Montag, 27. April 2020

Gesang auf den Strassen und der Ruf des Nachtwächters

Heimatliebe (und Gefühle überhaupt) würden die Schweizer durch das Singen ausdrücken. Das ist die Quintessenz, welche die Autorin Louise Griesser Patteson (1853-1922) aus dem Umstand zog, dass in ihrer alten Heimat selbst in kleinen Gemeinden mit wenigen hundert Einwohnern (wie Weiach) mehrere Musik- und insbesondere Gesangsvereine existierten.

Und in der Tat gab es da früher einiges, was zwar nicht immer von jahrzehntelanger Dauer war, aber doch immer wieder neu gegründet wurde. Zu nennen wären im 20. Jahrhundert insbesondere die Dorfmusik (eine Blasmusikformation, 1913 und 1957 aus der Taufe gehoben), der Männerchor (Gründung 1891) und der Kirchenchor (einer 1886 und einer 1930 gegründet). Offensichtlich war das Bedürfnis da - im Gegensatz zu heute.

Strassen blockiert durch sonntagnachmittägliches Singen

Patteson beschreibt das Singen als beliebte Freizeitbeschäftigung, vor allem am Abend nach dem Einnachten und am Sonntagnachmittag:

«The Swiss people express their love of country and of kindred largely through song. Even a village as small as Weiach with only a few hundred inhabitants had its female chorus, and its male chorus. One of the pleasantest memories of my home life as a child is the Sunday street singing. During Sunday afternoon the village maidens dressed in their picturesque costumes would form in a row that blocked the public highway from side to side, and promenade back and forth through the village. Sometimes they sang in the daytime, but always soon after dark there would be the loveliest singing. Pretty soon the male chorus would be heard, and later it was a mixed chorus that continued far into the evening.»

Auch der Ruf des Nachtwächters war ein Gesang

Bis spätabends wurde also gesungen. Aber nicht zu lange, denn schliesslich musste man am nächsten Tag wieder an die Arbeit. Für die Ermahnung sorgte der Nachtwächter:

«When that singing ceased, the refrain was taken up by a lone troubador, the night watchman. At ten o’clock he started his rounds, armed with a long cane and sang out in Swiss:

“Loset was i eu will sage!
Die Glock het Zehni gschlage.
Jetzt betet und jetzt gond is Bett,
Und wer a ruehig Gwisse het
Schlaf sanft und wohl! Im Himmel wacht
A heiter Aug die ganzi Nacht.”

The eleven o’clock chant warned any who still prolonged merriment [Vergnügungen] or worked over time, to desist:

“Loset was i eu will sage
Die Glock het Elfi gschlage
Und were no a der Arbet schwitzt
Und were no bi de Charte sitzt
Dem biet i jetzt zum letzte Mal
S ’isch hochi Zit—und schlafet wohl.

And so the warning became more urgent every hour until three o’clock, the night watchman’s last call. Freely interpreted these chanted warnings would be:

1. Listen to what I tell you: the clock has struck ten. Now pray and go to bed, and whoever has a good conscience will sleep well. In heaven an eye watches throughout the night.

2. Listen to what I tell you: the clock has struck eleven. Now whoever is still sweating at his work, or whoever yet may be playing cards, I tell you now for the last time—it’s high time, good-night.»

Von einer Polizeistunde ist in diesen Zeilen interessanterweise keine Rede. Entweder hat Luisa Griesser diese Massnahmen in ihrer Kindheit nicht wahrgenommen. Oder es gab sie tatsächlich nicht und die Ermahnungen des Nachtwächters waren ausreichend.

In Zeiten, als es noch viele Strohdächer gab (vor den Massnahmen der Gebäudeversicherung gegen diese brandgefährliche Eindeckung), da war ein Feuerwächter besonders wichtig, der frühzeitig Alarm schlagen konnte. Vor anderen Gefahren konnte er aber selbstverständlich auch warnen.

Quellen und Literatur
  • Patteson, S. L.: When I Was a Girl In Switzerland. Lothrop, Lee & Shepard Co., Boston 1921 [Elektronische Fassung auf archive.org; PDF, 11 MB] – S. 68-70.

Keine Kommentare: