Dienstag, 3. Dezember 2019

Keine Allerheiligen-Connection und ein paar Kalenderbetrachtungen

Die älteste erhaltene Erwähnung des Ortsnamens «Wiach», in der es um die heutige Gemeinde im Zürcher Unterland geht, stammt aus der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts. Ein Bild davon vermittelt der Beitrag WeiachBlog Nr. 1400.

In diesem Beitrag hier geht es ebenfalls um ein «Wiach», das allerdings die Ortschaft «Wiechs am Randen» (vorderösterreichisch, heute Baden-Württemberg, Deutschland) bezeichnet. Und es wird erklärt, warum Weiach keine Allerheiligen-Connection hat, jedenfalls keine aus dem 12. Jahrhundert. Daneben wird noch über Datierungsstile raisonniert, also darüber, wann das Kalenderjahr beginnt. Das muss nicht zwingend der 1. Januar sein.

Die Schenkung des Anno von Busilingin

Die älteste mir bekannte Erwähnung eines Wiach datiert auf 1166 oder 1167 und findet sich in einer Urkunde des Schaffhauser Klosters Allerheiligen (heute im Staatsarchiv des Kantons Schaffhausen; Signatur: StASH Urkunden 1/80).

So sieht sie aus. Und Wiach steht in der vierten Zeile:



Beschreibung StASH: «Bischof O(tto) von Konstanz bestätigt eine von Anno von Busilingin schon im Jahre 1131 unter Abt Adelbert I. gemachte Schenkung, wonach derselbe seine Besitzung in Busilingin und Wiach mit Ausnahme von zwei Höfen an Allerheiligen und die Zehenten in Nordhaldun, Burron und Wile an St. Agnesen vergabte.»

Landwirtschaftliche Güter in Wiechs gehörten also bereits im 12. Jahrhundert dem Kloster Allerheiligen, solche in Weiach ziemlich sicher nicht. Das wurde schon 2003 in Anmerkung 21 der dritten Auflage der ortsgeschichtlichen Monographie über Weiach angedeutet. Vergleiche dazu WeiachBlog Nr. 586, zu dessen Abschnitt «Fussnote 21 reloaded» vor einigen Monaten kurze Korrekturhinweise hinzugefügt wurden.

Die drei wesentlichen Punkte daraus seien hier etwas ausführlicher beleuchtet:

1. Busilingin ist nicht Büsingen

Da wäre einmal die 2003 fälschlich gewählte Identifizierung von Busilingin als Büsingen, einer vormals vorderösterreichischen Enklave in der Schweiz. Diese liegt nahe wegen der geographischen Nachbarschaft zur Stadt Schaffhausen und damit zum Kloster Allerheiligen. Aber es ist ein «false friend».

Mit Busilingin ist das heutige Büßlingen gemeint (vgl. Korrektur vom 9. April 2019 zu Nr. 586), das seit der Gemeindereform von 1974 wie Wiechs am Randen zur Stadt Tengen im Landkreis Konstanz gehört. Dies lässt sich u.a. aus dem Topographischen Wörterbuch des Großherzogtums Baden von Albert Krieger aus dem Jahre 1904 schliessen.

Wiechs am Randen und Büßlingen sind nicht etwa Nachbardörfer. Sie liegen nicht nur auf unterschiedlichen Höhenstufen (Wiechs auf 620 bis 670 m ü. M., Büßlingen auf ca. 490 m ü.M.). Dazwischen liegen auch die schaffhausischen Ortschaften Altdorf und Hofen (wenn man nach dem heutigen Strassenverlauf geht).

2. Wirtschaftseinheiten desselben Hofes liegen benachbart

Die von mir 2003 in Unkenntnis des Textzusammenhangs der Urkunde von 1166/1167 (siehe Bild oben) angenommene mögliche Verortung von Wiach mit dem heutigen Weiach ist nicht mehr haltbar, wenn man liest: «predium, quod in eadem villa [Busilingin] et in Wiach jure hereditario possederat».

