Sonntag, 7. Januar 2024

Zur Frage der Konfessionsidentität der Wyacher um 1540

Im neuen Kunstdenkmälerband (vgl. Rezension in WeiachBlog Nr. 2021) schreibt Philipp Zwyssig über die Zeit kurz nach der Reformation unter Zwingli:

«Die konfessionellen Grenzen waren in mancher Hinsicht noch nicht scharf gezogen: Während vermutlich bereits in den 1520er Jahren Zürcher Prädikanten zeitweise in Weiach präsent waren, schien die Frage der Konfessionszugehörigkeit noch um 1540 nicht endgültig entschieden.» (KdS 146, S. 477)

In der Anmerkung zum zweiten Satzteil verweist der Autor auf die laut Überlieferung in diesem Jahr erhobene Forderung der Wyacher nach einem ihnen fix zugeteilten Pfarrer, der bei ihnen im Dorf predigen sollte (entweder in der alten Kapelle beim Bedmen oder bereits in der Kirche im Oberdorf, auf die sich ein Eintrag in den Zürcher Ratsmanualen beziehen könnte, vgl. WeiachBlog Nr. 1555).

Wyach legte einen möglichen kollektiven Glaubensabfall auf den Verhandlungstisch. Das war de facto die Drohung mit einem Angriff auf das Reputationskapital von Bürgermeister und Rat der Stadt Zürich (der Regierung des Zürcher Stadtstaates), die auf die Reformationskarte gesetzt hatten. 

Glaubwürdig war diese Drohung aber nur dann, wenn es tatsächlich auch etliche Einwohner gab, die katholisch bleiben wollten. Davon ist aber auszugehen. Bekannt ist nämlich, dass es in der Stadt Zürich etliche Altgläubige gab. Und wie wir wissen, sind beim römischen Bekenntnis verbleibende Zürcher auch von der Landschaft u.a. in katholische Gebiete der Grafschaft Baden im heutigen Aargaus ausgewichen und haben dort in der Folge z.T. wichtige Positionen bekleidet.

Der Anfang der Zementierung

Das Umfeld der Frage, ob es so gewesen ist, dass die Konfessionszugehörigkeit noch nicht entschieden war, ist allerdings ein ziemlich vielschichtiges. 

Einerseits ist es tatsächlich so, dass im Reichsverband, dem sich die Eidgenossen auch nach dem für sie siegreichen Schwabenkrieg 1499 gegen König Maximilian I. noch verbunden fühlten, das Prinzip Cuius regio, eius religio erst in den 1550er Jahren festgelegt wurde (der Begriff noch einige Jahrzehnte später; vgl. den Abschnitt Rechtssatz im Wikipedia-Beitrag). Bis dahin konnte man also auch noch als Zürcher in guten Treuen katholisch sein.

Andererseits war es wohl spätestens kurz nach den Kappelerkriegen (1529 und 1531) gegen die katholisch gebliebenen Innerschweizer soweit, dass sich rasch so etwas wie eine dezidiert zürcherische Religionsidentität zu verfestigen begann. Eine deutliche Abgrenzung von den Katholiken, wobei man sich im Besitze der wahren Lehre sah (für die die katholische Kirche faktisch bis heute den Alleinvertretungsanspruch erhebt; vgl. Syllabus errorum, These 18). Das geht ja auch aus dem überlieferten Text hervor. 

Die Frage, was man zu tun gedenke, wenn man keinen eigenen Pfarrer bekomme und nach Stadel in den Gottesdienst müsse, wird nämlich vorsorglich wie folgt beantwortet: «ee giengend (wir) nach Keyserstuhl und achtend nüt der waarenn Leer»! Das bedeutete, dass man im rekatholisierten Kaiserstuhl die Messe besuchen wollte.

Wer hat die Petition an den Rat geschrieben? Ein Pfarrer?

Nun ist aber gerade bei diesem Text, der sich wie der Originalton einer Petition der Wyacher anhört, bislang nicht geklärt, wer ihn tatsächlich verfasst hat. Eine eigentliche Quellenkritik, d.h. der Versuch, die offenen und versteckten Intentionen der Verfasser zu ergründen und ihn damit in den Kontext zu stellen, kann daher nur hypothetisch vorgenommen werden. In den Beständen der Ratsmanuale wird man den Text nicht mehr finden, da ausgerechnet derjenige Band, der das Jahr 1540 enthalten hat, bereits seit dem 18. Jahrhundert verschollen ist. 

