschutzsoldaten, die im Hafen Kleinhüningen Dienst taten, seien zu Boden geworfen worden.
Der Pegel des Rheins sank durch die Zerstörung des Wehrs Kembs-Märkt mittels 6-Tonnen-Bomben «Tallboy» innert rund zweieinhalb Stunden um mehr als dreieinhalb Meter, auch die Hafenbecken entleerten sich sogartig, wodurch etliche Schiffe im Hafen Kleinhüningen, die nicht mehr rechtzeitig in tieferes Wasser gelangen konnten, auf Grund sassen (vgl. die Bilder im ausführlichen Beitrag von Schlenker).
Circa 200 Meter nördlich vom Dreiländerpunkt (und damit dem Rheinhafen Basel-Kleinhüningen) entfernt querte die sog. Hüninger Schiffbrücke den Rhein. Sie wurde am 20. Oktober 1944 durch amerikanische Brandbomben zerstört. Ab 1947 erfolgte der Übergang durch eine Autofähre, bis 1979 flussabwärts die Palmrainbrücke eröffnet wurde. Erst seit 2007 steht an dieser Stelle wieder eine – allerdings nur für Velofahrer und Fussgänger bestimmte – Brücke, die Passerelle des Trois Pays.
Quelle und Literatur
- Baumgartner-Brennwald, E.: Mosaik von Erlebnissen, Typoskript 2 Seiten, terminus ante quem Herbst 2003. Archiv des Ortsmuseums Weiach, ohne Signatur.
- Brandenberger, U.: Amerikanische «Luftgangster»? 9. September 1944: US-Luftwaffe beschiesst Güterzüge bei Rafz und Weiach. Weiacher Geschichte(n) Nr. 41. In: Mitteilungen für die Gemeinde Weiach, April 2003 – S. 11-16.
- Schlumberger, A.: Die Bombardierung des Stauwehrs des Kraftwerkes Kembs. In: Schweizer Soldat, Bd. 82 (2007), H. 3, S. 35. https://doi.org/10.5169/seals-716347
- Kron, B.: Als die US-Luftwaffe Weiach beschoss. Geschichte und Geschichten aus dem Unterland. In: Tages-Anzeiger Unterland, 21. August 2008 – S. 54.
- Brandenberger, U.: «Wie wenn Spaghetti vom Himmel fallen würden». WeiachBlog Nr. 1617, 1. Januar 2021.
- Schlenker, P.: Bomberangriff auf das Stauwehr Märkt D - Kembs F 7. Oktober 1944. In: The Royal Air Force over Switzerland 1940-45. Website https://raf.durham-light-infantry.ch
- Brandenberger, U.: «Amerikanische Luftgangster», revisited. Zum 80. Jahrestag. WeiachBlog Nr. 2167, 9. September 2024.


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