Den Begriff predium (oder praedium) erklärt das Lateinisch-Teutsche Juristische Hand-Lexicon von  1753 wie folgt:

«Praedium rusticorum, ein Bauren- oder Feld-Gut, als da ist der Acker und die Gebäude, so zum Ackerbau, zur Verwahrung der Frucht und zur Viehzucht gehören, der Meyerhof genannt.»

Anno von Busilingin war also kein gewöhnlicher Bauer, sondern eher jemand, der wohl mindestens zum Ministerialadel gehörte. Dieser liess seine landwirtschaftlichen Güter an einem Ort und seinem Umfeld von einem Meier verwalten.

Der Textzusammenhang zeigt, dass es um einen möglicherweise grösseren Meierhof geht, der in zwei Ortschaften Land, bzw. Bewirtschaftungseinheiten besitzt. Das würde auch wirtschaftlich Sinn machen, denn es handelt sich – wie im vorstehenden Abschnitt erläutert – um zwei verschiedene Höhenstufen.

Wiechs und Büßlingen liegen auf der Strasse ca. 5 km auseinander. Weiach und Büßlingen hingegen rund 43 km (über die Kaiserstuhler Rheinbrücke). Schon allein daraus lässt sich ableiten, dass Wiach eher Wiechs sein muss als Weiach. Betriebe desselben Meierhofs lagen mit Vorteil relativ nahe beeinander, dann konnte der Meier auch eher zum Rechten schauen. Wäre mit Wiach tatsächlich Weiach gemeint, so hätten die Vertragsparteien wohl eher von zwei separaten Meierhöfen gesprochen. In der Urkunde steht aber der Singular: «predium».

3. Datierungsstil der Urkunde

Die Urkunde (vgl. Bild oben; Signatur. StASH Urkunden 1/80) wird vom Schaffhauser Staatsarchiv auf den 27. Dezember 1166 datiert. Gewisse Urkundenbücher (wie Hidber Bd. 2, Nr. 2238 von 1877 sowie QSG Bd. 3, Nr. 72 von 1883; s. unten) datieren sie aber auf den 27. Dezember 1167! Wer hat Recht?

Der Artikel «Kalender» im Historischen Lexikon der Schweiz (e-HLS) erläutert die Grundlagen des Problems Datierung:

«In Bezug auf den Jahresanfang galten versch. Stile: In den Bistümern Basel, Konstanz und Chur sowie im deutschsprachigen Teil des Bistums Lausanne galt der Natalstil (25. Dez.). Im französischsprachigen Teil der Diözese Lausanne war im 11. und 12. Jh. auch der Natalstil in Gebrauch; im Laufe des 13. Jh. setzte sich aber der Annuntiationsstil (25. März) durch, der in der bischöfl. Kanzlei bis 1536 angewandt wurde. Im 13. Jh. kam auch der Osterstil vor. In der Diözese Genf galt im 12. Jh. der Natalstil, im 13. Jh. bis 1276 der Osterstil, danach der Annuntiationsstil; ähnlich war es im Bistum Sitten. Im Laufe des 16. Jh. setzte sich im Gebiet der Schweiz - in den einzelnen Gebieten zu versch. Zeiten - der Circumcisionsstil (1. Januar) des sog. bürgerl. Jahres durch.»

Bei Datierungen aus dem Gebiet der heutigen Schweiz ist also höchste Vorsicht geboten bei allem, was auf das 16. Jahrhundert und ältere Zeiten im Mittelalter zurückdatiert.

Die Datierungsrichtlinien der Sammlung Schweizerischer Rechtsquellen (SSRQ) sehen nicht umsonst vor, dass der Stil explizit erwähnt werden muss: «Circumcisionsstil (Jahresanfang am 1. Januar), Annu[n]tiationsstil (25. März) oder Natalstil (25. Dezember) muss vermerkt werden.»

