Sonntag, 11. August 2024

Werden die Rheinbrücken im letzten Moment noch gesprengt?

«Was einigermassen gerade gewachsen ist, steckt in einer Uniform.» (WeiachBlog Nr. 872)

Diese Beobachtung aus den ersten Tagen des Zweiten Weltkriegs (Mitte September 1939) im Jestetter Zipfel findet man in einem Tagebuch einer Einheit der Schweizer Armee. Konkret: In einer Meldung von Hauptmann Beurer, Kommandant Gz Füs Kp II/269, an das vorgesetzte Bataillon.

In den letzten Tagen des Krieges waren die Einheiten dieses Bataillons, wiewohl zuständig für den Grenzabschnitt, an dem Weiach liegt, nicht mehr im Einsatz. Sie wurden ca. 3 Wochen vor der Waffenstillstandsvereinbarung entlassen und durch eine Einheit des Feldheeres ersetzt.

Was machen die Deutschen da an der Brücke?

Hauptmann Rohrer, Kommandant V/269, der mit seiner Einheit seit 1940 in Ablösungsdiensten immer wieder bei der Bewachung des Städtchens Kaiserstuhl zum Einsatz kam, war in den letzten Tagen bereits aus dem aktiven Dienst entlassen. 

Aber auch er hatte 1945 auftragsgemäss ein scharfes Auge auf die Aktivitäten gleich ennet der Grenze. Konkret: am nördlichen Brückenkopf beim Schloss Rötteln.

So wurde unter dem 29. März 1945 in seinem Tagebuch notiert: «Beim deutschen Zoll herrscht rege Geschäftigkeit. Wahrscheinlich wird ein Kantonnement eingerichtet.»

Und am 5. April 1945: «Deutscherseits wird die Tankbarrikade eingesetzt und somit der kleine Grenzverkehr gesperrt.»

Eine Mannschaftsunterkunft? Panzersperren aus Stahlträgern? Männiglich fragte sich: Was planen die Deutschen denn da? Die Fragen waren berechtigt.

Zu diesem Zeitpunkt hatte sich nämlich die vor allem aus Kolonialtruppen reorganisierte Première Armée Française unter General de Lattre de Tassigny bereits seit einigen Tagen erfolgreich auf dem rechten Rheinufer festgesetzt; am 4. April rückten sie in Karlsruhe ein. Die Lage war für die deutschen Verbände zunehmend aussichtslos. Die Befehle aus Berlin wurden trotzdem ausgeführt, wie man dem Eintrag zehn Tage später entnehmen kann:


Sonntag, 15. April 1945: «Deutscherseits wird den ganzen Tag gearbeitet. Die Brücke wird geladen. Der Sprengstoff ist überall befestigt, die Zündleitung wird neu erstellt. Of. inspizieren und erteilen Weisungen. Seit Samstag 14.4.45 steht ein Wachtposten auf der Mitte der Brücke.»

Die Kp V/269 tritt ab...

Am Montag, 16.4.1945, war dann für Rohrer und seine Leute die Zeit der Demobilmachung gekommen:

«2125 Ankunft der Wache Kp I/7. Orientierung und Einführung in die Wachtaufgabe.

2245 Wache durch Kp. I/7 übernommen.»

Unter dem Donnerstag, den 19. April 1945 steht im Kommandantentagebuch:

«Die Materialabgaben sind weit fortgeschritten so dass mit einer frühzeitigen Entlassung gerechnet werden kann. Das trifft auch ein. 10 00 Standartenabgabe. Anschliessend Kp.weise Entlassung.

Ein letzter Händedruck, dann stiebt alles auseinander. Wann wird man sich wiedersehn?»

Und als letzter Eintrag das hier:


... und wird durch Kp I/7 ersetzt

Für die oben erwähnte Kompanie I/7 war der Krieg aber noch nicht vorbei. Denn das war er auch für die Uniformierten und Zivilisten auf der deutschen Seite noch nicht. Da konnten noch alle möglichen und unmöglichen Aktionen kommen. Dem SS-General Keppler traute man in der Schweiz jedenfalls schlicht nicht über den Weg (vgl. WeiachBlog Nr. 1504).

Für diesen Fall wollte die Armeeführung unter General Guisan gewappnet sein. Schweizer Verbindungsoffiziere nahmen Kontakt zur 1. Französischen Armee auf und erreichten, dass ihr Kommandeur der 3. Kampfgruppe der 9. Kolonial-Infanteriedivision den Befehl gab, am 23. April von Freiburg i. Br. entlang des Oberrheins bis Lörrach und dann den Hochrhein hinauf vorzustossen. Derweil stiessen andere Verbände derselben Armee nördlich des Schwarzwalds bis zur Schweizergrenze mit Ziel Konstanz.

