Sonntag, 26. April 2020

Kirchensitzordnung nach Geschlecht, Amt, Zivilstand und Alter

Heutzutage kann man sich in der Kirche zum Gottesdienst an einen beliebigen Platz setzen. Einverstanden, nicht ganz. Denn es würde wohl schlecht ankommen, wenn man sich ins Chorgestühl oder gar auf die Kanzel setzte. Aber sonst: kein Problem.

Mitte des 19. Jahrhunderts gab es sogar noch Besitztitel an bestimmten Sitzplätzen in der Kirche, die den Besitzer wechseln konnten. Ein erhalten gebliebenes Zertifikat für einen «Weiber-Ort», ausgestellt im Jahre 1848 vom damaligen Pfarrer Hirzel, wurde in WeiachBlog Nr. 233 vorgestellt.

In ihrer Autobiographie «When I Was a Girl In Switzerland» beschreibt Louise Griesser Patteson (1853-1922), eine gebürtige Weiacherin, die in ihrem 15. Lebensjahr in die USA auswanderte, wie die Kirche ihrer Jugend aussah und wo sich die Gottesdienstbesucher zu setzen hatten:

«The church auditorium was long and narrow; the far end of it formed a half-circle. The body of the edifice was divided lengthwise by a wide aisle, on one side of which sat the men and boys, on the other side the women and girls. On the wall next to the women’s side there was an enclosure similar to an opera box, long enough to seat several people. This was for Frau Pfarrer and her family.» (S. 127-128)

Diese Beschreibung der Weiacher Kirche als rechteckiger Saal, dessen Sitzreihen durch einen Mittelgang unterbrochen werden, ist korrekt. Nicht ganz den richtigen Eindruck erweckt hingegen die Beschreibung des chorseitigen Abschlusses als «Halbkreis», was eher einer Apsis entspricht als dem tatsächlich anzutreffenden dreiseitigen Polygon auf der Nordostseite.

Die herausgehobene Stellung der Pfarrfamilie zeigt sich daran, dass sie über einen separaten Bereich verfügte (vgl. WeiachBlog Nr. 1497 v. gestern über die Pfarrersfrau als eine Art First Lady). Auf welcher Seite die Frauen sassen und auf welcher die Männer, wird von Patteson nicht erwähnt (vgl. dazu unten die Aussage der amtierenden Kirchgemeindepräsidentin).

Amtsträger sassen im Chorgestühl

Die Mitglieder des Stillstandes sowie der Vorsänger sassen für alle Besucher sichtbar auf den geschnitzten Chorstühlen, die sich entlang der Wände des Chorpolygons aufreihen:

«The half-circle in front was lined with seats similar to opera chairs, each chair having a partition so high that the occupants could not see each other unless they bent forward and looked around. In those stately chairs sat the officers and other dignitaries of the church. They always wore tall silk hats, which during prayer they held in front of their faces.» (S. 128)

Die Beschreibung, dass die Stillständer in der Kirche seidene Hüte trugen, habe ich bislang in keinem anderen Schriftstück gefunden. Bekannt war bisher, dass die Mitglieder der Kirchenpflege schwarze Mäntel tragen sollten (dies forderte beispielsweise Pfr. Hartmann Escher kurz nach seinem Amtsantritt 1753; vgl. WeiachBlog Nr. 226).

«I got the idea then that the object in having those seats face the congregation was to keep a watchful eye on the boys and girls in the low front benches.»  (S. 128-129)

Diese Einschätzung dürfte nicht ganz falsch gewesen sein, war doch der Stillstand gleichzeitig für das Armenwesen verantwortlich und hatte über Jahrhunderte als erste Instanz des Sitten- und Ehegerichts zu dienen. Diese Kontrollfunktion wurde durch die Platzierung im Chor gezielt akzentuiert. Da sass die Obrigkeit in Stellvertretung. Für jedermann sicht- und fühlbar. Eine Variante des Bentham'schen Panoptikums.

Sitzordnung auch nach Alter und Zivilstand

Zusätzlich zu den Platzierungsregeln nach Geschlecht und Amt gab es gemäss Patteson auch noch solche nach Alter und Zivilstand:

«Immediately behind the children on either side of the aisle sat the young, or rather, the unmarried people. Folks were counted as young until they were married, and sat in the young people’s seats. On the other hand, no matter how young a youth or lady married, they had to take their place after that with the married, and be counted as “old folks”.»  (S. 129)

Verheiratete sassen also im Rücken des unverheirateten Jungvolkes und ganz vorne die Kinder. Eine weitere Überwachungsmöglichkeit.

Von solchen Regeln wissen heute noch lebende Weiacherinnen und Weiacher nicht zu berichten, wohl aber von einer bis in die 60er-Jahre hinein informell eingehaltenen Geschlechtertrennung.

Elsbeth Ziörjen erinnert sich, dass noch bis weit ins 20. Jahrhundert hinein die Frauen links und die Männer rechts vom Mittelgang sassen (aus der Sicht des Gottesdienstbesuchers). Elly Meierhofer sei die erste Frau gewesen, die sich zu ihrem Mann auf die rechte Seite gesetzt habe.

Quellen und Literatur
  • Patteson, S. L.: When I Was a Girl In Switzerland. Lothrop, Lee & Shepard Co., Boston 1921 [Elektronische Fassung auf archive.org; PDF, 11 MB] – S. 127-129.
  • Brandenberger, U.: Besitzerzertifikat für den Sitzplatz in der Kirche. WeiachBlog Nr. 233 v. Sonntag, 25. Juni 2006.
  • Persönliches Gespräch mit Elsbeth Ziörjen-Baumgartner, Präsidentin der evang.-ref. Kirchenpflege Weiach, 19. April 2020.

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