Natalstil (25. Dezember) oder Circumcisionsstil (1. Januar), das ist hier die Frage

Der Hinweis vom 16. Mai 2019 am Fusse des Beitrags WeiachBlog Nr. 586 («Die Urkunde (Signatur. StASH Urkunden 1/80) ist auf den 27. Dezember 1166 datiert. Aufgrund des damals üblichen Natalstils begann das Jahr 1167 bereits an Weihnachten, weshalb in Urkundenbüchern teils die im Original stehende Jahrzahl 1167 erwähnt wird.» ) geht etwas zu voreilig davon aus, dass die StASH-Variante die richtige sei.

Der Bearbeiter der Nr. 72 des Bandes Die ältesten Urkunden von Allerheiligen in Schaffhausen, Rheinau und Muri (Basel 1883, S. 123-124; Quellen zur Schweizer Geschichte (QSG), Bd. 3) hat die folgende Bemerkung an den Schluss seiner Urkundenbeschreibung gesetzt:

«Weil die Urkunde in Schaffhausen gegeben wurde, wo schon im 11. Jahrhundert das Jahr mit 1. Januar, nicht mit Weihnachten begonnen wurde (wie sich aus Nr. 16, 22, 23, 24, 25 bestimmt ergibt), nehme ich als Jahr der Urkunde 1167, nicht 1166 an, wie sonst zweifelsohne aufgelöst werden müsste

Ein sehr deutlicher Hinweis auf die Annahme, dass die Kanzlisten im Kloster Allerheiligen den Circumcisionsstil verwendet haben. So kommen Baumann et al. auf den 27. Dezember 1167.

Die Katalog-Bearbeiter des Staatsarchivs Schaffhausen (StASH) gingen hingegen von der Verwendung des Natalstils aus, was dann bei Daten zwischen 25. Dezember und 1. Januar zur Verwendung der Jahrzahl des Vorjahres führt. Deshalb 27. Dezember 1166.

Ebenfalls für 1166 würde die Formulierung «Fer. III.  VI. Kal. Jan.» sprechen (vgl. Hidber unten).
Fer. steht für «Feria». Kal. Jan. für «Kalendas Januarii». Feria ist die Bezeichnung des Wochentags, die man damals ab dem Sonntag zählte. Der dritte Tag der Woche ist dann der Dienstag.
«VI. Kalendas Januarii» = am 6. Tage vor den Kalenden des Januars. Da man den 1. Tag des genannten Monats mitzählte, kommt man auf den Dienstag, 27. Dezember. Gemäss Ewigem Julianischen Kalender von Nimtsch würde dieser Wochentag für 1166 sprechen, nicht für 1167.

Einschätzung des Schaffhauser Staatsarchivars

Der Schaffhauser Staatsarchivar erklärte auf Anfrage von WeiachBlog, dieses Datierungsproblem sei vor kurzer Zeit gerade wieder ein Thema gewesen. Der Leiter des Archivs des Schwarzwald-Baar-Kreises in Villingen-Schwenningen habe die von Baumann et al. 1883 genannten Urkunden (vgl. oben zitierte Bemerkung) jüngst selber alle konsultiert. Sein Fazit: Es deute viel auf 1167 hin, es könnte aber auch 1166 richtig sein.

Ohnehin sei es im 12. Jahrhundert wichtiger gewesen, was in der Urkunde stand, wer sie ausgestellt und besiegelt hatte, sowie, wer die Zeugen waren. Darauf, welches exakte Datum draufstand, habe man nicht allzu grosses Augenmerk gehabt.