Welche Kp I/7 stand nun in Kaiserstuhl? Eine Suche in der Tagebücher-Hierarchie auf dem OPAC des Schweizerischen Bundesarchivs ergibt nur eine Möglichkeit: Die Schützenkompanie I/7. Von anderen Verbänden mit derselben Nummer sind keine Tagebücher erhalten. 

Auf gut Glück habe ich daher den Auftrag erteilt, die Tagebücher der S Kp I/7 digitalisieren zu lassen. Gestern Morgen war es so weit: Nun kann sie jedermann online einsehen. Und tatsächlich: Diese Kompanie hat die V/269 abgelöst.

Erstaunlich minimale Bewachungs- und Beobachtungsstärke

Die S Kp I/7 unter Oberleutnant Hug war zwar eine für eine Kompanie ausserordentlich grosse Einheit (fast 350 Mann!), hatte aber einen sehr langen Grenzabschnitt zu bewachen und zu beobachten: von Kaiserstuhl bis Stein am Rhein – allein die Schaffhauser Grenze zu Deutschland misst über 150 Kilometer. Die Kompanie diente sozusagen lediglich als Alarmglocke, um bei Gefahr mit stärkeren Kräften intervenieren zu können. Für Kaiserstuhl waren das 27 Mann, für Rheinsfelden 31:

Aufstellung über die Wachtbestände im Sicherungsraum Gz. Br. 6
Blatt 2 des GEHEIM klassifizierten Dokuments vom 21. April 1945 
(CH-BAR E5790#1000/948#241*; Dokument-Fortsetzung_0000010, S. 3 v. 30)

Die Higa nehmen Fühlung auf

In Oberleutnant Hugs Tagebuch finden sich ebenfalls Einträge zu den Rheinbrücken:

24. April 1945 – «Über die Lage an der Nordgrenze herrscht immer noch nicht völlige Klarheit. Singen, so verlautet gerüchteweise, soll wieder in den Händen der SS sein. Posten Wiesholz stellt dort leichte Schiessereien fest.»

Wiesholz ist ein Weiler im Ramserzipfel (Gebiet um Stein am Rhein), östlich des Siedlungsschwerpunkts von Ramsen. Und weiter:

«Die Higa-Angestellten bei den auf deutsches Gebiet führenden Rheinbrücken werden immer "vertrauter". Auch bei ihnen ist der Wille zum Kampf erlahmt. Überall geben sie den Schweizer Grenzwächtern zu verstehen, dass sie im fraglichen Moment zu uns übertreten werden. Auch sind sie glücklicherweise für uns nicht gewillt, die erst seit kurzem geladenen Brücken in die Luft zu sprengen.»

Higa? Das Kürzel steht für «Hilfs-Grenzzoll-Angestellte». Einer Schrift der Montafoner Museen (Kasper 2008) kann man entnehmen: «Die „Higa“ waren zumeist einheimische Männer älteren Jahrgangs, die vom Zollgrenzschutz ausgebildet wurden.» Ähnliches geht aus einer Arbeit über das andere Ende Österreichs (Grenze Burgenland-Ungarn) hervor. Viele dieser Einheimischen wurden aber 1941 für den Russlandfeldzug eingezogen.

In einer ausführlichen Online-Dokumentation über den Zollgrenzschutz wird erläutert, wie stark diese dem Reichsfinanzminister unterstellte uniformierte und bewaffnete Hilfstruppe bereits ab 1933 mit Elementen der SS durchsetzt wurde. Mitte 1944 wurde sie gar direkt der SS-Führung zugeteilt:

«Nach dem Stauffenberg-Attentat auf Adolf Hitler im Juni [recte Juli] 1944 übernahm das SS-Reichssicherheitshauptamt den Zollgrenzschutz, wobei sich der Einsatz zunächst nur wenig änderte. Mit der Zeit wurde Hilfspersonal aber auch zur Bewachung in Gefängnissen sowie Konzentrations- und Arbeitslagern eingesetzt. Ab etwa Mitte 1944 wurde der Zollgrenzschutz unter dem Druck der vorrückenden Alliierten vielfach in sogenannte Zollgrenzschutz-Bataillone zusammengefasst und in Kampfhandlungen verwickelt, bei denen es ebenfalls hohe Verluste gab.»

