Mittwoch, 28. März 2007

Ist das Volk souverän oder eine willenlose Masse?

In wenigen Tagen stehen uns die Kantonsratswahlen ins Haus. Die Messer werden noch einmal gewetzt. Letzte Wortgefechte geführt.

Das war vor 141 Jahren nicht anders als heute. Speziell war damals aber, dass eine anonyme Flugschrift mit dem Titel «Die Freiherren von Regensberg» reissenden Absatz fand und die Gemüter erhitzte. Sie warf die Frage auf, wer eigentlich das Land regiere. Eine Oligarchie oder das Volk.

Im ersten Teil dieses Büchleins wurde die Geschichte der historischen Freiherren abgehandelt. Der zweite Teil machte die «Freiherren der Gegenwart» zum Thema, ganz besonders Statthalter Ryffel, Gerichtsschreiber Bucher und Verhörrichter Bader - alle hoch droben in Regensberg in Amt und Würden.

Das «System Escher» am Pranger

Mit spitzer Feder stellte der Autor Missstände in der Verwaltung und Gerichtspraxis des Bezirks Regensberg an den Pranger. Ryffel und seine Kumpanen seien Teil eines «Systems» an dessen Spitze der «Prinzeps» Alfred Escher stehe (vgl. auch WeiachBlog vom 16. Januar 2006: Alfred Escher, Mister Schweiz).

Der «Prinzeps», Eisenbahnkönig, Bankherr und Spitzenpolitiker besetze alle Posten mit seinen Günstlingen, klagte die Broschüre an. Diese Amtsinhaber von Eschers Gnaden würden nicht Recht sprechen, sondern nach Opportunität und Gutdünken richten. Prozesse seien daher zu nichts anderem als zu Lotterien geworden.

Verfasst hatte die Kampfschrift der Zürcher Advokat Friedrich Locher (1820-1910), der zwar aus einer alten Stadtzürcher Familie stammte, sich aber mit dem herrschenden Patriziat und dem «System Escher» nicht anfreunden konnte. Lochers Pamphlet war eine Sensation – da wagte es tatsächlich jemand, der Regierung öffentlich an den Karren zu fahren. Wagte zu schreiben, was viele dachten, sich aber kaum zu sagen trauten. Das Büchlein fand reissenden Absatz, nach wenigen Tagen war die Auflage von 1200 Exemplaren vergriffen.

Die Folgen? Bei den Nationalrats- und Grossratswahlen 1866 wackelten die Sitze der «neuen Freiherren» bedenklich. Trotz massiver PR-Kampagnen gelang es den «Gouvernementalen» (Vertretern der regierenden Liberalen) nicht, wiedergewählt zu werden. Ein zweiter Wahlgang wurde nötig.

Lokalzeitungen als Meinungsplattform

Die Gegner der Freiherren im Unterland, zu denen auch der Weiacher Gemeindeschreiber gehörte, witterten Morgenluft. Das konnte man auch in den Zeitungen der Region deutlich sehen. Am 16. Juni 1866 schrieb die Bülach-Regensberger Wochenzeitung im Lokalteil:

«Regensberg. "Also den Herren Ryffel und Stäubli haben nur wenige Stimmen zur Wiederwahl gefehlt! Da sieht man, daß sich der gesunde Sinn unsers Volks durch Broschüren und Zeitungsartikel nicht bethören läßt!" So jubeln jetzt wieder die Gouvernementalen durch's Land.

Das Volk hat bei den Großrathswahlen gesprochen. Es hat männlich gekämpft und gesiegt. Der Prinzeps und sein Hof haben eine Lektion bekommen, wie sie noch nie dagewesen ist.

"Und seine Alba’s sind nicht mehr!" hieß es durch den ganzen Bezirk. Sollen nun aber diese Alba’s einer nach dem andern zur Hinterthüre wieder hereinkommen? Soll jede ehrliche Bestrebung, insofern sie Nachdruck erheischt, zum Teufel gehen, und schliesslich doch wieder das Freiherrenthum Meister werden? Noch haben wir das Messer in der Hand, von uns hängt es ab, ob wir einen mächtigen, entscheidenden Schritt vorwärts thun, oder ob wir wieder für sechs volle Jahre dem alten Regiment den Nacken beugen wollen.
»

Die Legislaturperiode dauerte also damals sechs Jahre - nicht wie heutzutage vier.

