Mittwoch, 1. September 2021

Änderte im Jahre 1370 die kirchliche Unterstellung von Weiach?

Dr. Paul Kläui (1908-1964), Professor für zürcherische Geschichte an der Uni Zürich, darf man ohne zu zögern als eine der Koryphäen der regionalen Geschichtsschreibung bezeichnen. Die Leser der Weiacher Geschichte(n) haben diesen Namen mit der Nr. 90 aufgeschnappt, als es um die Frage ging, ob in einer Urkunde von 1381 tatsächlich ein Kirchhof zu Weiach erwähnt ist (wie Ortschronist Walter Zollinger wissen wollte) oder eben nicht (so u.a. Paul Kläui). Das Regest des Fachhistorikers erwies sich als korrekt. Nun ist aber auch ein Professor nur ein Mensch, dem Fehler unterlaufen. In einem anderen Zweifelsfall der Weiacher Geschichte (in dem es ebenfalls um Kirchliches geht) hat Kläui geschnitzert.

Zu welchem Dekanat Weiach gehört hat

In Zollingers sog. Chronik, dem 1972 erschienenen blauen Büchlein mit dem Titel «Aus der Vergangenheit des Dorfes Weiach» liest man: «Bis 1370 gehörte Weiach zum katholischen Dekanat Hohentengen, mit Kaiserstuhl als Filialkirche, nach 1370 teilweise zum Dekanat Regensberg, das aber immer noch Konstanz unterstand.» (S. 29) 

Als Quelle gibt Zollinger in Anmerkung 35: «Aargauer Urkundenbuch, Band XIII, Seite 11, und Dr. P. Kläui im Aargauer Heimatbuch, Band 2, Kaiserstuhl, Seite 13.» Gemeint ist wohl Bd. 2 der Reihe Aargauische Heimatführer, vgl. WeiachBlog Nr. 1597.

Woher stammt diese seltsame Zäsur mit Zugehörigkeit Weiachs zum Dekanat Hohentengen vor 1370 und zum Dekanat Regensberg nach 1370? Und das dann auch nur teilweise?

Ein Jubiläums-Atlas als Fehlerquelle

Wie aus Zollingers eigenen handschriftlichen Notizen hervorgeht (Heft I Zgr., S. 5; sog. «Schulhefte»-Reihe im Archiv des Ortsmuseums Weiach) ist eine seiner Quellen auch der «Atlas z. Geschichte des Kt. Zürich». Damit kann nur das grossformatige Werk von Paul Kläui und Eduard Imhof gemeint sein (Hrsg. vom Regierungsrat des Kantons Zürich zur 600-Jahrfeier von Zürichs Eintritt in den Bund der Eidgenossen, 1351-1951; vgl. Quellen unten).

Zollinger notierte in sein Heft: «Kirchl. Verhältnisse: Vor 1370 z. Dekanat Hohentengen  mit K'stuhl als Filialkirche. (Dekanat Eglisau?).  Nach 1370 Dekanat Regensberg als Filiale von Steinmaur (wie Stadel & Bachs).»

Gehen wir im Atlas zur Geschichte des Kantons Zürich auf Spurensuche, so zeigt die Tafel 16 «Kirchgemeinden im Jahre 1370» im Kartenteil Weiach als Teil der alten Grosspfarrei Hohentengen (Bild unten). Eingezeichnet als Hohentengen im Filialverhältnis zugeordnete «Kapellen» sind Kaiserstuhl und Glattfelden (wozu ab der Abspaltung als selbstständige Pfarrei 1421 neben Rheinsfelden und Zweidlen auch Seglingen und Tössriedern gehörten). Ebenso zur Pfarrei Hohentengen zugehörig waren gemäss Kläuis Karte Wasterkingen und Herdern. Nicht als dazugehörend erscheinen hingegen Fisibach, Lienheim, Bergöschingen, Stetten und Günzgen. 

Die Beschreibung zur Tafel 16 auf den Seiten 40-41 des Atlas (Bild unten) macht bezüglich Weiach allerdings völlig andere Angaben! Zum «Dekanat Regensberg (früher Kloten)» gehörten gemäss Kläuis Kommentar «Steinmaur mit Filialen Bachs, Neerach, Stadel und Weiach». Kläui gibt für Steinmaur auch die Kollaturverhältnisse an: «Deutsches Reich [Fn-1], verliehen an Herren von Landenberg-Greifensee.» Die Fussnote 1 lautet: «Als Reichslehen erst 1434 und 1442 belegt; ob es sich wie bei Buchs um ein altes Reichslehen handelt, oder ob die Kollatur bis 1415 habsburgisch war, läßt sich nicht sicher entscheiden.»