Da es aus dieser Zeit zudem sehr wenige Urkunden gibt und sich Kanzlisten auch einmal in der Datierung geirrt haben können, ist die Zuschreibung des Datierungsstils mit grösseren Unsicherheiten behaftet. Je nach Argumentation tendiere man deshalb auf die eine oder eben die andere Seite. (Dr. Roland E. Hofer, Staatsarchivar des Kantons Schaffhausen, mdl. Auskunft v. 3.12.2019)

Blick in die Urkundenbücher

Hidber Nr. 2238 (Hidber, Basilius: Schweizerisches Urkundenregister, Bd. 2, Bern 1877 – S. 216)

Baumann et. al.: Die ältesten Urkunden von Allerheiligen in Schaffhausen, Rheinau und Muri. (Quellen zur Schweizer Geschichte, Bd. 3)  Basel 1883 – Nr. 72, S. 123-124

Überarbeitete Fassung der ortsgeschichtlichen Monographie

Für die Ende Dezember erscheinende Version 6.20 von Weiach - Aus der Geschichte eines Unterländer Dorfes, 6. Auflage erhält die Fussnote-42 (ehemals Anmerkung 21) auf S. 15 folgende Fassung:

«Eine noch frühere Nennung des Ortsnamens «Wiach» erfolgte in einer Urkunde des Klosters Allerheiligen vom 27. Dezember 1166 bzw. 1167 (StASH Urkunden 1/80; vgl. Die ältesten Urkunden von Allerheiligen in Schaffhausen, Rheinau und Muri. Basel 1883 – Nr. 72, S. 123-124 (Quellen zur Schweizer Geschichte, Bd. 3) sowie WeiachBlog Nr. 586, 29. Dezember 2007). Darin wird durch den Bischof von Konstanz bestätigt, dass ein «Anno de Busilingin» im Jahre 1131 dem Kloster zur Beförderung seines und seiner Vorfahren Seelenheil «predium, quod in eadem villa et in Wiach jure hereditario possederat» (ein Gut, das er in diesem Dorf und in Wiach besessen hat) überschrieben habe. Aus dieser Formulierung erschliesst sich, dass Busilingin (als Büßlingen identifiziert) und dieses «Wiach» nahe beieinander gelegen haben müssen, denn es geht um einen einzelnen Meierhof und nicht um mehrere. Die Fachwelt ist daher – meines Erachtens zu Recht – der Ansicht, dass es sich bei diesem Wiach um Wiechs am Randen, an der schaffhausischen Nordgrenze nahe Bargen SH, gehandelt hat. Beide Ortschaften, Büßlingen und Wiechs, gehören heute zur Stadt Tengen, Landkreis Konstanz. «Wiach» am Rhein ist hier also nicht gemeint. Es ist jedoch nicht ausgeschlossen, dass spätere Nennungen von «Wiach» sich auf Weiach beziehen und fälschlicherweise Wiechs am Randen zugeschrieben werden. Vgl. auch WeiachBlog Nr. 1431 v. 3. Dezember 2019.»

Quellen und weiterführende Artikel
  • Lexicon juridicum romano teutonicum das ist: vollständiges Lateinisch-Teutsches Juristisches Hand-Lexicon, 4. Aufl. Nürnberg 1753 – S. 544.
  • Hidber, B.: Schweizerisches Urkundenregister. Herausgegeben mit Unterstützung der Bundesbehörden von der allgemeinen geschichtsforschenden Gesellschaft der Schweiz. Bd. 1, Bern 1863; Bd. 2, Bern 1877.
  • Baumann, F. L.; Meyer von Knonau, G.; Kiem, M.: Die ältesten Urkunden von Allerheiligen in Schaffhausen, Rheinau und Muri. Quellen zur Schweizer Geschichte (QSG), Bd. 3. Basel 1883. e-helvetica.admin.ch > nbdig-56934_2.pdf
  • Gehörte Weiach einst dem Kloster Allerheiligen? WeiachBlog Nr. 586 v. 29. Dezember 2007.
  • Die älteste erhaltene Erwähnung: StAZH C II 2, Nr. 79 e. WeiachBlog Nr. 1400 v. 17. Juni 2019.

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