Freitag, 27. November 2009

Bibeln wie Hochzeitskleider gebraucht

Der vom Weiacher Pfarrer Albert Kilchsperger (1883-1947) verfasste Visitationsbericht über die Jahre 1912 bis 1923 enthält manch kulturhistorisch interessante Anmerkung (vgl. Einführung im WeiachBlog-Artikel von gestern).

Was man bezüglich Quellenkritik dabei immer im Auge haben muss, ist der Blickwinkel des Verfassers. Hier scheint die besondere Stellung des Pfarrers in der kleinen Landgemeinde durch. Zwar hat er einiges an Befugnissen und Aufgaben verloren, trotzdem wird er als Mitglied der Armenpflege vom Kirchenrat immer noch mit Aufgaben betraut, wie sie seit Jahrhunderten üblich waren.

Die Zeitungen sind schuld

Zum Buch der Bücher stellte der Kirchenrat auch eine Frage (leider liegt uns diese nicht vor), hier die Antwort Kilchspergers:

«Ad 3. Die Bibel wird im Allgemeinen in Ehren gehalten, aber vielfach nur wie ein Hochzeitskleid das man nur selten braucht. Wohl wird jährlich in jede Familie ein Bibellesekalender gebracht, aber es ist Grund zu der unerfreulichen Annahme vorhanden, dass er nur Wenigen Anleitung zu regelmassigem Bibellesen gibt. Die Lektüre der vielen Zeitungen hat auch hier die Bibellektüre stark verdrängt.

Erbauungsbücher, alte Gebetbücher in grossem Druck werden in etlichen Häusern von alten u. kranken Leuten gelesen, u. nicht ungern dem Pfarrer vorgewiesen, wohl als Beweis noch vorhandener Frömmigkeit.

Von den religiösen Blättern sind am meisten verbreitet: Das Appenzeller Sonntagsblatt, der Feierabend u. der Kirchenbote. Ein kirchliches Gemeindeblatt für Weiach-Kaiserstuhl wird nicht herausgegeben.

Eigentliche Hausandachten werden wohl selten gehalten, dafür werden von den Frauen in manchen Familien die täglichen Betrachtungen der christl. Abreisskalender gelesen u. hie u. da ein besonders "träfes Zeddeli" dem Manne vorgelesen.
»

Woraus man unschwer ersehen kann: die religiöse Alltagsversorgung wurde von den Männern an ihre Frauen delegiert. Auch und gerade wenn es dabei ums Lesen ging. Was (ihr) wichtig war, das las sie ihm ja dann vor. Er konnte sich dafür den handfesten, weltlichen Dingen widmen - und die Berichte über Vieh- und Getreidemärkte gründlich studieren.

Quelle

  • Kirchenpflegeprotokoll Weiach, 1924 - S. 405-406.

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