Ob es sich bei diesen Männern an unserem Grenzabschnitt um einheimische Süddeutsche ohne SS-/NSDAP-Mitgliedschaft oder in der Wolle gefärbte Systemlinge aus sonstigem Reichsgebiet gehandelt hat (wie im Montafon, vgl. Kasper 2008), ist also schwer festzustellen. Laut Einschätzung von Oblt Hug waren aber diese Leute nun plötzlich mehr oder weniger offen um Schadensbegrenzung bemüht.

Die Vorhut der Franzosen trifft ein

Nur wenige eingefleischte Parteibonzen wollten um jeden Preis den Nero-Befehl des Führers in die Tat umsetzen. Die meisten dachten bereits an die Zeit danach. So war das in Hohentengen, wo man sich entschied, mit weissen Tüchern Übergabebereitschaft zu signalisieren. Das Schicksal der Stadt Tiengen, die auf Befehl der NSDAP-Ortsgrössen auf diese Signale verzichtete und danach aus der Luft beschossen wurde, hatte seine Wirkung nicht verfehlt. Und so war das auch beim Schloss Rötteln am nördlichen Brückenkopf der Kaiserstuhler Brücke, wie man dem Tagebuch der S Kp I/7 entnehmen kann:

25.4.45 – «Vht. [Vorhuten] der franz. 1. Armee besetzen Waldshut und stossen weiter vor Richtung Wutachtal. Brücke Kaiserstuhl und Brücke Rheinau werden von den deutschen Grenzorganen (Higa) samt den Zünd- und Sprengmitteln den schweiz. Zollbehörden übergeben. Die Higa wird interniert. Radolfzell von den Franzosen besetzt.»

Die Holzbrücke bei Rheinau und die Stahlbogenbrücke bei Kaiserstuhl waren damit gerettet.

Letzte Gefechte: Fützen brennt

Dass es auch anders gehen konnte, zeigte sich beim Vorstoss der Franzosen entlang der Schaffhauser Westgrenze (d.h. im Wutachtal). Wieder das Tagebuch der S Kp I/7:

26.4.45 – «Vht. der franz. 1. Armee rücken vor Richtung Fützen. Um Fützen wird heftig gekämpft. Die Ortschaft steht in Flammen. Die Bewohner flüchten sich z.T. über die Grenze.»

In der Wikipedia findet man dazu im Artikel über Fützen folgende Passage: 

«Im April 1945, als ein Rest der 19. deutschen Armee auf dem Rückzug durch den Schwarzwald den Ort gegen nachdrängende französische Truppen hartnäckig verteidigte, um einen Durchbruchsversuch aus dem Talkessel in Richtung Bodensee und Allgäu abzuschirmen, kam es zu Nahkämpfen im Dorf. Danach waren 16 Häuser verbrannt und fast alle anderen sowie der Kirchturm stark beschädigt. Die Gewölbekeller einiger Gebäude bewirkten, dass unter den Bewohnern, die zum Teil auch an die Schweizer Grenze geflohen waren, mit drei Toten und mehreren Verletzten die Opferzahl relativ gering blieb.»

Für unsere unmittelbare Umgebung brachte hingegen auch der 26. April erneute Erleichterung, wie man dem Tagebuch S Kp I/7: «Die deutsche Besatzung beim Kraftwerk Rheinsfelden tritt mitsamt den Spreng- und Zündmitteln in die Schweiz über.»

Auch die Schweiz tat alles um die Brücken zu retten

Um zu verhindern, dass schweizerischerseits in letzter Minute jemand den Kopf verliert und wichtige Brücken von unseren eigenen Mineuren gesprengt werden, hat der Kommandant der Grenzbrigade 6 den Entscheid über die Sprengung den Einheiten vor Ort entzogen und dem Kdt S Kp I/7 übertragen. Ohne explizite Einwilligung von Oberleutnant Hug durften diese Objekte nicht gesprengt werden:

Kdo S Kp I/7, Kdt. Oblt Hug: Kp-Befehl No.1, K.P. 17.4.45. Allg. Weisungen für den Wachtbetrieb. An die Wacht-Kdt, Stein a/Rh. bis Kaiserstuhl, Beob P. Wiesholz, Wunderklingen, Ob Lucken. (CH-BAR E5790#1000/948#241*; Dokument-Fortsetzung_0000010, S. 9 v. 30)

Kepplers Anteil?

Bleibt noch die Frage, welchen Anteil der SS-General Georg Keppler an der Verschonung der Rheinbrücken hatte. 