Martin Leonhard hat die Vermutung geäussert, es könnte sich um eine rein chronikalische Überlieferung handeln. Die Frage ist dann allerdings immer noch, wo der Chronist das Original herhat.

Und so könnte es durchaus sein, dass nicht die Wyacher selber diese doch ziemlich kämpferisch-unbotmässige, ja aus der Sicht einer sich konsolidierenden Landesherrschaft geradezu sezessionistische Botschaft an den Rat verfasst haben. Sondern ein Leutpriester, wobei in erster Linie Kaplan Anthony Wyszhoupt aus Bülach in Frage kommt. Der war nach der Abspaltung der Stadler, Windlacher und Raater von der Kirche in Obersteinmaur für die Seelsorge in Stadel zuständig und deshalb wollten ihm die Landesherren (Bürgermeister und Rat der Stadt Zürich) auch gleich die Wyacher zuteilen.

Wyszhoupt dürfte am ehesten von der Unzufriedenheit seiner ennet dem Kistenpass lebenden Schäflein wider Willen gehört haben und daher besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass er es war, der das Anliegen verschriftlicht und (wohl im Auftrag der Wyacher) nach Zürich übermittelt hat. Das kann man beispielsweise aus der Formulierung von der «wahren Lehre» herauslesen. Hätten die Wyacher Landwirte und Handwerker so geredet? Eher schreibt so ein Geistlicher, der damit gegenüber der Obrigkeit auch gleich seine (und der Untertanen) Loyalität zum neuen Bekenntnis unterstreicht. 

Wenn es so war, dann ist die Eingabe mutmasslich über den Dienstweg erfolgt, d.h. über den Antistes an die Regierung. Damit könnte es durchaus sein, dass die genannte Passage Teil der sogenannten Fürträge des Antistes an den Rat war.

Ein neues Suchfeld tut sich auf

Womit wir eine Rückblende in die Zeit vor der Corona-Pandemie machen können, als der Verfasser dieser Zeilen der Herkunftsfrage schon einmal nachgegangen war (vgl. Brandenberger, U.: Fahndung nach Originalquelle «Weiacher Drohung 1540». WeiachBlog Nr. 1546, 17. Juli 2020).

Im damaligen Beitrag ist lediglich die Rede von Beständen aus dem Alten Hauptarchiv (Abteilungen A Akten, B Bücher und C Urkunden). Völlig aussen vor gelassen wurden die Quellen aus den Alten Nebenarchiven, namentlich die der kirchlichen Seite, d.h. die Abteilung E, sog. Kirchenarchiv.

Die Transkription, die uns Pfr. Kilchsperger in seinem Vortrag zur Geschichte der Gemeinde Weiach (nach 1910 entstanden; vgl. Wiachiana Fontes Bd. 6; in Vorbereitung) überliefert, würde dann einem bislang nicht mehr aufgefundenen Exzerpt seines Vorgängers (Pfr. Wipf) entstammen, auf das sich Zollinger 1972 indirekt bezieht.

Was auch Sinn macht. Denn Pfarrer interessieren sich schon aus beruflichen Gründen für solche Abläufe und entsprechende Dossiers. Dieses wäre dann im sog. Antistitialarchiv, dem Fonds E II des Staatsarchivs, zu finden. Dort gibt es den Band StAZH E II 102, «Fürträge und Bedenken der Geistlichkeit», eine Sammlung von Eingaben der Pfarrer und ihres Chef, des Antistes, an Bürgermeister und Rat (d.h. die Regierung des Zürcher Staates), mit Einträgen ab 1538. 

Weiterer Kandidat im selben Fonds, bereits unter Pfrundsachen: StAZH E II 107. «Epistolae ecclesiasticae, das ist zusammen verfassete Missiv-Schrifften, sidert der Religions-reformation abgangen in Sachen, so das Collatur- und Kilchenwesen betreffend ...». Diese Sammlung wurde durch den Stadtschreiber Johann Heinrich Waser 1644 erstellt und anschliessend weitergeführt (die Einträge betreffen die Jahre 1535 bis 1754).

Quelle

  • Crottet, R.; Kerstan, A.; Zwyssig, Ph.: Der Bezirk Dielsdorf. Reihe: Die Kunstdenkmäler des Kantons Zürich, Neue Ausgabe VII. (zugl.: Die Kunstdenkmäler der Schweiz (KdS), Band 146). Bern 2023 – S. 477.

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