Sonntag, 22. Oktober 2006

Im Kreise der Wehrkirchen Europas

Jüngst publizierte Schriften, wie die Broschüre zum Jubiläum «300 Jahre Kirche Weiach», laufen immer Gefahr, dass kurz nach Redaktionsschluss und abgeschlossenem Druck noch etwas bisher Unbekanntes auftaucht - und sei es auch nur eine Literaturstelle.

In diesem Fall handelt es sich um einen Bildband des deutschen Kirchenexperten Karl Kolb aus dem Jahre 1983. Auf 179 Seiten beschreibt er das Phänomen der Wehrkirchen in Europa.

Vor allem in Ungarn und in Siebenbürgen, aber auch in Frankreich, findet man befestigte Gotteshäuser noch heute in grosser Zahl: die Insel Mont Saint-Michel ist lediglich die bekannteste unter diesen Kirchenfestungen.

Grosses Thema - komprimierte Abhandlung

Kolb hatte eine Herkules-Arbeit mit Reisen durch ganz Europa hinter sich und die schwierige Aufgabe, ein weitgespanntes Thema auf weniger als 200 Seiten abzuhandeln - Literaturverzeichnis und Ortsregister inklusive.

Die Wehrkirchen der Schweiz umfassen im Textteil nur gerade fünf Seiten. Im Bild vorgestellt werden u.a. die Bergkirche von Raron im Kanton Wallis, die St.Arbogast-Kirche in Muttenz und die Kirche von Boswil im Kanton Aargau.

«Längst vergessene Religionskämpfe» und andere Ungereimtheiten

Ein Abschnitt über die Nordostschweiz streift auch den Kanton Zürich:

«Als anderswo die Religionskämpfe als Folge der Reformation längst vergessen waren, erreichten in der Schweiz die Villmerger Kriege ihren Höhepunkt. Um 1700 stand noch ein weiterer Kampf mit den 1656 besiegten reformierten Ständen bevor. Deshalb bauten die Züricher überall dort ihre Kirchhöfe aus, wo sie Überfälle aus der Nachbarschaft befürchteten.

Im Kunsthistorischen Museum von Genf hängen zwei Gemälde, die sich über diesen Krieg lustig machen. Ein Bär und ein Stier übernehmen die Rolle der Hauptleute, die ihre Mannen ins Feld führen.

In Weiach ZH wurde sogar die alte Kirche abgerissen und 200 Meter weiter an einer taktisch günstigeren Stelle eine neue von dem Züricher Festungingenieur Hans Caspar Werdmüller errichtet. Zusammen mit dem Pfarrhaus von 1591 und dem Friedhof entstand so ein Fort. Von dieser Kirchenfestung des 18. Jahrhunderts zeugen noch die Schießscharten in der hohen Friedhofsmauer.

Derselbe Festungsingenieur hatte zuvor schon die militärischen Kirchenneubauten in Schönenberg ZH am Hirsel (1702) und danach in Bachs ZH (1713) errichtet, und 1662 kam der übereck gestellte Festungsbau mit Wehrgang und Schießscharten dazu.
»

Zu diesen Ausführungen ist ein ganzes Büschel von Anmerkungen zu machen:

  • Erstens wage ich zu bezweifeln, dass anfangs des 18. Jahrhunderts, kaum mehr als 50 Jahre nach dem Westfälischen Frieden von 1648, die erbitterten Religionskämpfe des Dreissigjährigen Krieges «längst vergessen» waren. Über den 2. Weltkrieg diskutieren wir schliesslich auch heute noch.
  • Zweitens übernimmt Kolb für das Pfarrhaus Weiach eine in der Literatur zwar häufig genannte, aber irreführende Jahrzahl. Es ist keineswegs bewiesen, dass es sich bei dem 1591 für den ersten in Weiach wohnhaften Pfarrer von der Zürcher Obrigkeit angekauften Haus um das anfangs des 18. Jahrhunderts zusammen mit der neuen Kirche in die Befestigung integrierte heutige Pfarrhaus handelte. Mitte des 17. Jahrhunderts soll das Weiacher Pfarrhaus nämlich bei einem Dorfbrand den Flammen zum Opfer gefallen sein.
  • Weiter wundert man sich über die Verschreibung des Hirzel zu «Hirsel», was verdächtig nach einer Niederschrift nach mündlicher Mitteilung aussieht.
  • Vollends unklar wird die Darstellung schliesslich beim «übereck gestellten Festungsbau» von 1662. Es ist mir schleierhaft, auf welche Anlage sich Kolb hier bezieht. Jedenfalls kann es sich nicht um einen von Hans Caspar Werdmüller (1663-1744) erstellten Bau handeln.
  • Daneben nimmt sich die - bei einem deutschen Autor und deutschem Verlag leider zu erwartende, aber von Hiesigen als falsch empfundene - Schreibform «Züricher» noch harmlos aus.

Alles in allem lässt dieses Werk also etliche Fragen offen. Die Zweifel an der Exaktheit der Darstellung werden auch nicht kleiner, wenn man entdeckt, dass auf Seite 158 unsere Kirche sogar in einer Kartenskizze mit dem Titel «Die Wehrkirchen im Rheintal» eingezeichnet ist.

Die Skizze beginnt bei Weiach, vermerkt Kaiserstuhl (sonst nirgends im Text erwähnt) und Muttenz und endet mit Köln.

Hier ist die Problematik, die damit verbunden ist, eine Kirchenfestung des beginnenden 18. Jahrhunderts mit den rheinabwärts gelegenen, eher mittelalterlichen Bauwerken in eine Reihe zu stellen, deutlich zu spüren.

Risiken und Nebenwirkungen von Google

Anmerkung: Ohne Google Books wäre ich kaum auf diese Literaturstelle gestossen. Zu früheren Trouvaillen und den mit dem Google-Projekt verbundenen Risiken vgl. die WeiachBlog-Artikel vom 17. November 2005 und 16. März 2006.

Quelle

  • Kolb, K.: Wehrkirchen in Europa. Eine Bild-Dokumentation. Echter Verlag, Würzburg 1983 - S. 133 u. 158.

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