Montag, 9. September 2024

«Amerikanische Luftgangster», revisited. Zum 80. Jahrestag.

««Ich erinnere mich, als ob dies alles erst vor kurzem geschehen wäre.» Mit diesen Worten beginnt die Weiacher Zeitzeugin von den Ereignissen des 9. September 1944 zu erzählen. Es war der Tag, als die US-Luftwaffe in Weiach und Rafz Güterzüge beschoss und mehrere SBB-Angestellte zum Teil schwer verletzte.»

So beginnt der Artikel von Ben Kron, Redaktor beim Tages-Anzeiger Unterland der am 21. August 2008 erschienen ist. Die Zeitzeugin war Mina Moser (1911-2017; vgl. WeiachBlog Nr. 1349). Kron weiter:

«Am 9. September 1944 war sie zu Hause, als sie durchs Fenster tief fliegende Flugzeuge sah, die aus ihren Bordwaffen schossen. «Zuerst dachte ich, dass sie gegeneinander kämpfen.» Wenig später sei aber ihr Bruder heimgekehrt und habe erzählt, dass die Flieger beim Bahnhof Weiach einen Güterzug beschossen hätten. [...] «Auch an den Schienen sah man Einschusslöcher von den Kugeln», so die Weiacherin.»

Das ist Oral History par excellence. Zeitgeschichte direkt aus dem Munde derjenigen, die persönlich dabei gewesen sind. Oder in unmittelbarer Nähe, wie Mina.

Die Weltgeschichte schlägt zu

Auch Geschichten über Geschichte haben nach einiger Zeit ihre Geschichte. Vor bald 25 Jahren hat der Tages-Anzeiger in der Reihe «Rund um den Kanton» einen Artikel von Christoph Schilling mit dem Titel: «Ein Ausflug in die Atom-Zone 2. Kaiserstuhl ist Grenzgebiet» publiziert:

«Später wurde es um die Gegend ein bisschen ruhig. Doch im Zweiten Weltkrieg streifte Weltgeschichte die Region. Zum Beispiel in Form von vier amerikanischen Jagdbombern, die im September 1944 im Weiacher Feld einen SBB-Güterzug beschossen. Die Flugzeuge kamen vom Rafzerfeld her und setzten viermal zum Angriff an. Die Dampflok mit den 13 Wagen erhielt 71 Treffer, Zugführer und Heizer wurden schwer verwundet.»  (Tages-Anzeiger, 3. August 2000)

Blocherrede warf ihre Schatten voraus

Sein Berufskollege Wüthrich hat den Beitrag in der Schweizerischen Mediendatenbank SMD gefunden und für einen Blick-Artikel über eine bevorstehende Rede von Bundesrat Christoph Blocher in Rafz verwurstet:

«Das Rafzerfeld war im September 1944 auch Ausgangspunkt eines Angriffs von vier amerikanischen Jagdbombern auf einen SBB-Güterzug bei Weiach. Die Flugzeuge kamen vom Rafzerfeld her und setzten viermal zum Angriff an. Die Dampflok und die 14 Güterwagen erhielten mehr als 70 Treffer. Der Lokführer und der Heizer wurden schwer verwundet.» (Blick, 6. Mai 2005)

So schnell wird im «Blocher-Fieber» aus einem «Zugführer» also ein «Lokführer» (was beleibe nicht dasselbe ist!) und geschehen überdies noch wundersame Wagen-Vermehrungen. Wenn man sich als Blick-Journi schon so offensichtlich bei seinem Tagi-Kollegen bedient, dann sollte man wenigstens korrekt kopieren.

Andere Literatur ignoriert

Nun ist es keineswegs so, dass es keine anderen Artikel zum Thema gegeben hätte. 

(1) Wüthrichs Berufskollege Riedel war im Jahr zuvor im Zürcher Staatsarchiv und hat in einem Rapport der Kantonspolizei Zürich auch entsprechende Fotos gefunden. Er spricht – wie Schilling – von 13 Wagen. Und mindestens einer davon war ein Personenwagen, kein Güterwagen. Vgl. Riedel, S.: «Ungebildete Luftgangster». Rafz / Weiach. Versehentlich SBB-Züge beschossen. (Blickpunkt Region). In: Zürcher Unterländer, 9. September 2004 – S. 5. Bei diesem Dossier dürfte es sich um einen Teilbereich von StAZH N 1102.4 handeln, der noch bis 31. Dezember 2024 der Schutzfrist untersteht.

