Montag, 23. August 2021

Die Schweiz als japanischer Tempel

Überrascht? Diesen doch nicht ganz alltäglichen Vergleich brachte der grünliberale Nationalrat Jörg Mäder an seiner diesjährigen 1.-August-Ansprache in Weiach. Er erklärte den Zuhörenden, wie etwas jahrhundertealt und gleichzeitig neu gebaut daherkommen kann. Und was das mit unserem Staatswesen zu tun hat.

Mit einem Jahr Zeitversatz

Geselliges Beisammensein am Abend des Bundesfeiertages. Was in Weiach seit Jahrzehnten Tradition hat, wurde letztes Jahr «coronisiert». Es fand ganz einfach nicht statt, u.a. mangels einsatzbereiter Helfer (vgl. auch WeiachBlog Nr. 1557). Nun hätte man das Kernstück des Anlasses, die Rede, auch in Form einer Online-Ansprache halten können. Aber da fehlt halt einfach die menschliche Essenz: der Kontakt zu den Zuhörenden. So ist es vielleicht ganz gut, dass diese im Vorfeld erwogene Option nicht gezogen wurde.

Mäder hat sich zusammen mit den Organisatoren entschieden, seine Ansprache zu vertagen. Mit einem Jahr Versatz ist damit aus einer ungehaltenen Rede eine gehaltene geworden. 

WeiachBlog freut sich, den Volltext des Redemanuskripts für die Nachwelt festhalten zu dürfen. Wie üblich wurde der Text orthografisch durchgesehen und ist ansonsten im Originalzustand. Kursiv gesetzter Text stammt von Jörg Mäder. Nichtkursive Zwischentitel sowie Internetlinks sind redaktionelle Ergänzungen.

Ansprache von Nationalrat Jörg Mäder, glp, zum 1. August 2021

«Sehr geehrte Weiacherinnen,

sehr geehrte Weiacher,

Es ist mir eine Ehre und Freude anlässlich dieser 1. August Feier mich mit ein paar Worten an Sie wenden zu dürfen.

Stellen Sie sich ein Holzhaus vor, ein altes, richtig altes Holzhaus. Vielleicht ein Schweizer Bauernhaus, eine norwegische Stabkirche oder ein japanischer Schrein. Was sehen Sie? Schwere massive Holzbalken, von Sonne und Wetter gealtert, dunkel, vielleicht auch gräulich-blass. Das im Kontrast zu einem eben gerade erstellten Holzhaus, das hell, oft gold-gelblich erscheint, ja schon fast strahlt. Holz sieht man sein Alter an.

Dem Zahn der Zeit trotzen

Ich habe vorhin bewusst japanische Schreine erwähnt. Einer dieser Tempel, der Ise-Jingū wird jährlich von 6 Millionen Menschen besucht und ist über 1200 Jahre alt. Wenn sie ihn aber besuchen wird er gold-gelblich erstrahlen, als sei er gerade eben erst erbaut worden. Und das stimmt auch. Er wurde vor acht Jahren gebaut. Zum 62. mal. Im Jahre 2033 wird er, traditionsgemäss komplett abgebaut und zum 63. mal wieder neu aufgebaut. Alle 20 Jahre wird das gemacht, seit Jahrhunderten.

Für mich ist diese Tradition ein wunderschönes Sinnbild dafür, dass Alter mehr ist als nur das Zählen der Jahre. Denn dieser Tempel ist gleichzeitig 1200 Jahre alt, aber auch nur 8 Jahre. Und auch sein Ende ist einerseits schon festgelegt, gleichzeitig aber auch noch völlig offen. 

Es ist für mich eine Metapher, dass wer sich erneuert, dem Zahn der Zeit trotzen kann. Natürlich ist es ein extremes Beispiel. Exakt alle 20 Jahre wird erneuert und zwar alles, komplett und wieder in der exakt selben Art und Weise. Das ist nicht überall angebracht. Aber der Ansatz sich regelmässig selbst zu betrachten, sich zu hinterfragen, sich auseinanderzunehmen und sich zu erneuern, der gefällt mir.