Ihm wurde am 14. April 1945 die im südlichen Abschnitt Offenburg bis Basel befindlichen Einheiten der sich de facto auflösenden 19. Armee unterstellt. Nur der Stab des XVIII. SS-Armeekorps (dessen Kommandeur Keppler seit 12. Januar 1945 war) bestand aus SS-Offizieren, die Truppe selber war wild zusammengewürfelt aus Resten von Divisionen der Wehrmacht, dem Volkssturm, dem Zollgrenzschutz (samt Higa) und Festungstruppen vom Westwall. 

Entgegen einem Führerbefehl unterband Keppler am 16. April die Verteidigung von Freiburg i. Br. und zog seine Einheiten nach Osten zurück, wo er seinen Grossverband am 26. April in der Nähe von Blumberg (an der Schaffhauser Grenze) auflöste.

Offenbar wurden auch die zivilen Behörden und insbesondere die NSDAP-Strukturen angewiesen, «alle Kampfhandlungen oder Zerstörungen ihrerseits oder seitens des Werwolfes zu unterlassen bzw. mit allen Mitteln zu unterbinden. Keine Zweifel hat General Keppler daran gelassen, daß er bei Zuwiderhandlungen die Verantwortlichen unverzüglich vor ein Standgericht bringen werde.» (zit. Wikipedia n. Riedel, S. 63).

Die Aufzeichnungen des Stabschefs des XVIII. Armeekorps ab dem 19. April (vgl. Anm. 6 im Wikipedia-Artikel Kriegsende im Südschwarzwald) stützen diese Darstellung:

«Es gelang, die Sprengung der Schwarzenbach-Talsperre im Nordschwarzwald zu verhindern. […] Ihm [Keppler] kam es darauf an, zunächst die Gauleitung auszuschalten. Gauleiter Robert Wagner konnte ihm als Reichsverteidigungskommissar Schwierigkeiten machen. Dies gelang erst […] nach der Flucht des Gauleiters.“ Keppler entzog örtlichen NSDAP-Organen die Befehlsbefugnis und unterband konsequent Werwolfaktionen.»

Das könnte die durchgehend ähnliche Reaktion der Higa-Männer an der Schweizer Grenze zwischen Kaiserstuhl und Stein am Rhein erklären.

Quellen und Literatur

  • Tagebuch Gz. Füs. Kp. V/269, Bd. 10, 1944-1945. Signatur: CH-BAR E5790#1000/948#1875*.
  • Tagebuch S. Kp. I/7, Bd. 6, 16.4.- 3.5.1945. Signatur: CH-BAR E5790#1000/948#241*.
  • Riedel, H.: Halt! Schweizer Grenze! Das Ende des Zweiten Weltkrieges im Südschwarzwald und am Hochrhein in dokumentarischen Berichten deutscher, französischer und Schweizer Beteiligter und Betroffener. Südkurier Verlag, Konstanz 1983.
  • Kasper, M: "Durchgang ist hier strengstens verboten." Die Grenze zwischen Montafon und Prättigau in der NS-Zeit 1938-1945. In: Hessenberger, E. (Hrsg.): Grenzüberschreitungen. Von Schmugglern, Schleppern, Flüchtlingen. Aspekte einer Grenze am Beispiel Montafon-Prättigau. Sonderband zur Montafoner Schriftenreihe 5. Schruns 2008 – S. 79-108.
  • Brandenberger, U.: «Weltwoche» von den Deutschen konfisziert. WeiachBlog Nr. 872, 7. Juli 2010.
  • Ritter, H.: Die "HIGA" von Lutzmannsburg. Ein Beitrag zum Thema "Burgenland im Nationalsozialismus". In: Burgenländische Heimatblätter, Bd. 75 (2013) – S. 105-136.
  • Brandenberger, U.: Auch dank der Armee am Kriegsende verschont geblieben. WeiachBlog Nr. 1504, 8. Mai 2020.
  • Goris, M. (Hrsg.): Verstärkter Grenzaufsichtsdienst (VGAD) / Zollgrenzschutz-Reserve. In: Zollgrenzschutz.de. Geschichte & Hintergründe (Website). Abschnitt Organisation 1919-45. Unterabschnitt Personal. 
  • Wikipedia-Artikel Kriegsende im Südschwarzwald, Abschnitt Französischer Vorstoss zur Schweizer Grenze. Sehr ausführlich und mit vielen Anmerkungen und Hinweisen.

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