Freitag, 13. August 2021

Den Makel der Tochter der Aussenwelt gegenüber gedeckt

«What's in a name?», fragte William Shakespeare 1597 in seiner Tragödie Romeo und Julia. Und das Englische bietet gleich noch eine weitere sprachliche Wendung: «calling names». Heisst: jemanden hänseln, beschimpfen oder, zürichdeutsch gesagt, ihm Schlötterlige anhängen.

Namen transportieren Identität, Legitimität, Tradition, und was dergleichen immaterielle Werte (und Abwertungen) mehr sind. Und deshalb steckt hinter einer Namensänderung meist wesentlich mehr, als man auf den ersten Blick denkt.

Was der Zürcher Regierungsrat genau heute vor 125 Jahren auf dem Tisch hatte, trägt zwar den simplen Titel «Namensänderung», hat aber einen tragischen Hintergrund. Eine Geschichte von Ablehnung, Emigration und dem Versuch, trotz herrschender Sozialnormen das Leben erträglich zu gestalten.

Wenn die Jungfrau mit dem Eisendreher

Doch gehen wir medias in res, mittenhinein in dieses Geschäft. Denn das Protokoll legt Sachverhalt, Begleitumstände und Abgründe recht ausführlich dar. Bühne frei für eine Weiacher Tragödie des späten 19. Jahrhunderts:

«A. Mit Zuschrift vom 4. Mai 1896 stellt Herr Advokat Dr. Schnabel in Zürich namens der Fräulein Rosa Bersinger, geboren 1875 von Weiach, wohnhaft an der Schaffhauserstraße No. 65, in Zürich IV, außereheliche Tochter der Frau Witwe Katharina Gamper geb. Bersinger daselbst, im Einverständnisse der letztern, das Gesuch um Bewilligung an Rosa Bersinger zur Führung des Geschlechtsnamens „Gamper“, indem er zur Begründung seines Gesuches anführt:

Die jetzige Frau Katharina Gamper geb. Bersinger habe als Jungfrau Bersinger ein Verhältnis mit einem gewissen Jules Wasner, Eisendreher, von Marseille gehabt, welches den 16. Mai 1875 zur Geburt der Petentin Rosa Bersinger geführt habe. Zwei Jahre später sei die Jungfrau Bersinger mit ihrem Kinde von ihrem Heimatsorte Weiach nach Oerlikon gezogen und habe im Jahre 1880 den Mechaniker Gottfried Gamper in Stettfurt geheiratet.

Wohnhaft seien die Eheleute mit dem Kinde in Matzingen gewesen. Schon 1882 sei der Ehemann Gamper gestorben und Frau Gamper mit ihrer Tochter Rosa nach Oerlikon übergesiedelt. In den Schulen zu Oerlikon und nachher zu Unterstraß sei die Tochter Rosa nur unter dem Namen Rosa Gamper bekannt gewesen und von den Lehrern und Mitschülern immer so benannt worden, was aus einer Anzahl Schreibhefte, Zeichnungen und Zeugnisse hervorgehe. Nach Absolvirung der Primär- und Realschule sei die Rosa Bersinger in die Lehre getreten und auch in Lehrvertrag und Zeugnissen sei immer nur von einer Rosa Gamper die Rede. Ebenso in der Korrespondenz seien alle Briefe an Rosa Gamper gerichtet, eine Rosa Bersinger kenne niemand. Die Petentin habe bis vor wenigen Jahren nicht gewußt, daß sie uneheliches Kind sei und eigentlich Bersinger heiße. Erst in neuerer Zeit, als sie behufs Anstellung in einem ersten ausländischen Modegeschäfte die Aushingabe ihrer Schriften verlangt habe, habe sie gesehen, daß die Mutter mit ihrem Frauennamen den Mackel der Tochter der Außenwelt gegenüber gedeckt habe. Der Gedanke an ihre außereheliche Herkunft habe denn auch die Petentin viel gequält.

B. Der Gemeindrat Weiach, zur Vernehmlassung eingeladen ist für Abweisung des Gesuches, jedoch ohne stichhaltige Gründe in seinem Antwortschreiben vom 13. Juli 1896 vorzubringen, dagegen empfiehlt der Bezirksrat Dielsdorf in seiner Begutachtung vom 4. August 1896 das Gesuch zur Entsprechung. 

Hierauf hat der Regierungsrat, nach Einsicht der bezüglichen Akten, sowie eines Antrages der Direktion des Innern,

beschlossen:

I. Der Rosa Bersinger, von Weiach, geb. 16. Mai 1875, wohnhaft in Zürich IV, wird die Bewilligung erteilt, den Geschlechtsnamen „Gamper“ zu führen. 