Warum erzähle ich Ihnen das? Nun, wir feiern heute den Geburtstag einer schon recht alten Dame, unserer Heimat, der Helvetia. Keine Angst, ich möchte die Schweiz nicht alle 20 Jahre komplett abreissen und wiederaufbauen, das wäre doch ein wenig übertrieben. Aber der Schweiz ist es gelungen, sich in diesen Jahrhunderten immer wieder neu zu erfinden. Bestehendes zu hinterfragen, Bewährtes zu behalten, Veraltetes zu verwerfen und Neues zu wagen. Dank diesem Ansatz kann sich unser 730 Jahre altes Land als moderner Staat bezeichnen. Man muss jung bleiben um alt zu werden.

Von Eroberungsfeldzügen zur immerwährenden Neutralität

In der Vergangenheit waren es oft Kriege, die uns dazu brachten uns zu hinterfragen und neu zu erfinden. Ich meine, wir haben uns mit ein paar spektakulären Schlachten von den Machthabern rund um uns lösen können. Später dann waren wir in zahlreichen Schlachten präsent, nicht aber als Partei, sondern als Söldner, Reisläufer. Und das hat sich gelohnt, finanziell vor allem, aber auch bezüglich unseres Rufes in ganz Europa. Später haben wir uns, halb freiwillig, Stichwort Marignano, halb genötigt, Stichwort Wiener Kongress, für genau das Gegenteil entschieden. Wir machen ab jetzt in keinem Krieg mehr mit, der nicht unsere unmittelbare Verteidigung betrifft. Und wir leben gut mit dieser Entscheidung. Wir konnten zwei Weltkriegen ausweichen, obwohl wir geographisch mittendrin waren, sind als neutraler Staat weltweit akzeptiert und als Vermittler zwischen den Fronten glaubhaft.

Inhaltlich war das eine 180°-Kehrtwende. Aber sie war wichtig, sie war zentral für das Überleben unseres Staates. Wir mussten unser Haus, um es zu retten, massivst umbauen.

Ein anderer grosser Umbau war die Gründung der modernen Schweiz im Anschluss des Sonderbundskrieges. Wir wandelten uns von einem Staatenbund zu einem Bundesstaat um. Klingt im ersten Moment wie ein Wortspiel, ist aber entscheidend in der Art und Weise wie wir uns organisieren.

Wir sollten uns viel öfter hinterfragen

Aber es müssen nicht immer Grossereignisse sein, die uns zum Nachdenken bringen sollten und zu einer Erneuerung. Ich persönlich finde wir sollten uns viel öfter hinterfragen, Thema für Thema. Und ja, der Befund kann auch sein: "kein Problem gefunden, weiter wie bisher", aber auch, "nein, das müssen wir anders, das müssen wir besser machen". Aber einfach zu sagen, hat bisher funktioniert, wird also auch künftig funktionieren, das genügt mir nicht. Und Themen, denen wir uns annehmen sollten, deren gibt es viele. Lassen Sie mich zwei andeuten und über ein drittes etwas mehr sagen.

Ob Überschwemmungen oder Dürren, ob Plastikberge in den Ozeanen oder Mikroplastik in unserer Nahrung. Zu sagen, der Mensch hinterlasse Spuren in der Natur, ist eine Untertreibung, es sind eher Kratzer und tiefe Wunden. Noch profitieren wir davon, dass die Natur einiges aushält und ziemlich träge reagiert. Aber irgendwann ist der Kipppunkt erreicht. Es ist wie bei einem Baum, der gefällt wird. Wenn er einmal anfängt zu fallen, dauert es noch einem Moment, bis er auf dem Boden aufschlägt, aber aufhalten kann man ihn nicht mehr und um die Richtung zu ändern, ist es auch zu spät.