Wie es zu einer solchen Diskrepanz kommen kann? Möglicherweise hat Kläui zu einem bestimmten Zeitpunkt die auf der Karte zum Ausdruck kommende Unterstellung angenommen, zu einem anderen aber die im Kommentar stehende für glaubhafter gehalten. Und dann später in der Redaktionsphase vergessen, eine der beiden Auffassungen fallen zu lassen.

Der Liber marcarum kennt Weiach nicht

Aus diesen beiden für den eigentlich gemeinten Zeitpunkt 1370 sich gegenseitig ausschliessenden Angaben Kläuis hat Zollinger in seinen Notizen und später in der gedruckten Publikation eine ganz eigene Interpretation konstruiert: ein Übergang von einem Dekanat zum anderen.

Man muss Zollinger hier insofern in Schutz nehmen, als Kläui massgeblich zur Verwirrung beigetragen hat. Weiach um 1370 als Filiale von Steinmaur anzusprechen, wie es der Kommentar zu Tafel 16 (S. 41) macht, ist nur schon deshalb nicht zulässig, weil das von Kläui herangezogene Verzeichnis des Bistums Konstanz, der Liber marcarum selber (vgl. Freiburger Diöcesan-Archiv 5 (1870), S. 66-112) unter dem «Decanatus Regensperg» explizit vermerkt: «Steinimur cum filiabus Nerrach, Obernvisibach, Stadeln et Windlach» (laut S. 79). Da steht kein Wort von Weiach!

Die einzige klar Zollinger zuzuordnende Fehleinschätzung ist also die Auffassung von 1370 als einem Wendepunkt. Dabei ist die Jahrzahl 1370 (wie Kläui im Kommentar zum Atlas klarmacht) nur ein Verweis auf die Momentaufnahme, die im Liber marcarum, der um dieses Jahr herum entstand, festgehalten ist.

Wichtig ist auch die im Zusammenhang mit einem früheren Verzeichnis der Diözese Konstanz, dem Liber decimationis, der von Kläui eingebrachte quellenkritische Hinweis (vgl. Tafel 15 und Kommentar S. 38-39), dass arme Kirchen und Filial-Kapellen, sowie solche von steuerfreien Eigentümern, gar nicht aufgeführt wurden. Ersteres könnte auch für die Weiacher Kapelle zutreffen, sofern es sie schon so früh gegeben hat. Kläui nimmt aber an, es habe erst ab dem 15. Jahrhundert eine gegeben (vgl. WeiachBlog Nr. 1390)

Was sonst noch gegen einen Pfarreiwechsel spricht

Damit erübrigen sich Spekulationen, wie diese angebliche teilweise Zugehörigkeit zum Dekanat Regensberg konkret ausgesehen habe, eigentlich schon. Auch eine Konsultation von Heinrich Hedingers Artikeln zur Kirchengeschichte des Bezirkes Dielsdorf im Kirchenboten des Kantons Zürich 1930/31 ist nicht zwingend notwendig. Da in WeiachBlog diese Frage allerdings bereits 2007 gestellt wurde und der Schreibende seiner Verwunderung darüber Ausdruck verliehen hat (vgl. nachstehendes Zitat), sei trotzdem darauf eingegangen:

«Dass Weiach seit alters her kirchlich zur Marienkirche in Hohentengen gehört hat, ist unbestritten. Das Dekanat wurde jeweils nach dem Sitz des Dekans benannt und hiess daher ab und zu auch anders, z.B. Dekanat Neunkirch. Was ich nicht ganz begreife ist, aus welchen Gründen das Gebiet von Weiach (als Teil der Pfarrei Hohentengen) schon um 1370 das Dekanat gewechselt haben soll. Normalerweise waren solche Dekanatsgrenzen über Jahrhunderte hinweg denkbar stabil. Ohne Notwendigkeit wurde da seitens der Bistümer nichts geändert. Bisher habe ich jedenfalls keinen Quellen-Beleg gefunden, der einen (auch nur teilweisen) Wechsel zum Dekanat Regensberg plausibel machen würde. Sicher erklärbar wird er erst durch die Ablösung im Zuge der Reformation.» (Aus: WeiachBlog Nr. 453; s. Quellen)

Zu diesen Überlegungen treten noch weitere hinzu. Da ist einerseits der Umstand, dass Weiach (mit damals noch wesentlich kleinerer Bevölkerungszahl als zur Zeit der Reformation) ohne Dotation eines ausreichend grossen Pfrundgutes gar keinen eigenen Pfarrer finanzieren konnte. 

Wäre also 1370, wie von Zollinger behauptet, allein das Dorf Weiach vom Dekanat Hohentengen zum Dekanat Regensberg transferiert worden, dann müsste man für Wyach den Anschluss an eine andere Kirchgemeinde vorgesehen haben (wie von Kläui im Kommentar zum Atlas angedacht). Zu diesem Zeitpunkt aber gab es die Kirchgemeinde Glattfelden noch nicht (erst 1421 gegründet; Kollator: Fürstbischof von Konstanz). 

Im Dekanat Regensberg existierte südlich von Weiach nur die Pfarrei Steinmaur mit den Filialkapellen Neerach, Stadel, Windlach und Obervisibach (d.h. Bachs), wie dem Liber marcarum entnommen werden kann (vgl. oben Freiburger Diöcesan-Archiv, Band 5 (1870), S. 79). 

Hätte Weiach also tatsächlich 1370 das Dekanat gewechselt, so hätte es am ehesten zu einer Steinmaurer Filialkapelle werden müssen, wobei Steinmaur seinerseits zur Kirche Dielsdorf gehörte.

Denkbar stabile Dekanatsgrenzen?

Dass die Dekanatsgrenzen stabil (und quasi unverrückbar) gewesen wären, wie der Autor dieser Zeilen 2007 behauptet hat, ist allerdings in dieser Bestimmtheit auch nicht richtig. So schreibt Kläui im Kommentar zur Tafel 15 (Klöster und Kirchen im Jahre 1275):

«Da die Pfarrei auf der persönlichen Beziehung von Kirche und Pfarrgenosse beruht, so gibt es ursprünglich auch keine fest umgrenzten Kirchgemeinden. Besonders grundherrliche Kirchengründungen beruhten auf dem Personalprinzip, so daß eine räumliche Ausscheidung nicht möglich ist. [...] Zur ungefähren Bestimmung des Pastorationsgebietes der einzelnen Pfarrkirchen kann trotzdem die Karte von 1370 [gemeint: die Tafel 16, welche diese Verhältnisse von 1370 abbildet] herangezogen werden. Die Dekanatsgrenzen sind nicht als lineare Grenzen aufzufassen, sondern als Scheiden zwischen den Pfarrkirchen; sie mußten aber aus zeichnerischen Gründen an die heutigen Gemeindegrenzen gelegt werden.» (S. 39).

Hinweise

1. Dieser Artikel ist eine Ausarbeitung der in Anmerkung 37 zur Wiachiana Fontes Bd. 5, Ausgabe August 2021, gemachten Ausführungen. Link vgl. Quellen und Literatur.

2. Die noch von Zollinger stammende Passage über den Dekanatswechsel im Jahre 1370 wurde ab Version 6.40 aus der ortsgeschichtlichen Monographie Weiach – Aus der Geschichte eines Unterländer Dorfes gestrichen. Link vgl. Quellen und Literatur.

Quellen und Literatur

  • Kläui, P.; Imhof, E.: Atlas zur Geschichte des Kantons Zürich. Hrsg. vom Regierungsrat des Kantons Zürich zur 600-Jahrfeier von Zürichs Eintritt in den Bund der Eidgenossen, 1351-1951. Zweite, durchgesehene Auflage, Zürich 1951.
  • Zollinger, W.: Heft "Weiach Zgr. I" (Aussensigel). Innentitel «Notizen zur "Geschichte des Unterländer Dorfes Weiach"». [Undatiertes Manuskript, nach 1951] – S. 5.
  • Brandenberger, U.: Ein alter NZZ-Artikel unter der Lupe. WeiachBlog Nr. 453 v. 11. Mai 2007.
  • Brandenberger, U. (Bearb.): 1271 – 1971. Ansprache zum 1. August 1971. Vortragsnotizen von Walter Zollinger. Wiachiana Fontes Bd. 5, Quellenedition August 2021 – S. 13. (PDF, 4354 KB)
  • Brandenberger U.: Weiach – Aus der Geschichte eines Unterländer Dorfes, 6. Aufl., V 6.40, August 2021 – S. 31-32. (PDF, 15762 KB)

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