Donnerstag, 1. August 2024

Mündliche Landesverteidigung. Der General zum 1. August 1944

«Die Vergangenheit ist nicht vorbei. Sie ist nicht einmal vergangen.»
-- Christa Wolf in ihrem Roman «Kindheitsmuster».

Kriege finden immer auch in Köpfen und Körpern statt. Und sie wirken über Generationen. Das merkt heute wieder, wer auf die Entwicklungen im Osten Europas schaut. Und man bemerkt es an den Verwerfungen auf dem Balkan. Etwas weniger ausgeprägt stellt man das auch hier bei uns fest. In unseren Biographien, bzw. denen unserer direkten Vorfahren. Denn so lange ist das nicht her. Als der hier Schreibende das Licht der Welt erblickte, da war's noch kein Vierteljahrhundert her seit dem Ende des Dritten Reiches. So nah ist das.

Wenn die Flut zurückweicht

Heute vor 80 Jahren war der Krieg in Europa nicht mehr von Blitzsiegen der Achsenmächte geprägt, sondern von ihren Rückzugsgefechten an allen Fronten. Mit der Landung auf Sizilien, der Operation Husky, hatte es im Sommer 1943 begonnen. Seither wackelte Italien. Mit der Landung der Westallierten am 6. Juni 1944 in der Normandie, sowie dem Beginn der Operation Bagration im Osten am 22. Juni 1944 war vollends klar geworden, dass der Zusammenbruch der Deutschlands nur noch eine Frage der Zeit sein würde. In die Enge getriebene Raubtiere sind aber bekanntlich besonders gefährlich.

Und in dieser Situation wandte sich der Oberbefehlshaber der Schweizer Armee, Viersternegeneral Henri Guisan, an seine Unterstellten. Mit folgenden Worten, die der Truppe vorgelesen werden mussten. Die aber auch in diversen Druckerzeugnissen verbreitet wurden:

Tagesbefehl für den 1. August 1944

Soldaten,

Kürzlich haben wir des Jahrestages von Dornach gedacht [22. Juli 1499], bald werden wir auch denjenigen von St. Jakob an der Birs feiern [26. August 1444]. Heute erinnert Euch der 1. August an die Entstehung unseres Landes. Solche Rückblicke sind vom Guten: Man soll die Taten seiner Vorfahren kennen und ihre Erinnerung ehren, wenn sie uns ein Beispiel mutiger und klarer Haltung in wirrer Zeit sind, einem zahlreicheren und stärkern Gegner gegenüber.

Es ist jedoch die Gegenwart und die nächste Zukunft, die Euch vor allem bekümmert, und Ihr habt recht.

Die Gegenwart? Der Boden unserer Väter ist unangetastet geblieben. In Eurem täglichen Leben begegnet Ihr sicherlich Schwierigkeiten, doch sind sie überwindbar und wahrscheinlich bescheiden, wenn Ihr der Leiden anderer Völker gedenkt. Fünf Friedensjahre inmitten eines kriegsversengten Europas sind ein unschätzbares Gut. Ihr kennt die Mühen, die Euch dafür auferlegt werden: einige hundert Diensttage je nach Altersklasse und nach Waffengattung. Ist das ein zu hoher Preis für die Erhaltung unserer Freiheit?

Die Zukunft? Was würden die bis anhin getragenen Opfer nützen, frage ich Euch, wenn Ihr nicht bis zum Ende der Prüfung ausharren würdet? In meinem letzten Tagesbefehl habe ich erklärt, dass die geforderten Massnahmen stets der bestehenden Lage angepasst sein würden und dass den für Euch und für das Land lebenswichtigen Arbeiten Rechnung getragen würde, soweit es die Sicherheit gestattete. So ist es geschehen: Ein Teil der im Juni aufgebotenen Truppen konnte bereits nach Hause entlassen werden.

Der Krieg hat jedoch noch nicht die Gebiete und die Phase erreicht, die für uns zur grössten Gefahr werden könnten; es mögen uns noch dringendere Alarmrufe bevorstehen. Vielleicht müssen wir — wer kann es wissen — schon in Bälde in grösserer Zahl zu den Waffen eilen, oder gar in unserer Gesamtheit, wie im September 1939. Und im Mai 1940. So darf denn, wenn ich gewisse Entspannungsmassnahmen befehle, diese «Entspannung» für Euch nie eine «Erschlaffung» bedeuten. Schon morgen kann die Stunde des Alarmes schlagen.

Für diese Stunde, auf die wir uns bis zum Ende dieser Tragödie unermüdlich vorzubereiten haben, werden Euch fortlaufend neue Waffen geliefert: Sie sind von Jahr zu Jahr zahlreicher und moderner, auf ihre Vollkommenheit dürft Ihr stolz sein. Doch wären diese Waffen nutzlos, wenn nicht Eure moralische Stärke, Euer Eifer und Euer Glaube unversehrt erhalten blieben.

Ihr habt heute den Vorzug, Eure Pflicht zu kennen, einer eindeutigen Weisung zu gehorchen. Wenn morgen Euer Leben gefordert wird, so würde Eure Familie wissen, dass dieses Opfer nicht vergeblich war. Kann jeder in unserer Welt dasselbe sagen?

Darum zeigt, Schweizersoldaten, an diesem 1. August allen denen, die Euch umgeben und die Ihr beschützt, denen die kämpfen und leiden, dass Ihr bis zum Ende treu Eure Weisungen erfüllt und würdig Eures Vorrechtes bleibt. 

General Guisan.

Quelle

  • Tagesbefehl für den 1. August 1944. In: Das Rote Kreuz. Organ des Schweizerischen Roten Kreuzes und des Schweizerischen Samariterbundes. Bd. 52 (1944), Heft 31, S. 315.

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