Montag, 4. August 2025

Beyond Kieswerk. Geologe spannt den Bogen in die ferne Zukunft

Der Weiacher Gemeinderat, vertreten durch den Sicherheitsvorstand Petitpierre, hat für die diesjährige Ansprache zum Nationalfeiertag wieder einmal eine Persönlichkeit abseits der sonst tonangebenden Parteienlandschaft eingeladen.

Unser Festredner, Philipp Senn, gehört zur Führungscrew der Nagra, einer Genossenschaft, die mittlerweile schon über 50 Lenze zählt. Dass er nach Weiach zu einer Feierstunde eingeladen wird, ist angesichts der in den 1980ern höchst umstrittenen Probebohrungen nahe dem Ofenhof durchaus kein Selbstläufer. Vergleiche den Redetext und die redaktionelle Anmerkung 3 ganz unten.

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WeiachBlog dankt für die Erlaubnis, die diesjährige Rede veröffentlichen zu dürfen (was mit der letztjährigen Rede von Nationalrat Tuena leider nicht geklappt hat). Der Text ist redaktionell um orthografische Unebenheiten bereinigt, wurde aber sonst im Original belassen.


Geschätzter Jean-Marc Petitpierre,

liebe Weycherinnen und Weycher, werte Gäste,

herzlichen Dank für die Einladung zu Ihrer 1.-August-Feier. Es ist mir eine grosse Ehre, heute mit Ihnen den Schweizer Geburtstag zu feiern und mit Ihnen ein paar Gedanken zu teilen – das umso mehr, wenn man in Ihrer Chronik schneugget: die letzten August-Reden durchwegs von politischer Prominenz bestritten.

Mein Name ist Philipp Senn und ich spreche heute in meiner Funktion als Mitglied der Geschäftsleitung der Nagra zu Ihnen – jene Organisation, welche im Auftrag der Schweiz ganz in Ihrer Nähe ein Tiefenlager für den atomaren Abfall unseres Landes am Planen ist. Mit diesem Hut bin ich heute bei Ihnen.

Zum ersten Mal Weycher Boden betreten bzw. vorbeigefahren bin ich in meiner Jugendzeit. Aus dem Baselbiet kommend – da bin ich aufgewachsen und auch heute noch wohnhaft – hat man auf der Autofahrt nach Osten zwei Optionen: entweder auf der Autobahn im Mittelland oder aber entlang des Rheins. Mein Favorit schon damals war die Rheinstrecke: die langgezogenen Kurven dem Rhein und den lieblichen Auen entlang und durch die sanfte Hügellandschaft, vorbei am Leuenkopf haben mir damals schon sehr gut gefallen. Ich kann mir gut vorstellen, dass viele von Ihnen diese landschaftliche Qualität ebenso schätzen.

Ein paar Jahre später stand ich ein nächstes Mal bewusst auf Weycher Boden, als Geologie-Student. Wir haben in den Kiesgruben draussen im Hard die jüngere geologische Geschichte studiert. Dabei haben wir gelernt, wie die Flüsse nach dem Verschwinden der Gletscher das Rheintal mit beachtlichen Kiesvorkommen aufgefüllt haben. Was das Kies als Rohstoff für eine Bedeutung hat, muss ich Ihnen in Weych nicht erklären.

Apropos wertvoller Rohstoff: Da wurde in Weych vor 5 Jahren am Sanzenberg ja ein Silberschatz aus keltisch-römischer Zeit gehoben. Eine Sensation, die auch ausserhalb von Weych wahrgenommen wurde. Dies hat mich an Erzählungen meines Vaters erinnert, der bei Ausgrabungen der Munzach-Villen – eine Art Vorort des bekannteren Augusta Raurica – ebenfalls römische Gegenstände gehoben hat. Der Fund von Silbermünzen ist allerdings ausgeblieben, zumindest soweit mir bekannt ist... Es zeigt auf jeden Fall, dass die Qualitäten der ganzen Rheinregion schon in unserer Vorzeit geschätzt wurden.