Die eigene Informationsblase verlassen

Wir leben im Zeitalter der Informationsgesellschaft. Wissen von allen Ecken und Enden der Welt, stehen uns per Fingertipp zur Verfügung. Klingt gut. Aber dummerweise wird dieselbe Technik auch dazu benutzt, uns komplett einzulullen in die Nachrichten, die wir gerne sehen. Das Internet hat gelernt, dass wir uns am besten fühlen, wenn unsere eigene Meinung bestätigt wird. Und wenn wir uns gut fühlen, konsumieren wir mehr. Also kreiert das Internet für jeden von uns eine eigene Informationsblase. Eine wohlige, aber eben auch sehr kleine Blase, die uns einengt und vom Rest der Welt entkoppelt. Anders gesagt, wenn ich die Metapher des japanischen Tempels wieder aufnehme: Wenn Sie wissen wollen, ob Ihr Haus noch im Schuss ist, müssen Sie nicht nur von Innen her alle Ecken inspizieren. Von Zeit zu Zeit sollten Sie mal auch rausgehen, einen Aussenblick wagen, aus der Distanz. Aber das bedeutet, die eigene Komfortzone zu verlassen, die eigene Blase aufzustechen.

Corona stellt uns auf den Prüfstand

Das dritte Thema ist Corona. Sars und Vogelgrippe haben uns damals verschont, waren Nachrichten aus der Ferne für uns, mehr nicht. Corona hingegen hat uns ins kalte Wasser geworfen und wir mussten rasch Schwimmen lernen. Vieles hat recht gut funktioniert, manches nicht. Perfektion war weder gefragt noch zu erwarten. Wir haben unseren Alltag angepasst, auf vieles Bekanntes verzichtet und Neues gelernt. Und vor allem haben wir auch sehr viel über uns selber und unsere Mitmenschen gelernt.

Wir haben gelernt, dass man vieles per Videocall machen kann, wir aber den persönlichen Kontakt doch sehr vermissen. Wir haben gelernt, dass wir ein super Gesundheitssystem haben, dass dieses die Digitalisierung noch nicht verstanden hat. Wir haben gelernt, dass es Solidarität gibt, aber nicht unbegrenzt, dass Nachbarschaftshilfe auf lokaler Ebene stattfinden muss, weil sie dort funktioniert, für Contact-Tracing aber selbst die kantonale Ebene zu klein ist. 

Wir haben gelernt, dass die Welt, die Weltwirtschaft, ein fein eingestelltes Uhrwerk war, das sehr schnell, effizient und günstig Menschen, Dienstleistungen, Waren und Wissen quer über den Planeten verteilen konnte. Aber robust war dieses System nicht. Wohlgemerkt, Corona ist zwar viel heftiger als eine Grippe, aber eine Pandemie in der Grössenordnung der Pest ist sie ebensowenig.

Wir haben gelernt, dass Gesundheit nicht nur Privatsache ist. Ja, Gesundheit beruht über weite Strecken auf persönlichen Voraussetzungen, Entscheidungen und Schicksal, aber nicht nur. Klar, wenn ich einen Armbruch habe, gehe ich zum Doktor und der hilft mir. Seuchen hingegen sind anders. Seuchen sind nichts Persönliches, sie betreffen alle, ob krank oder nicht. Darum bekämpft man Seuchen als Gesellschaft, als Team, nicht als Individuum oder gar Egoist. Klingt hart, ist aber so.

