Donnerstag, 12. August 2021

Beizenverbot für Sozialhilfeabhängige? Das ist nur die erste Stufe.

Wissen Sie, wie man in Verruf gerät? Nun, in früheren Zeiten griffen die Sozialbehörden zuweilen zu (aus heutiger Sicht) drastischen Methoden, wenn es darum ging, Unheil abzuwenden (oder das, was die Behörden dafür hielten).

Dazu gehörte auch die öffentliche Bekanntgabe eines Wirtshausverbots. Was in vorhergehenden Jahrhunderten noch ab der Kanzel verkündet wurde, das stand im ausgehenden 19. Jahrhundert als amtliche Mitteilung in der Zeitung. Mit vollem Namen, Zunamen und Geburtsjahr, wie z.B. im Bülach-Dielsdorfer Volksfreund vom 9. Juni 1880 (später unter dem Namen Neues Bülacher Tagblatt bekannt):

Wirthshausverbot.

«In Anwendung von § 29 des Gesetzes betreffend das Armenwesen wird dem Schuster Rudolf Baumgartner, geb. 1822, von und in hier, zubenannt Pfeifers, der Besuch der Wirthschaften und das Spielen untersagt. Wir machen vorzüglich die Wirthe in hier und in der Umgebung auf dieses Verbot aufmerksam.

Weiach, den 3. Juni 1880

Namens der Armenpflege:
J. Stünzi, Pfarrer.»

Massnahmen gegen Almosengenössige

Die Armenpflege war damals identisch mit dem sog. Stillstand, also der reformierten Kirchenpflege. Das war das gesetzlich vorgesehene Standardmodell, wie man in § 1 des Gesetzes betreffend das Armenwesen von 1853 sieht. Es wurde nach langen Abklärungen, heftigen Auseinandersetzungen und epischen Diskussionen im Kantonsparlament verabschiedet, um all die Probleme zu adressieren, die sich im Bereich der Armenfürsorge vor allem in den 1840er-Jahren gezeigt hatten. Einen Überblick zum Problemfeld gibt der Artikel Heiraten verboten! (vgl. Quellen und Literatur unten).

Das Thema Armenpolizei war als III. Titel im Gesetz von 1853 geregelt. Im Abschnitt A dieses Titels («Maßregeln gegen pflichtwidriges Verhalten Unterstützter») sieht man, dass die Massnahme gegen Rudolf Baumgartner eine Standardprozedur darstellte, die bereits ganz am Anfang einer Almosengenössigkeits-Karriere als gesetzlich festgelegter Schritt abgearbeitet wurde. 

Wirtshausverbot war Standard

Die oben zitierte Zeitungsausschnitt bedeutet deshalb nicht zwingend, dass Schuster Baumgartner ein Wirtshaushöckler oder gar Spielsüchtiger gewesen ist. In der öffentlichen amtlichen Mitteilung wird nicht umsonst auf den § 29 verwiesen. Dies diente vor allem dem Zweck, die direkt angesprochenen Wirte vor einer Busse zu bewahren: 

«§ 29. Jeder Almosengenössige, d. h. jeder Arme, der aus dem Armengute einer Gemeinde für sich oder die Seinen nicht bloß vorübergehend Unterstützung erhält, ist, insofern er überhaupt dazu fähig erscheint, zu angemessener Arbeit verpflichtet und die Armenpflege ist befugt, demselben solche nach ihrem Ermessen anzuweisen. 

Ebenso ist ein solcher Armer verpflichtet, von seinem allfälligen Erwerbe der Armenpflege Rechenschaft zu geben und denselben so wie die ihm ertheilte Unterstützung seinen Verhältnissen und der von der Armenpflege erhaltenen Weisung entsprechend zu verwenden, eine von dieser Behörde für ihn ausgemittelte Versorgung anzunehmen und überhaupt den Anordnungen derselben sich zu unterziehen. Diese Verpflichtungen gelten auch für solche Arme, welche Familienunterstützung genießen (§ 7), gegenüber den Anverwandten, welche diese letztere zu leisten haben.

Almosengenössigen ist der Besuch der Wirthschaften und das Spielen untersagt. Wer nach vorangegangener Warnung durch die Armenpflege Almosengenössige bei sich aufnimmt und bewirthet oder denselben zum Spielen Vorschub leistet, verfällt in eine Buße von Fr. 5, im Wiederholungsfalle von Fr. 10.»  

Umgerechnet nach dem Historischen Lohnindex von Swistoval.ch entsprachen 5 Franken im Jahre 1880 immerhin noch rund 275 Franken nach heutigem Stand; 1853 waren es noch über 550 Franken.