(2) Auch die Nr. 41 der Reihe Weiacher Geschichte(n) war bereits online verfügbar, damals noch auf der Geocities-Plattform. Dort wird aus der zeitgenössischen Tagespresse zitiert, die aufgrund von Augenzeugenberichten kolportieren, die US-Jagdflugzeuge hätten dreimal zum Angriff angesetzt. (vgl. den Artikel: Weiacher Geschichte(n) Nr. 41.)

Entgegen der Behauptung von Wüthrich wurde – laut den unmittelbar nach dem Ereignis publizierten Augenzeugenberichten – der Lokführer nur leicht verwundet, der Zugführer und der Heizer hingegen schwer. Vgl. Weiacher Geschichte(n) 41, S. 86: Schwerverletzte: Zugführer Wuhrmann u. Heizer Hösli; Leichtverletzte Lokführer u. Kondukteur (bzw. Kondukteursaspirant je nach Quelle). 

Auf welche Quellen stützte sich Schilling?

Das hat Schilling in seinem Atomzone-Artikel richtig beschrieben. Stellt sich die Frage: Woher wusste er das? Haben die Kaiserstuhler in ihren Archiven entsprechende Unterlagen? Der zum Zeitpunkt der Blocherrede für den Schweizerischen Beobachter tätige Schilling bestätigte den Abkupferungsvorgang indirekt mit den Worten: «Seit im Schweizer Journalismus praktisch allen Redaktionen die SMD [...] zur Verfügung steht, wird einander abgeschrieben, dass es nur so klöpft.»

Er könne sich leider nicht mehr daran erinnern, wo er die Informationen herhabe, verwies jedoch auf die Standardwerke zur Geschichte des Kantons Zürich (GKZ; 3 Bde.) sowie die Geschichte des Kantons Aargau von Gautschi (vgl. Links unten, sowie Quellen und Literatur).

Gang in die Zentralbibliothek

Der Autor der Weiacher Geschichte(n) – damals gab es den WeiachBlog noch gar nicht – begab sich daraufhin am 8. Juni desselben Jahres in die Zentralbibliothek Zürich. Und konnte Schilling Bericht erstatten:

«Sie erinnern sich offensichtlich noch sehr genau. Von der GKZ Bd. 3 erwartete ich solche Angaben weniger, zumal ich die Standardwerke zur Geschichte des Kantons Zürich schon ziemlich genau durchforstet habe (jedenfalls soweit ein Index [erg.: mit dem Stichwort Weiach] vorhanden war).

Meine heutigen Nachforschungen in der Zentralbibliothek haben das auch bestätigt. Die Passagen über Kriegszerstörungen betreffen vor allem die Bombenangriffe auf Zürich
[...].

Dass Gautschi auch einen Band der Geschichte des Kantons Aargau verfasst hat, wusste ich bisher nicht. Ich habe ein interessantes und flüssig geschriebenes Werk kennengelernt (unterschätze nie die Standardwerke über Nachbargebiete) und Sie haben mit ihrer Vermutung  passend zum Thema  einen Volltreffer gelandet.»

Wie ein Angriff im Kanton Zürich zum Aargauer Thema wurde

Die Quelle für den Tagi-Artikel aus dem Jahre 2000 dürfte Gautschis Band III 1885-1953 sein, Kapitel 30, Grenzverletzungen und Kriegsschäden, Seite 482:

«Die schwersten Neutralitätsverletzungen auf Aargauergebiet ereigneten sich in den letzten Kriegsmonaten, als die Luftüberlegenheit der Allierten derart drückend war, dass sie es sich leisten konnten, am hellen Tage mit Bombern und Jagdflugzeugen lohnende Ziele im deutschen Grenzgebiet anzugreifen, wobei mehrmals die Schweizer Grenze unbeachtet blieb.

So wurde am Samstag, 9. September 1944, um die Mittagszeit, auf der Strecke KaiserstuhlZweidlen ZH ein SBB-Güterzug durch vier amerikanische Jagdflugzeuge mit Bordwaffen schwer beschossen. Die Flugzeuge kamen aus der Gegend des Rafzerfeldes und setzten viermal zum Angriff an. Die Zugskomposition, die aus einer Dampflokomotive und 13 Wagen bestand, erhielt 71 Treffer, wovon 28 in die Lokomotive. Vom Personal wurden der Zugführer und der Heizer schwer verwundet; zwei weitere Personen erlitten leichtere Verletzungen.»

