Das Weiach meiner Jugend war noch eine ländlichere Idylle als das heutige - mit etlichen Miststöcken und vielen Hochstammobstbäumen rund um die Häuser. Das ändert sich leider in den letzten Jahrzehnten zunehmend. Hier ein kleines Anekdötchen aus der Zeit vor 25 Jahren.
Unser Mini-Löwe
Das Leben auf dem Land brachte es mit sich, dass Haus- und Nutztiere für viele ältere Weiacher seit Kindesbeinen eine vertraute Lebenserfahrung sind.
Zu meinen besonderen Erlebnissen gehören die mit Katzen. In Erinnerung bleibt mir vor allem Joggi, ein sehr anhängliches, schwarzrötlich-weisses Energiebündel mit dichtem, flauschigen Angora-Fell. Woher er das hatte? Bei einer Strassenmischung unmöglich zu eruieren. Nicht von seiner Mutter, die hatte nämlich glattes, kurzes Fell. Vom Vater? Vielleicht. Gerade bei Hofkatzen gilt halt der alte Leitsatz römischer Juristen: Mater certa est, pater numquam. Deshalb: keine Ahnung, wer sein Vater gewesen ist.
Geboren wurde er im Sommer 1981 in meinem Zimmer - in der hintersten Ecke unter dem Büchergestell. Nach fast zwei Wochen war seine Mutter endlich gewillt, uns ihre Kleinen zu präsentieren. Eines der drei hatte eine veritable Löwenmähne und für meine Schwester und mich war es klar, dass das nur ein Männchen sein konnte. Deshalb tauften wir "ihn" auf den Namen Joggi.
Erst der Tierarzt belehrte uns anlässlich der Kastrierung eines Besseren: Joggi war ein Weibchen. Aber da war es schon zu spät für einen Namenswechsel. Und ausserdem war uns das herzlich egal. Für uns blieb Joggi ein ER. Alles in seinem Wesen unterstützte diese Meinung.
Don’t mess with Joggi
Sein Revierverhalten war nämlich legendär. Er zeigte absolut keinen Respekt vor grossen Tieren. Verglichen mit den meisten Katern war er zwar nur eine halbe Portion. Das kompensierte er aber mit seinem dichten Fell. Aufgeplustert, wild fauchend, den Buckel gestellt, wirkte er auf Eindringlinge schon wehrhaft genug.
Wer nach dieser Demonstration der Entschlossenheit nicht sehr bald gewillt war, Joggis Territorialansprüche mittels Rückzug zu respektieren, der lernte schnell seine kompromisslose Angriffstrategie kennen. Die ging direkt auf die empfindlichen Stellen. Nase, Augen, usw. Natürlich blieben auch ihm selber Blessuren wie Kratzer, ausgerissene Haarbüschel und zerschlitzte Ohren nicht erspart - besonders bei Streifzügen durch das Dorf. Auf eigenem Gebiet blieb er aber Sieger.
Schon in den ersten Lebensmonaten sah man ein kleines, schwarz-weisses Fellbündel den dreimal so grossen Nachbarskater quer über den Bungert jagen. Kaum einer der so vom Platz Vertriebenen traute sich ein zweites Mal, Joggis Hoheitsgebiet zu verletzen. Das galt übrigens auch für Hunde jeglicher Grösse und Kläffstärke.
Nächtliche Gesänge auf dem Autodach
Kurz: Joggi war der unumstrittene König seines Reviers. Das mussten auch die dazu gehörenden Menschen lernen. Joggi wollte aus dem geschlossenen Zimmer? Ein konzentrierter Krallenwetz-Angriff auf eine Truhe aus edlem Bündner Arvenholz wirkte innert Sekunden Wunder. Joggi wollte des nachts nach 2 Uhr ins Haus an sein warmes Plätzchen? No problem. Seine ausdauernde, in solchen Fällen eher einem langgezogenen Jaulgesang denn einem Miauen ähnelnde Stimme, weckte - vorgetragen vom Autodach seiner Menschen - locker die ganze Nachbarschaft. Schon deshalb dauerte es nie lange und sein Wunsch ging in Erfüllung.
Ein Rekonvaleszenter tritt auf den Plan
Eines Tages allerdings lernte Joggi seinen Meister kennen: Eine grosse Rabenkrähe (oder war es ein Kolkrabe?), die nach einem Flügelbruch vom ortsansässigen Tierarzt, einem habilitierten Ethologen, wieder gesundgepflegt worden war.
Dieser Rabenvogel war absolut zahm und hatte keine Scheu vor Menschen. Er landete eines schönen Tages hinter unserem Haus und bediente sich bald ganz ungeniert an Joggis Futternapf. Solche Kühnheit konnte nicht ohne Reaktion bleiben – selbst wenn er selber dasselbe Futter nur Minuten zuvor verschmäht hatte. Joggi verliess seinen sonnengewärmten Hochsitz, attackierte den Frechling und schlug ihn die Flucht. Sichtbar stolz kehrte er auf die Terrasse zurück und feierte dort seinen neuerlichen Sieg.
Dann aber passierte etwas völlig Unerwartetes, noch nie Dagewesenes. Der Rabenvogel, intelligent und neugierig wie er war, wollte sich das wehrhafte Kätzchen wohl genauer ansehen – und kehrte alsbald zurück. Er landete mit weit ausgebreiteten Schwingen direkt auf der Maschendrahtumzäunung, die Joggis Hochsitz umgab, hüpfte dann auf den Boden und ihm direkt entgegen.
Neue Machtverhältnisse
Schwarz, gross, fast lautlos. Und einen Meter Flügelspannweite. In der Offensive! Das war definitiv zuviel. Wie ein geölter Blitz raste Joggi ab der Terrasse und flüchtete in panischem Entsetzen auf die Spitze des höchsten Apfelbaums im Bungert. Dort miaute er dann kläglich und liess sich erst nach Stunden dazu bewegen, wieder auf den Boden seiner Niederlage zurückzukommen. Denn der pechschwarze Vogel fand dies alles höchst interessant. Und sass auf demselben Baum.
Von diesem Zeitpunkt an war die neue Hackordnung beim Fressen klar. Erst der Rabenvogel (so anwesend), dann in gebührendem räumlichen und zeitlichen Abstand Joggi, schliesslich seine Mutter und wenn die alle zufrieden waren vielleicht noch ein geduldeter Besucher.
Obwohl der Rabenvogel schon bald wieder von der Bildfläche verschwunden ist – Joggi dürfte ihn wohl bis zu seinem Tode im Jahre 1998 nicht vergessen haben.
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