Hoheitliche Befugnisse für zahlungsverpflichtete Angehörige

Wer Verwandtenunterstützung bezog, war also rechenschaftspflichtig. Angehörige eines Almosengenössigen, die diesen unterstützen mussten, konnten qua Gesetz hoheitliche Befugnisse erhalten. Wenn sie dazu autorisiert wurden, durften sie diesem wie eine Behörde Anweisungen erteilen. Aus § 30 geht das (was in § 29 noch etwas verklausuliert formuliert ist) unmissverständlich hervor:

«§ 30. Unterstützten, welche jenen Vorschriften (§ 29) in der einen oder andern Weise zuwiderhandeln, soll nach fruchtloser Ermahnung von Seite der Armenpflege die Unterstützung, so weit dieß mit Rücksicht auf den körperlichen und geistigen Zustand des Fehlbaren und die Bedürfnisse schuldloser Glieder seiner Familie zulässig ist, entzogen werden.

Zu demselben Verfahren kann die Armenpflege unterstützende Anverwandte gegenüber den von ihnen unterstützten Familiengliedern ermächtigen, wenn diese letztern die ihnen obliegenden Pflichten (§ 29, Lemma 1) nicht erfüllen.»

Stufe 2 war also die Entziehung der Unterstützung, d.h. Kürzung der Sozialhilfe-Leistungen bis auf Null, was, wie oben erläutert, dann nicht zulässig war, wenn schuldlose Angehörige darunter zu leiden hatten. Dass es gegen Renitente weitere Stufen gegeben hat, ist deshalb nicht verwunderlich.

Stufe 3: Arrest bei Wasser und Brot

«§ 31. Wenn die Entziehung der Unterstützung erfolglos oder unzulässig ist, so kann die Armenpflege Einsperrung bei gewöhnlicher Kost, oder als Verschärfung bei Wasser und Brod und je den zweiten Tag einer Suppe bis auf die Dauer von vier Tagen verhängen. Bei fortwährender Widersetzlichkeit kann die Einsperrung mit Einwilligung des Statthalteramtes bis auf acht Tage verlängert werden. Die Einsperrung kann in einem Armenhaus, oder in einer andern geeigneten, von der Bezirksarmenpflege als zweckmäßig anerkannten Lokalität, die von jeder politischen Gemeinde, oder beziehungsweise von den zu einer Kirchgemeinde gehörenden politischen Gemeinden gemeinsam anzuweisen oder nöthigenfalls herzustellen ist, stattfinden. Statt der Einsperrung kann mit Einwilligung des Statthalteramtes die Anlegung des Blockes oder angemessene Strafarbeit, z. B. an Straßen, bis auf das Doppelte ihrer Dauer verhängt werden.»

Anlegen des Blockes! Da sind also noch antik-mittelalterliche physische Zwangsmassnahmen vorgesehen. Inwieweit die 1880 noch in Betracht gezogen wurden, wäre abzuklären. Wenn man andererseits das heutige Repertoire an physischen und medikamentösen Zwangsmassnahmen berücksichtigt, dann ist die Strafandrohung (bis auf den Stock, der je nach Modell eine Art Folter sein kann) vergleichsweise moderat.

Vierte Stufe: Gefängnisstrafe nicht unter 2 Wochen

«§ 32. Bleibt die Anwendung auch dieser Maßregel ohne Erfolg, so ist die betreffende Person durch das Statthalteramt dem Bezirksgerichte zur Bestrafung wegen Ungehorsams (§ 106 des Strafgesetzbuches) zu überweisen. In solchen Fällen soll die Strafe nicht unter zwei Wochen Gefängniß herabgehen. Statt eines Monats Gefängniß kann das Gericht im Wiederholungsfalle Eingrenzung in die Gemeinde bis auf drei Monate verhängen und bei Ueberschreitung der Eingrenzung oder wiederholten Rückfällen Anlegung des Blocks damit verbinden. Die Bezirksgerichte haben Fälle der Art mit aller thunlichen Beförderung zu erledigen.»

Was die Behörden nach Ausschöpfung all dieser im Gesetz betreffend das Armenwesen vorgesehenen Massnahmen gemacht haben? Bei einem Renitenten, der lediglich nicht arbeiten will, wie man ihm das vorschreibt, der ansonsten aber nicht straffällig wird? Dazu mehr in einem späteren Beitrag.

Quellen und Literatur

  • Gesetz betreffend das Armenwesen vom 28. Juni 1853, Signatur: StAZH OS 9 (S. 260-279) – S. 271-274.
  • Bülach-Dielsdorfer Volksfreund, Nr. 44, 9. Juni 1880 – S. 4.
  • Brandenberger, U.: Heiraten verboten! Armenwesen und Finanzen vor 150 Jahren. Handout zum Vortrag anlässlich der GV 2005 der Anlegervereine Midas und Heureka. Zürich, 14. März 2005.
  • Brandenberger, U.: Armensteuern nötig wegen zu vielen Sozialhilfeempfängern. WeiachBlog Nr. 168 v. 21. April 2006 [Nr. 168]
  • Brandenberger, U.: Eine Generation, an öffentliche Unterstützung gewöhnt. WeiachBlog Nr. 401 v. Dienstag, 20. März 2007.
[Veröffentlicht am 13. August 2021 um 00:40 MESZ]

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