Ihre Amtsbezeichnung trug diese Frau nicht einfach so. Sie war eine für das gesellschaftliche Leben relevante Institution mit eigenem Wirkungskreis, fast so wie eine First Lady, die heutzutage in den USA auch eine eigene Abkürzung (FLOTUS), einen Twitter-Account, etc. hat. Nur eben in diesem Fall auf kommunaler Ebene.
Engagement für gute Literatur und gegen Schnaps
Ein Teil ihrer informellen Autorität leitete sich (neben dem Amt des Mannes) auch von ihrer höheren Bildung ab, denn noch bis weit ins 20. Jahrhundert hinein war es nicht sehr üblich, einer aus der bäuerlichen Lebenswelt stammenden Frau eine Ausbildung zu finanzieren, die über eine Grundausbildung hinausging. Bürgerliche Haushalte hielten es da anders. Für deren junge Frauen gab es höhere Töchterinstitute und dergleichen.
Deshalb war die Pfarrersfrau auch geradezu prädestiniert für eine führende Rolle in den frauenspezifischen Interessenvereinigungen auf kommunaler Ebene. So bei der Handarbeitsschule oder beim Frauenverein, die beide eng zusammenhingen.
Ein Blick in die Liste der Präsidentinnen des Frauenvereins Weiach zeigt das auch für das 20. Jahrhundert deutlich: mit Frau Pfr. Kilchsperger (1913–1928), Frau Pfr. Hauser (1947–1956) und Frau Pfr. Wyss (1969–1980) sind rund 35 Jahre von der jeweiligen Pfarrersfrau geprägt worden (vgl. Weiacher Geschichte(n) Nr. 59, S. 171).
Dass sie sich dabei durchaus auch mit Exponenten anderer Vereine im Dorf anlegte, zeigt der folgende Protokollausschnitt vom Dezember 1949: «Frau Pfarrer war an der Kindervorstellung des Turnvereins. Sie sagte solch schlechte Theater seien doch nichts für die Kinder, und wir möchten nun die Vereine anfragen, ob Sie in Zukunft diese Kindervorstellungen nicht weglassen möchten? Frl. Vollenweider [1906-1952 (!) Lehrerin in Weiach] unterstützte dies lebhaft. Um dies zu erreichen wurden Unterschriften gesammelt. (ca 25)» (Weiacher Geschichte(n) Nr. 59, S. 167-168).
Auch den Kampf gegen das Brennen und Trinken von Schnaps schrieben sich Pfarrfrauen durch die Jahrzehnte hinweg immer wieder auf die Fahne (so z.B. Frau Pfr. Hauser, vgl. Protokoll der Vorstandssitzung des Frauenvereins vom 13. Oktober 1948, vgl. Weiacher Geschichte(n) Nr. 59, S. 167).
Kampf gegen Lesesucht und Schundliteratur
Bereits im ausgehenden 18. Jahrhundert wurde darüber lamentiert, dass immer mehr Leute (vor allem Jugendliche und Frauen galten als Risikogruppen) zum Vergnügen wahllos lesen würden. Statt religiöse Literatur zur moralischen Stärkung zu konsultieren, werde Schädliches konsumiert, das die Leute von ihrer Arbeit abhalte, oder wie es Johann Franz Freiherr von Landsee, der fürstbischöflich-konstanzische Obervogt zu Kaiserstuhl, im Jahre 1778 ausdrückte (vgl. WeiachBlog Nr. 205):
«Jedermänniglich, wessen Stands und Alters derselbe auch seyn mag, will bey dieser Zeit lesen, und wie oft kommen einem solchen Bücher zu Handen, woraus derselbe nicht allein keinen Nutzen, sondern öfters an Religion und Sitten Schaden, und Nachtheil erwerbet?»