II. Mitteilung an Herrn Advokat Dr. Schnabel in Zürich zu Handen der Petentin unter Rücksendung der Akten (Beilagen 1–11), an den Bezirksrat Dielsdorf und an den Gemeindrat Weiach für sich und zu Handen des dortigen Zivilstandsamtes.»

Wenn Sozialdisziplinierung Unschuldige trifft

Ja, man kann Katharina, der Mutter von Rosa Gamper vorwerfen, nicht ehrlich gewesen zu sein. Man kann ihr vorwerfen, ihrem Kind vorgespiegelt zu haben, einen anderen Vater zu haben. Das waren aber auch noch andere Zeiten. 

Der Makel, ein ausserehelich geborenes Kind, ein Kegel zu sein, hatte viele negative Auswirkungen. Obwohl ja das Kind selber am wenigsten dafür kann, so wurde es doch gemobbt und immer wieder auf diese illegitime Herkunft reduziert.

Man sieht hier, wie der jahrhundertelange, der gravierenden Ressourcenknappheit seit der Frühen Neuzeit geschuldete, obrigkeitliche Dressurakt der ländlichen Gesellschaft in Fleisch und Blut übergegangen ist. Wilde Ehen und die daraus entstehenden Kinder als deren sichtbarer Ausdruck sind zu verhindern. Punkt.

Sich dem Zugriff entzogen

Noch in den 1860er-Jahren waren Eheverbote gang und gäbe. Und wurden von den Gerichten gestützt (vgl. Weiacher Geschichte(n) Nr. 64; s. Quellen und Literatur unten). Mit der Annahme der Bundesverfassung von 1874 war es aber schon etwas schwieriger geworden, diese Form der Sozialdisziplinierung durchzusetzen. Eheverbote aufgrund mangelnder Mittel waren ab da nämlich nicht mehr statthaft. Das Recht auf Ehe «darf weder aus kirchlichen oder ökonomischen Rücksichten, noch wegen bisherigen Verhaltens, oder aus andern polizeilichen Gründen beschränkt werden» (Art. 54 BV 1874)

Aus welchen Gründen Katharina Bersinger aus ihrem Heimatdorf Weiach – dessen Bürgerin sie bis zur Heirat mit dem Thurgauer Gamper war – weggezogen ist, das kann man nur indirekt erschliessen. Allenfalls ist in den Weiacher Armenprotokollen noch etwas Schriftliches zu finden (im Stillstandsprotokoll gibt es dazu keinen Eintrag). 

Unabhängig davon ist es bemerkenswert, dass man ihr das damalige Verhalten offensichtlich auch zwei Jahrzehnte später noch nachgetragen hat. Und sei es, weil sie zur alten Dorfaristokratie gehörte (worauf der Name Bersinger hinweisen könnte, denn diesen Namen trugen etliche einflussreiche Weiacher Untervögte im 18. Jahrhundert).

Den Gemeinderat Weiach wider den Strich gebürstet

Es spricht jedenfalls sehr für die Aufgeschlossenheit und Menschlichkeit des gesamten Verwaltungsapparats, vom Bezirksrat Dielsdorf über die Direktion des Innern bis zum Regierungsrat selber, dass man Rosa ihren gewohnten Namen belassen und die offizielle Nachvollziehung der eigenmächtig erfolgten Legitimierung genehmigt hat.

Wenn der Regierungsrat schreibt, der (als einziger) ablehnende Bescheid des Gemeinderates Weiach sei «ohne stichhaltige Gründe», dann können wir bis zum Auffinden allenfalls im Staatsarchiv oder im Gemeindearchiv noch vorhandener Unterlagen nur vermuten, welcher Art diese gewesen sind. 

Sie gingen wohl in die Richtung, dass man solches Verhalten (wie es die Abstammungslüge der Katharina Gamper-Bersinger darstellt) doch im Sinne der Generalprävention nicht noch belohnen dürfe. Aber eben: die Zeiten hatten – zwar rein juristisch, aber immerhin – bereits geändert.

Und so hat die Tragödie doch noch eine glückliche Wendung erfahren.

Quellen und Literatur

  • Namensänderung. Regierungsratsbeschluss Nr. 1489 vom 13. August 1896. Signatur StAZH MM 3.10 RRB 1896/1489
  • Brandenberger, U.: Gemeindrath hintertreibt Heirat. Johannes Meier (25) klagt vor dem Bezirksgericht Regensberg. Weiacher Geschichte(n) Nr. 64. In: Mitteilungen für die Gemeinde Weiach, März 2005.

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