Und schliesslich hat mich vor wenigen Jahren wiederum die Geologie ins Zürcher Unterland und nach Weych gebracht: Tief unter dem Kies gibt es aus geologischer Sicht nämlich weitere interessante Gesteine: nicht zuletzt den Opalinuston. Und in dieses dichte Tongestein soll das Tiefenlager für den radioaktiven Abfall gebaut werden, wenn der Entscheid in Bern in ein paar Jahren so gefällt wird. 800 Meter unter der heutigen Erdoberfläche. Der Zugang zum unterirdischen Lager ennet dem Berg auf Stadler Boden im Bereich Haberstal.

Das Tiefenlager ist ein Generationenprojekt: Es beschäftigt bereits in der Vorbereitung Generationen, wird Generationen mit der Umsetzung begleiten und ist für Generationen. So soll es eine sichere Entsorgung für Generation bringen. Nicht nur für 25 – das wäre das heutige Alter der Schweiz, sondern für hunderte oder tausende Generationen in der Zukunft. Dazu sind technisch-wissenschaftliche Herausforderungen zu lösen: ein dichtes Lager tief im Boden. Und gerade deshalb braucht es, ganz schweizerisch: Präzision, Verlässlichkeit und Weitblick.

Es ist ein Jahrhundertprojekt, welches unsere Generation aber auch noch ganz anders fordert: Ein Vorhaben, welches Fragen aufwirft, Ängste auslösen kann, aber auch einen grösseren Abstimmungsbedarf mit sich bringt; und deshalb mit den betroffenen Menschen vor Ort vorangetrieben wird. Dafür ist der Dialog auf Augenhöhe zwischen allen Beteiligten und Betroffenen nötig. Nur gemeinsam und unter Einbezug der verschiedenen Sichtweisen wird dieses Vorhaben vernünftig gelingen. Und für den ersten Teil dieses langen Wegs, der schon beschritten wurde im Zürcher Unterland, den gegenseitigen Austausch und das Mitdenken, kann ich mich an dieser Stelle schon mal ganz herzlich bedanken!

Am 1. August feiern wir die Schweiz und dass Unterschiede und Gegensätze Erfolg bedeuten können – denken wir nur an die sprachlichen und kulturellen Unterschiede oder landschaftlichen Gegensätze auf kleinstem Raum in unserem Land. Das funktioniert nur im Dialog und mit konstruktiver Lösungssuche. Mit dieser Haltung – da bin ich überzeugt – gelingt nicht nur ein friedliches Miteinander, sondern auch eine positive Gestaltung der Zukunft oder das Umsetzen grosser Vorhaben. 

Sie können mir glauben, es ist keine Selbstverständlichkeit, dass ich heute in meiner Funktion hier stehe und mit Ihnen 1.-August feiere. Ich bin beruflich immer mal wieder in anderen Ländern und sehe, wie die atomare Entsorgung umgesetzt wird. Da muss in einem Fall eine Hundertschaft Polizisten die nötigen geologischen Untersuchungen bewachen und andernorts sind Transporte von radioaktiven Abfällen nicht selten von gewalttätigen Protesten begleitet. Hier in der Schweiz werde ich, als Mitglied der Nagra-Geschäftsleitung, als 1. August-Redner eingeladen. Wahrscheinlich sagt das viel aus über unser Land, wo wir wissen, dass Unterschiede und Gegensätze ausdiskutiert werden müssen – aber auch ausdiskutiert werden können.

Wichtig ist dabei nicht zuletzt der Austausch mit der Nachbarschaft auch über die Grenze hinaus. Dieser ist – so kennen wir es auch aus dem Raum Basel – mal mehr oder weniger intensiv, aber bei uns grundsätzlich freundlich. Gerade heute wird uns bewusst, welchen Wert ein friedliches Miteinander auch über Grenzen hinaus hat – in einer Zeit, wo dies in verschiedenen Regionen der Welt leider nicht gelingt. Und dies gilt natürlich speziell bei kriegerischen Auseinandersetzungen. Aber auch der «türkische Basar» um sogenannte Strafzölle zeugt nicht gerade von wohlwollendem Miteinander.