Kompromisse statt grosser Entscheide

Lassen Sie mich zum Schluss noch ein Schweizer Geheimrezept ansprechen. Ein Rezept, das dafür sorgt, dass wir ein stabiles Land sind und somit auch hilft, Krisen wie diese zu meistern. Wir haben nie die Einheit gesucht, wir haben nie einen König oder ein Staatsoberhaupt ernannt. Wir verstehen die Schweiz als Willensnation, als ein Team von Kantonen. Kantone, die auf ihre Eigenheiten stolz sind, diese aber beiseite lassen, wenn es nötig ist. Wir haben auch nicht einen Chef, wir haben ein ganzes Team, den Bundesrat. Ein Team, das zudem bewusst nicht als Einheit aufgestellt ist, sondern als Sammelbecken der wichtigsten Strömungen im Land. Andere Länder suchen grosse Entscheide und glorifizieren diese für die Ewigkeit. Wir suchen Kompromisse, die wir, kaum gefunden, wieder hinterfragen und ständig weiterentwickeln. Die Schweiz wurde damals vor 700 Jahren von unseren Vorfahren nicht für die Ewigkeit gebaut, sondern sie wird von uns seit damals und ich hoffe noch für mehr als eine halbe Ewigkeit weitergebaut. Bestehendes wird hinterfragt, Bewährtes behalten, Veraltetes verworfen und Neues gewagt. 

Bevor ich Ihnen noch einen schönen Abend wünsche, möchte ich nochmals ganz kurz auf den Ise-Jingū-Schrein zurückkommen, auf einen Aspekt, der für mich perfekt ins Bild passt. Die ganze Tempelanlage liegt in einem hügeligen nahezu vollständig bewaldeten Gebiet. Dem Wald, der das Holz für den Tempelbau liefert.

In dem Sinne bedanke ich mich für das Gastrecht und ihre Aufmerksamkeit und wünsche Ihnen allen einen schönen 1. August. 

Danke!»

Kommentar WeiachBlog

Wir danken Ihnen, Herr Nationalrat! Das ist ein schön abgerundeter Denkanstoss, passend zum Nationalfeiertag. Einer, der einem auch im Gedächtnis bleibt, u.a. dank der Tempel-Metapher.

Denn es ist schon so wie der freischaffende Programmierer mit ETH-Doktortitel aus Opfikon sagt: ein Staatswesen, das nicht wie ein lebendiger Organismus funktioniert, das zerfällt unweigerlich. Am von ihm gewählten Beispiel kann man das gut zeigen. 

Japanische Kultur und Identität haben uralte Wurzeln und werden sorgfältig gepflegt. Eine solche Basis überlebt auch gravierende Kurskorrekturen wie sie nach dem verlorenen Zweiten Weltkrieg unausweichlich wurden. 

Der Ise-Jingū-Schrein dient dabei als eine Art Selbstvergewisserung. Weil er alle 20 Jahre neu gebaut werden muss, hat jede einzelne Generation einmal in ihrem Leben die Aufgabe, ihn – programmiertechnisch gesprochen – sozusagen in die nächste Iteration zu bringen. 

Das bedingt, dass alte Bautechniken von Generation zu Generation weitergegeben werden müssen und auch können, denn der Auftrag ist ja sichergestellt. Nicht umsonst gehörte eine Tempelbau-Dynastie zu den ältesten Unternehmen der Welt, vgl. die über 1400-jährige Geschichte von Kongō Gumi.

Das Bauunternehmen könnte aber nichts ausrichten ohne das Baumaterial. Mäders Hinweis darauf, dass der genannte Schrein nicht nur mitten in einem hügeligen Waldgebiet steht, sondern jeweils auch mittels Holz aus ebendiesem Wald erneuert wird (und nicht mit Holz von weiss Gott woher), schlägt die Brücke zu unserem Gemeinwesen, der Gemeinde Weiach. 

Deren Kraft und Tradition beruht nämlich zu einem guten Teil auf dem im Gemeineigentum stehenden Wald, wie man u.a. der Ortsbeschreibung von 1850/51 entnehmen kann. Wenn es diesem Wald gut ging, dann ging es auch den Weiacherinnen und Weiachern gut und vice versa. 

Metaphorisch formuliert: Ärger gibt es immer dann, wenn man vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sieht. Denn ohne Wald kein Tempel. Und ohne Tempel kein Staatswesen.

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