Die vielen neuen Bücher, die damals auf den Markt kamen, waren eben zu einem Grossteil keine religiöse Literatur mehr. Sondern Belletristik. Bücher also, die ihre Leserinnen in Traumwelten abgleiten liessen. Der Begriff der «Lesesucht» wurde geprägt (vgl. den sehr lesenswerten Wikipedia-Eintrag dazu). Mitte des 19. Jahrhunderts kam dann der Begriff der Schundliteratur auf, der seinen Bedeutungsinhalt über die Jahrzehnte bis heute mehrfach verändert hat (vgl. den Wikipedia-Artikel).
Nun zur eingangs erwähnten Autobiographie, die der Pfarrfrau auf S. 131 eine aktive Rolle bei der Entstehung der bis heute bestehenden Weiacher Gemeinde- und Schulbibliothek zuschreibt:
«Frau Pfarrer also organized among the church ladies a missionary society; and, last of all, she instituted a public circulating library.»
Auf den vorstehenden Seiten schreibt Patteson noch eindeutig von «our new Frau Pfarrer», also von Frau Pfarrer Stünzi. Ihr Mann trat sein Amt in Weiach jedoch erst 1866 an, nachdem Pfr. Schweizer im Oktober 1865 plötzlich verstorben war.
Wenn es sich bei dieser «public circulating library» nicht um eine Konkurrenzgründung gehandelt hat, was sehr unwahrscheinlich ist, oder die Bibliothek erst mehrere Jahre nach der Gründung den aktiven Betrieb aufnahm, dann muss aufgrund des Gründungsdatums der Weiacher Jugend- und Volksbibliothek (Schuljahr 1861/62; Annahme durch Schulpflege am 3. Januar 1862) angenommen werden, dass die als Mitbegründerin genannte Frau Pfarrer deren Vorgängerin war: Katharina Schweizer, geborene Wipf. Hier hat Patteson nach mehr als 50 Jahren möglicherweise etwas durcheinandergebracht.
Sob-stuff!
Die folgende Passage Pattesons (ebenfalls von S. 131) liest sich wie eine Begründung für die Einrichtung einer Volksbibliothek, in der gute Schriften (wie man das damals nannte) verfügbar sind:
«Previous to the establishment of the library I just read whatever I happened to find. I think that the public mind, juvenile and adult, was fed all sorts of sensational stuff. I remember reading one story entitled “Genoveva”, which retailed the marital unhappiness of a woman whose jealous husband had banished her to a forest. There was nothing at all in the book to feed a child’s aspirations, nor to stimulate wholesome imagination. It was just a mass of “sob-stuff”, but it passed as a children’s book. Another book I remember reading at that time (it had only a paper cover) detailed the life history of a man who had poisoned his father and mother, and who was condemned to death. I even remember his name, Jacob Furrer, and the fact that he was a butcher’s apprentice, and much more that need not be told here. All this rubbish was impressed on a young mind which was eager for better things. And what a lasting impression it made! Over fifty years have elapsed, and the narrative is as fresh in my mind as if it had been read yesterday.»
Der Begriff «sob-stuff» wird im Cambridge Dictionary mit «spoken or written stories that are intended to cause very sad feelings» erläutert. Solche Printprodukte wurden oft über den Kolportagebuchhandel vertrieben, d.h. von Hausierern für wenig Geld verkauft. Am besten laufen natürlich reisserische Geschichten, wie die von einem jungen Metzgerlehrling, der seine Eltern umbringt. Louise Patteson hat wohl so ein Schriftchen über den Fall Johann Heinrich Furrer aus dem Zürcher Oberland gelesen (vgl. Quellen und Verweise unten). Schriften zu diesem aufwühlenden Doppelmord mit Todesurteil und nachfolgender, heftig diskutierter Begnadigung dürften sich bestens verkauft haben.
Patteson erklärt im weiteren Verlauf auch, wo sie diesen «sob-stuff» verschlungen hatte, nämlich auf dem Kachelofen, der auch als Brotbackofen diente:
«I recall that when I read that story I was staying home from school because I had the mumps. Could it be this fact made me more impressionable? I was nursing myself on top of the hospitable tile stove, which is an integral part of every Swiss living-room. The tile stove with a feather-bed on top was the usual refuge for any member of the family who had a slight indisposition.