Blicken wir gemeinsam noch kurz in die Zukunft. Stellen Sie sich vor: Heute in 100 Jahren, am 1. August 2125, sitzen Ihre Urenkel hier. Die letzten Abfälle sind längst eingelagert, eine längere Beobachtungsphase ist vorüber, es wird diskutiert, ob das Lager verschlossen werden soll. Vielleicht haben Ihre Urenkel wieder eine Rednerin oder einen Redner eingeladen, der zum Tiefenlager spricht. Ich bin sicher, dass diese Person vor allem einen grossen Dank und viel Anerkennung zu Ihren Nachfahren ins Zürcher Unterland bringen wird. Dank und Wertschätzung für das Mitdenken, das Hinterfragen, das Mittragen zugunsten eines gut gelungenen, nationalen Entsorgungsprojekts.

Und es besteht aus meiner Sicht die berechtigte Hoffnung, dass unsere Nachfahren beim Zurückschauen sagen können: «die haben das gar nicht so schlecht aufgegleist, gemeinsam, mit schweizerischer Sorgfalt, damals, im frühen 21. Jahrhundert».

Oder in anderen Worten, angelehnt an die Rede von Alt-Bundesrat Schneider-Ammann bei der Eröffnung des Gotthard-Basistunnels: «Es erfüllt uns alle mit Stolz, aber auch mit Demut. Denn dass ein solches Bauwerk gelingt, ist nicht selbstverständlich.»

Und damit zurück zu heute: Gerne wiederhole ich meinen Dank für die freundliche Einladung. Und natürlich wünsche ich uns allen ein gemütliches und gefreutes Zusammensein bei diesem würdigen 1.-Augustfest! Herzlichen Dank.

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Anmerkungen der Redaktion WeiachBlog

1. Mit der im einleitenden Absatz erwähnten «Chronik» ist der Sammelband «Dasses es Ross patriotisch hätt gmacht…» gemeint; vgl. Wiachiana Doku Nr. 5 (PDF, 4.57 MB).

2. Der Hinweis auf den «türkischen Basar» ist ein Aktualitätselement ersten Ranges: eine diskrete Kritik an Donald Trump, 47. US-Präsident, und seinem Importzollansatz von 39 % auf Schweizer Produkte, verkündet am Vorabend des Nationalfeiertags.

3. Senn sagt zu Recht, es sei keine Selbstverständlichkeit, dass er als Geschäftsleitungsmitglied der Nagra überhaupt nach Weiach eingeladen wurde – und sich dafür nicht ansatzweise überlegen musste, Polizeischutz zu beantragen.

Es ist in der Tat so, dass die Nagra noch anfangs der 1980er-Jahre einem signifikanten Teil (mindestens einem Siebtel) der damals rund 700 Einwohner überaus unwillkommen war. Das Misstrauen der Organisation und ihren Vertretern gegenüber war mit Händen zu greifen (vgl. dazu den Beitrag Zähneknirschendes «Ja, aber...» zu NAGRA-Bohrgesuch; WeiachBlog Nr. 1982 vom 2. September 2023). Angesichts dieser Grundstimmung wäre es dem damaligen Gemeinderat wohl nicht im Traum eingefallen, eine solche Einladung auszusprechen.

Seither ist viel Wasser den Rhein hinuntergeflossen. Vor allem aber haben die Träger der Nagra, namentlich der Bundesrat wie auch die Stromkonzerne, in den 90er-Jahren im Debakel um den Nidwaldner Wellenberg hinzugelernt: Mit Zwangsandrohung und obrigkeitlichen Dekreten ist kein Blumentopf zu gewinnen. Ohne behutsam verfolgten partizipativen Ansatz geht es in der direktdemokratischen Schweiz nicht.

4. Der redaktionell gesetzte Titel ist eine Anspielung auf den Beitrag Beyond Kieswerk – ein radioaktives Tiefenlager? WeiachBlog Nr. 656 vom 2. November 2008.

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