Das sind faule Fische!

Herzog Alba unterdrückte 1567/68 im Auftrag des katholischen Herrschers von Spanien die reformierten Holländer (spanische Niederlande) mit brutaler Rücksichtslosigkeit und dem Einsatz von Folter und Mord. So schlimm haben sich die «neuen Freiherren» im Unterland natürlich nicht aufgeführt – die überschäumend agitatorische Wortwahl ist daher ein deutliches Zeichen für die explosive Stimmung bei den Meinungsmachern und der hiesigen Öffentlichkeit.

«Man sage nicht: "Die Lektion sei ertheilt, auf eine einzige Persönlichkeit komme nicht viel an, die Hauptschuldigen werden entfernt werden etc." Das sind faule Fische! Sobald wir nicht reinen Tisch machen, sobald wir dem Freiherrenthum einen Stützpunkt geben, so saugt es sich wieder fest, und sein Unkraut treibt neue Wurzeln und Schößlinge. Bald, nur zu bald, wird wieder Alles im Alten sein. Die Freiherren werden gestrenger regieren, als vorher – gestützt, wie sie sind, durch ihre Vorgesetzten – und mancher Ehrenmann wird seinen Patriotismus theuer zu büßen haben. Hört nur den Siegesjubel der "N.Z.Z.", welche jetzt schon annimmt, es sei Alles wieder im Alten!

Man sage auch nicht: "Die neuen Kandidaten taugen nicht viel, man kenne sie nicht, sie haben sich noch nicht bewährt sc." Was waren denn eigentlich unsere "Herren", bevor man Etwas aus ihnen gemacht hat? Wem Gott ein Amt gibt, dem gibt er auch Verstand. Fehler hat Jeder. Wer aber in amtlicher Stellung so zum Vorschein gekommen ist, wie unsere "Freiherren", der soll einem Andern Platz machen. Es wird sich dann zeigen, wie die Neuen regieren. Erfüllen sie ihre Pflicht, was will man mehr? Erfüllen sie dieselbe nicht, so sind wir wieder da und zuletzt wird sich der rechte Mann schon finden.
»

Willenlose Massen sollten nicht schimpfen

«Einstweilen soll das souveräne Volk eine Lektion ertheilen. Wir haben persönlich Nichts gegen den Hrn. Statthalter, Nichts gegen den Hrn. Gerichtspräsidenten, und es soll uns freuen, wenn Beide recht bald einen andern Wirkungskreis gefunden haben werden. Von ihren gegenwärtigen Stellen aber, in welchen sie sich schwach gezeigt, sollten sie weichen. Man vergesse auch nicht, daß die Bezirkshauptortfrage eine Personalfrage ist, daß es also in der That von der Person des Statthalters abhangt, ob der Hauptort auf dem verhaßten Buk [d.h. im Schloss Regensberg] bleiben oder in's bequeme Thal hinunter [nach Dielsdorf] verlegt werde!

Machen wir mit den Gegenkandidaten einen Versuch. Einigen wir uns vor Allem! Schlimmer wird und kann es nicht kommen. Entweder ist das Volk souverän, und alsdann erfülle es seine Pflicht, sowohl im Belohnen als im Strafen, oder es ist eine willenlose Masse, alsdann schimpfe es auch nicht, sondern falte die Hände und spreche: "Herr, wie du willst, nicht mein Wille, sondern dein Wille geschehe für weitere sechs Jahre! Amen".
»

Dass hier ein Wortspiel mit dem Herr(gott) und den kritisierten Herr(schaften) vorliegt ist eindeutig - und es wurde von der geneigten Leserschaft natürlich auch als solches erkannt.

Der Ausgang der ganzen Angelegenheit? Daran, dass der Bezirkshauptort bereits 1871 tatsächlich ins Tal nach Dielsdorf verlegt wurde, kann man erkennen, wer diesen Schlagabtausch letztlich gewonnen hat.

Weiterführende Literatur

[Veröffentlicht am 8.4.07]

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