The firing of the tile stove was done in the kitchen, just on the other side of the wall. On baking day the ashes were scrupulously removed and the ten to twelve big loaves of rye bread lifted in, one at a time, on a wooden spade, and slid off on the bare stone bottom. This made wonderfully savory bread. The cooking range was beside the oven door, and overhead in the sooty chimney hung the hams, sausages, bacon, etc., being “smoked”.»
Ein Pädagoge und zwei Malerinnen des ausgehenden 18. Jahrhunderts
Etwas weiter hinten (S. 133-135) beschreibt die Autorin, welche Erkenntnisse sie dank der «guten Literatur» in der Weiacher Bibliothek gewinnen konnte:
«After the library was opened we children had access to the best of children’s books. I remember reading at that time, and also hearing discussed in the family, Pestalozzi’s famous classic, “Leonard and Gertrude”.»
Gemeint ist Johann Heinrich Pestalozzis Lienhard und Gertrud. Ein Buch für das Volk von 1781. Der Hauptprotagonist Lienhard lässt sich zu oft zu Wirtshausbesuchen verführen, was seine ganze Familie in Schwierigkeiten bringt. Womit wir wieder beim Thema Alkohol wären.
«There was also circulation of excellent magazines. I recall seeing in magazines and poring over with pride and admiration pictures of some of my distinguished countrywomen, including Miss Angelica Kauffmann. This was a revelation to me. Up to that time I had never had but one woman teacher, and she only teacher of sewing. I had never known but one woman to visit a school, our Frau Pfarrer in the sewing-school. I had never seen a woman inside of our regular schoolrooms except to sweep and to dust and to scrub. I had never seen a woman in the church except on similar errands, or as a humble worshiper. We did not even have women to teach in the Sunday School. Naturally I was surprised and delighted to learn that Switzerland had two world-famed artists in Angelica Kauffmann and Mary Moser.»
«Da sieht man, was Lesen im Kopf einer Frau anrichten kann!», würde Freiherr von Landsee einwerfen. Und sich dann damit beruhigen, dass Louise Patteson in ihrem Leben doch nicht alles verkehrt gemacht hat, Gemeindebibliothek sei Dank.
«I was further surprised and delighted to learn that the brilliant Madame de Stael was of Swiss birth and parentage. In magazines I also saw for the first time pictures of Pestalozzi and of Zwingli and other Swiss notables.
How much I owe to our good Frau Pfarrer for the part she had in establishing that first public library in our village may never be exactly determined. I do know that the first paper I ever read before a women’s club was on the life of Angelica Kauffmann. And I became so interested as time went on in the life-work of Pestalozzi, that the first return to my native land was primarily to visit all the places where he had lived and taught. I believe much, if not all, of this is due to the unostentatious labors of our good Frau Pfarrer in the little village of Weiach on the Rhine.»
Womit die Gründerinnen und Gründer unserer Gemeindebibliothek von ennet dem grossen Teich postum ein dickes Lob einfahren durften, das bis heute seinen Nachhall hat. Einige der ersten Bücher, die in dieser Bibliothek auflagen, sind übrigens heute Teil der Sammlung des Ortsmuseums Weiach.
Quellen und Verweise
- Johann Heinrich Furrer. (Der Mörder seiner Aeltern) Canton Zürich 1864. In: Der Neue Pitaval. Eine Sammlung der interessantesten Criminalgeschichten aller Länder aus älterer und neuerer Zeit. Begründet vom Criminaldirector Dr. J. E. Hitzig und Dr. W. Häring (W. Alexis). Fortgesetzt von Dr. A. Bollert. Neue Serie. Zweiter Band. Arnstadt 1867.
- S. Louise Patteson: When I Was a Girl In Switzerland. Lothrop, Lee & Shepard Co., Boston 1921 [Elektronische Fassung auf archive.org; PDF, 11 MB] – S. 131, 133-135.
- Süess, P.: Eine Wurst, Arsen und die Todesstrafe: Der Fall Furrer. Blog Nationalmuseum, 16. Juli 2024.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen