Ganz so akribisch und gnadenlos in die Intimsphäre vordringend wie der französische Bischof Jacques Fournier, der spätere Papst Benedikt XII., dies im Jahre 1325 im Pyrenäen-Bergdorf Montaillou durchgezogen hat, ging es in Weiach glücklicherweise nicht zu und her.
Trotzdem erlaubt auch ein von den Zürcher Kirchenoberen bestellter Visitationsbericht Einblicke in Alltag und Mentalität einer Dorfgemeinschaft - wenn auch nicht derart radikale wie der Ketzerprozess von Montaillou (von dem Akten mit 578 protokollierten Vernehmungen und 160 Zeugenaussagen überliefert sind).
Im Protokoll der evangelisch-reformierten Kirchenpflege Weiach ist der Kirchenvisitationsbericht 1912-1923 unter dem Titel «Sitzung den 28. Januar 1924» zu finden: Sozusagen ein von ihrem Pfarrer gemaltes religiöses Sittenbild der Gemeinde.
Sich der Kürze befleissen
WeiachBlog macht den Volltext in Etappen zugänglich. Leider liegt die ursprüngliche Liste der Fragen des Zürcher Kirchenrats dem Visitationsbericht nicht bei.
«Der Kirchenvisitation-Bericht 1912 bis und mit 1923 verfasst von Herrn Pfarrer Kilchsperger wurde vorgelesen wie folgt:
Die umfangreiche Anweisung des h. Kirchenrates gab uns willkommenen Anlass wieder einmal uns in zwei Extrasitzungen über das religiös-sittliche Leben unserer Gemeinde Rechenschaft zu geben. Wir sind uns freilich der Schwierigkeit der Aufgabe wohl bewusst, da wir mit unseren Menschenaugen nicht das verborgene Seelenleben u. die tieferen sittlichen Regungen der Gemeindegenossen betrachten können, sondern nur die Früchte des verborgen waltenden Geistes schauen können. Manche Früchte am Baum unserer Bauerngemeinde erweckten unsere Freude, manche aber zeigten uns die deutlichen Spuren der Stürme, die auch über unser Volk hingegangen waren u. da u. dort verheerend gewirkt hatten. So mussten auch wir uns fragen, was können wir, Kirchenpflege u. Pfarrer zur Förderung des religiös-sittlichen Lebens der Gemeinde tun?
Nach der Anweisung der Behörde soll sich der Schreiber des Berichtes der Kürze befleissen u. damit auch der tit. Bezirkskirchenpflege u. dem Kirchenrat die Aufgabe erleichtern.
I. Das religiöse Leben der Gemeinde.
Ad 1. Im Allgemeinen ist wohl während der Kriegszeit eine Klärung der relig. Lage eingetreten, auf der einen Seite bestimmtere Ablehnung der Religion u. der Kirche, auf der andern Seite bewusste Hinneigung u. mehr Verlangen nach Halt u. Ankergrund für die bangende, zagende Seele im wogenden Meer der stürmischen Gegenwart. Dabei wollen wir nicht allzuviel Gewicht auf den anfänglich starken Besuch der Gottesdienste u. der Bibelstunden im ersten Kriegsjahr legen, war dies doch eine rasch vorübergehende Welle. Wertvoller war in Bezug auf Weckung religiösen Lebens eine Evangelisationswoche im Nov. 1921, wo sich ein Verlangen nach Gottes Wort in gewissen Kreisen, vor Allem auch bei Männern zeigte, welche sonst die Kirche selten betreten. Eine Frucht dieser Evangelisation, war dann auch die Wiederaufnahme der Bibelstunden welche in den vergangenen 2 Wintern ordentlich besucht wurden, zwar ausschliesslich von aufmerksamen Zuhörerinnen, während die Männer sich nicht in die Schulbänke hineinwagten. Dennoch erhoffen wir da u. dort bleibende Früchte für das persönliche u. Familienleben u. haben deshalb auch für den kommenden Winter 1923 eine Evangelisation beschlossen. Es ist auch nötig, denn der Weltkriege hat auch bei uns eine Auflösung der Autorität der Eltern u. der Religion zur Folge gehabt, besonders bei der jungen Generation, die eigene Wege gewöhnlich nicht mit Gottes Wege geht.»
Das erinnert doch sehr an die fast identischen Klagen über männlichen Absentismus aus dem Jahr 1959 (vgl. den Artikel Gott: Nur in dringenden Fällen in WeiachBlog, 22. November 2009). Da das Bedürfnis nach Spiritualität aber augenscheinlich nicht nur ein weibliches ist (wie die Evangelisationswoche zeigte), hätte man sich selber an der Nase nehmen und die Ursache in mangelhafter Zielgruppenorientierung suchen müssen.
Quelle
- Kirchenpflegeprotokoll Weiach, 1924 - S. 404ff
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