Es gab einst eine Polizeistation Kaiserstuhl

Wäre diese Beschreibung nicht noch von vielen weiteren Vorfällen umgeben, die wirklich auf Aargauer Territorium erfolgten, müsste man Gautschi mangelnde Geographiekenntnisse ankreiden. Zum Zeitpunkt des Angriffs fuhr der Zug nämlich klar auf Zürcher Gebiet. Dass es dennoch einen Aargauer Bezug gibt, hat mit dem Verfasser des der Schilderung zugrundeliegenden Rapports zu tun. 

Die zu obigem Lauftext gehörende Anmerkung 14 auf S. 624 gibt nämlich folgende Quellenangabe: «Polizeistation Kaiserstuhl (Bugmann) an Polizeikommando; Kaiserstuhl, 10. September 1944. PKAr.» [= Polizeikommando-Archiv, Aarau]

Der Zürcher Kantonspolizist Bill hatte also 1944 einen Aargauer Kollegen namens Bugmann, der in Kaiserstuhl stationiert war und seinerseits ebenfalls einen Bericht an seine Vorgesetzten verfasst hat.

Wieviele Treffer waren es?

Laut dem Rapport der Polizeistation Kaiserstuhl (Bugmann) waren es 71 Treffer. Der Rapport der Polizeistation Weiach (mutm. Pol Sdt Bill) spricht hingegen laut der Literatur von 77 Treffern:

«Unmittelbar nach dieser Attacke [auf einen Güterzug zwischen Lottstetten und Rafz] beschossen vier amerikanische Kampfflugzeuge zwischen 13.03 und 13.05 Uhr einen weiteren Güterzug, der mit einer Dampflokomotive von Weiach-Kaiserstuhl nach Zweidlen unterwegs war. 77 Geschosse trafen die aus 12 Güterwagen und einem Personenwagen bestehende Zugskomposition. Auch dieser Angriff verletzte vier Personen und richtete beträchtlichen Sachschaden an.» (Gut 2003, S. 336; Kapitel 5.3.3 Luftangriff auf einen Güterzug bei Rafz (1944); sowie Fn-69)

Interessanterweise ist hier von einem Güterwagen weniger die Rede als im Aargauer Rapport, den Willi Gautschi verwendet hat. Auch die Zeitangaben differieren um bis zu zehn Minuten, vgl. den Augenzeugenbericht in der NZZ (Bild unten).

Fussnote 69 lautet: «StAZ N 1102.4 Neutralitätsverletzungsschäden, Beschiessung von S.B.B.-Güterzügen durch U.S.A.-Flieger am 9.9.1944, Polizeirapport der Pol.Stat. Weiach v. 10.9.1944.»

Dossier im Bundesarchiv

«Das Ereignis hat also nicht nur in den Akten der Zürcher Kantonspolizei Eingang gefunden. Sondern auch in die der Aargauer Kapo. Und wahrscheinlich dürfte es im Bundesarchiv auch noch ein Dossier geben.», führt die e-mail Brandenbergers an Schilling weiter aus.

Ein solches Dossier gibt es tatsächlich: CH-BAR E2001E#1967/113#1629*. Es befasst sich allerdings primär mit den materiellen Schäden der Grenzverletzung durch die US-Jagdflugzeuge und den ins Diplomatische reichenden Fragen der Entschädigungsmodalitäten.

Zwei oder vier Jagdflugzeuge?

«Nach nochmaliger Durchsicht der von den damaligen Tageszeitungen publizierten (und von mir [in Weiacher Geschichte(n) Nr. 41] verwerteten) Augenzeugenberichten scheint es im übrigen so zu sein, dass jeweils nur zwei Flugzeuge am eigentlichen Angriff beteiligt waren, derweil die beiden andern als Späher über dem Geschehen kreisten. Das würde erklären, weshalb der eine Zeuge davon sprach, VIER Flugzeuge hätten sich aus dem Rafzerfeld Richtung Kaiserstuhl bewegt und ein anderer davon, es seien ZWEI Flugzeuge gewesen (die nördlich Weiach angegriffen hätten). Das könnte ein Standard-Verfahren für den Jagdkampf gewesen sein.»  Soweit die Auszüge aus dem e-mail an Schilling.

In welchem Garten stand der Augenzeuge?

Quelle: NZZ, N° 1532, 11.9.1944

«Ich befand mich gerade in einem etwa 600 Meter von der Bahnstation Weiach-Kaiserstuhl entfernten Garten, als von jenseits des Rheins kommend, das Motorengebrumm fremder Flugzeuge immer stärker vernehmbar war.» (vgl. auch – leicht abweichend – die Variante im Wehnthaler, in: WG(n) 41, S. 85)

Dieser Abstand trifft lediglich für die Gärten der Kaiserstuhler Vorstadt sowie des Weiacher Bedmen zu. Beim Augenzeugen könnte es sich also auch um einen Kaiserstuhler gehandelt haben (und nicht zwingend einen Weiacher, wie ich im März 2003 noch angenommen habe).

Wie man der Litanei obiger Fragenstellungen entnehmen kann, besteht noch etlicher Forschungsbedarf, insbesondere was die Auswertung der beiden Polizeirapporte sowie der Fotodokumentation betrifft.

Ausgewählte Quellen und Literatur

  • Polizeistation Kaiserstuhl (Bugmann) an Polizeikommando; Kaiserstuhl, 10. September 1944. PKAr [Polizeikommando-Archiv]. Mutmasslich Staatsarchiv des Kantons Aargau. Signatur: unbekannt.
  • Polizeirapport der Pol.Stat. Weiach v. 10.9.1944. In: Neutralitätsverletzungsschäden, Beschiessung von S.B.B.-Güterzügen durch U.S.A.-Flieger am 9.9.1944. Staatsarchiv des Kantons Zürich. Signatur: StAZH N 1102.4, mutmasslich Nr. 11.
  • Angriffe amerikanischer Flieger auf schweizerische Eisenbahnzüge und Flugzeuge. In: Neue Zürcher Zeitung. Morgenausgabe, N° 1532, 11. September 1944, S. 1.
  • Beschiessung von 2 fahrenden Güterzügen bei Rafz und Weiach durch amerik. Jäger am 9. September 1944. Dossier im Schweizerischen Bundesarchiv, 1944-1948. Signatur: CH-BAR E2001E#1967/113#1629*
  • Geschichte des Kantons Aargau, Bde. 1-3. – Halder, N.: Bd. 1: 1803–1953. Verlag zur Neuen Aargauer Zeitung, Aarau 1953, 367 S. – Staehelin, H.: Bd. 2: 1830–1885. Baden Verlag AG, Baden 1978, 469 S. – Gautschi, W.: Bd. 3: 1885–1953. Baden Verlag AG, Baden 1978, 673 S.
  • Geschichte des Kantons Zürich, Bde. 1-3. – Bd. 1: Frühzeit bis Spätmittelalter. Zürich 1995. 536 S. – Bd. 2: Frühe Neuzeit, 16. bis 18. Jahrhundert. Zürich 1996. 551 S. – Bd. 3: 19. und 20. Jahrhundert. Zürich 1994. 518 S.
  • Brandenberger, U.: Amerikanische «Luftgangster»? 9. September 1944: US-Luftwaffe beschiesst Güterzüge bei Rafz und Weiach. Weiacher Geschichte(n) Nr. 41. In: Mitteilungen für die Gemeinde Weiach, April 2003 – S. 11-16.
  • Gut, F.: Mit der Pranke und dem Zürcher Schild. Gelebte Polizeigeschichte im 20. Jahrhundert. Staatsgewalt, Gefahren, Recht und Sicherheit im Spiegel einer bewegten Zeit. Verlag NZZ, Zürich 2003 – S. 336.
  • Riedel, S.: «Ungebildete Luftgangster». Rafz / Weiach. Versehentlich SBB-Züge beschossen. (Blickpunkt Region). In: Zürcher Unterländer, 9. September 2004 – S. 5
  • Kron, B.: Als die US-Luftwaffe Weiach beschoss. Geschichte und Geschichten aus dem Unterland. In: Tages-Anzeiger Unterland, 21. August 2008, S. 54.
  • Brandenberger, U.: In memoriam Mina Moser-Nepfer, 12.3.1911-27.7.2017. WeiachBlog Nr. 1349, 31. August 2017.
[Veröffentlicht am 10. September 2024 um 03:01]

1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

Auch mein Vater war Zeuge von damals. Albert Willi Junior Jg. 1932